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Peking drangsaliert Universitäten

Die chinesische Regierung unter Xi Jinping fährt seit der gewonnenen Wahl vor zwei Jahren einen antiwestlichen Kurs. Dagegen wehren sich zwar noch etliche Universitäten, doch sind viele Akademiker verunsichert. Das Klima ist angespannt, und mancherorts kursieren sogar schon schwarze Listen.

Noch ist es nur ein Stein. Doch Zhu Shanlu ist zuversichtlich. „Schon bald wird das neue Gebäude den Glanz ausstrahlen, den auch das Rote Haus einst hatte“, kündigt der Parteisekretär und damit der ranghöchste Chef der renommierten Peking Universität bei der Grundsteinlegung Anfang Juni an. Beim Roten Haus handelte es sich um den Lesesaal der alten Peking Universität, der im Zuge des Umzugs der gesamten Hochschule 1952 aus dem Zentrum in den Nordwesten der Stadt abgerissen wurde. Um ihn ranken sich Legenden. Noch heute wird erzählt, Revolutionär Mao Zedong persönlich habe sich zum Studium von Marx-Schriften ins Rote Haus gesetzt.

Institut soll Marxismus wieder populär machen

Nun will die Hochschulleitung im Südteil des Uni-Geländes für rund 15 Millionen Euro ein neues Institutsgebäude errichten, das nicht nur baulich an das legendäre Rote Haus erinnern, sondern auch an den Mao-Mythos anknüpfen soll. Das neue Institut erhält den Auftrag, das gesamte Lebenswerk von Karl Marx zu erforschen und zu einer „großen chinesischen Lehre“ zusammenzutragen – „vergleichbar mit dem Buddhismus, dem Taoismus und dem Konfuzianismus, den bisherigen Eckpfeilern des chinesischen Denkens“, lautet wörtlich der Auftrag. Anders ausgedrückt: Das neue Institut soll den Marxismus wieder populär machen.

Warnung vor westlichen Werten

Der Neubau steht für den allgemeinen Trend in China zur Rückbesinnung auf die Lehren von Marx. Sie wird von ganz oben vorgegeben. Anfang des Jahres forderte der chinesische Bildungsminister Yuan Guiren sämtliche Universitäten im Land auf, sich wieder stärker auf den Sozialismus und die Lehren von Marx zu besinnen. Der Bildungsminister warnte vor Büchern und Werken, die „falsche, westliche Werte“ propagieren und forderte Lehrer an den Schulen und Hochschuldozenten auf, Seminare und Klassenräume „frei zu halten von Äußerungen, die die Herrschaft der Kommunistischen Partei (KP) infrage stellen, den Sozialismus verschmähen oder sich gegen die bestehenden Gesetze wenden“. Stattdessen sollen die Bildungseinrichtungen „die Werte von Staatspräsident Xi Jinping“ vermitteln. Was genau damit gemeint war, ließ das Ministerium zunächst offen.

Die Anweisung richtet sich nicht nur an Universitäten, sondern scheint Teil einer Ideologisierung zu sein, die immer weitere gesellschaftliche Bereiche einschließt. Im vergangenen Herbst forderte der Staatschef in einer Rede auch von Parteifunktionären, Künstlern und Journalisten eine ideologisch „porentiefe Reinigung“. Sieben Bereiche haben die Behörden inzwischen skizziert, über die in China in der Öffentlichkeit nicht mehr frei geredet werden soll. Dazu zählen die Unabhängigkeit der Justiz, die Zivilgesellschaft und der Reichtum der Regierungsbeamten. Haben diese Punkte mit „Verwestlichung“ zu tun?

Verlust kluger Köpfe in Chinas Wissenschaft

Offiziell begründet die chinesische Führung ihre Maßnahmen mit einem zunehmenden Verlust chinesischer und sozialistischer Werte. Insbesondere der Einfluss US-amerikanischer Denkfabriken und Forschungseinrichtungen habe in den vergangenen Jahren in China massiv zugenommen.

Diese Furcht treibt den chinesischen Staats- und Parteichef Xi seit Beginn seiner Amtszeit im März 2013 um. Nur wenige Monate später stellte er die Frage, wie standfest die 87 Millionen KP-Mitglieder eigentlich seien, wenn es wirklich darauf ankomme. „Werden sie die Parteiführung und das sozialistische System verteidigen, wenn sich vor unseren Augen eine farbige Revolution abspielt?“, soll er vor Parteisekretären gefragt haben. Seit seinem Amtsantritt lässt Xi keinen Tag verstreichen, ohne seine Macht auszuweiten – und zwar auf allen Ebenen. In den ersten Monaten seiner Regentschaft ließ er sämtliche wichtige Posten in der Parteizentrale auf sich zuschneiden. Mit einer umfassenden Anti-Korruptions-Kampagne beseitigte er nicht nur Zehntausende korrupter Beamten und Parteisekretäre, sondern auch die meisten seiner innerparteilichen Widersacher.

Er pflegt einen Kult um seine Person, wie es ihn eigentlich nach dem Tod von Mao Zedong vor fast 40 Jahren in China nie mehr geben sollte. Dazu nutzt er auch Maos einstige Instrumentarien und versucht, an die sozialistische Lehre anzuknüpfen.
Dabei galt diese Phase in China als längst überwunden. Nach Maos blutiger Kulturrevolution ab der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre, die das ganze Land fast ein Jahrzehnt lang in ein tiefes Chaos gestürzt hatte, zielte Maos Nachfolger Deng mit seiner Öffnungspolitik genau auf das Gegenteil: ein „Lernen von fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern“. Deng liberalisierte die Wirtschaft und das Bildungssystem und förderte den internationalen Austausch und die Zusammenarbeit mit westlichen Partnerländern.

Universitäten reagieren widerwillig

Eben aufgrund der schrecklichen Erfahrungen in den Jahren der Kulturrevolution reagieren viele Professoren und Universitätsleitungen nun äußerst widerwillig auf die neuen Anweisungen. So verschickte das Bildungsministerium im Frühjahr einen Fragebogen mit 13 Fragen an sämtliche Hochschulen des Landes. Darin sollten die Hochschulchefs angeben, welche ausländischen Lehrbücher im Unterricht benutzt und wie diese erworben wurden. Viele Universitäten verweigerten die Teilnahme.

Auch viele Unibuchhandlungen folgten den Anweisungen nicht. Bis heute bieten sie Bücher an, die sich mit „westlichen“ Theorien und Philosophen beschäftigen. In der Buchhandlung am Westeingang der Peking Universität etwa sind nach wie vor sowohl das Standardwerk „Soziologie“ von Anthony Giddens erhältlich als auch „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“ von N. Gregory Mankiw und Mark P. Taylor. Der britische Soziologe Giddens hatte Ende der Neunzigerjahre den sogenannten „Dritten Weg“ propagiert, eine Modernisierung der europäischen Sozialdemokratie. Giddens‘ Ansatz wurde auch in den chinesischen Sozialwissenschaften als eine mögliche Entwicklung für China debattiert.

Marx-Kurse im Internet

Einige besonders prestigeträchtige Universitäten vor allem in der Hauptstadt Peking preschen allerdings auch vor, so etwa die einst für ihren kritischen Geist bekannte Peking Universität: „Chinesische Hochschulen sind Universitäten mit sozialistischen Qualitäten. Deshalb sollten sich natürlich alle Universitäten an eine sozialistische Erziehung halten“, schreibt die KP-treue Uni-Leitung in einer Erklärung, die an alle Professoren, wissenschaftlichen Hilfskräfte und Studierenden der Uni gerichtet ist. Die benachbarte und ebenfalls renommierte Tsinghua-Universität rühmt sich seit einigen Monaten spezieller Marx-Kurse im Internet. Über 1000 Tsinghua-Studierende sollen Uni-Angaben zufolge diesen Kurs absolviert haben, außerhalb der Uni seien es sogar über 100 000. Auch an der Tsinghua gilt: China soll wieder marxistischer werden.

China sei eines der Länder mit den höchsten Einkommens- und Vermögensunterschieden, rechtfertigt KP-Mitglied Wang Yiwei die neuen Vorgaben. Er ist Dekan am Institut für Internationale Studien an der Pekinger Volksuniversität und bekennender Marxist und versteht die Aufregung um die Kampagne nicht: Es sei doch nur richtig, dass sein Land wieder stärker für soziale Gerechtigkeit einstehe. Das müsse doch im Sinne der ganzen Welt sein.

Sollte es der amtierenden Führung bei der Retrotour auf den Sozialismus tatsächlich um mehr soziale Gerechtigkeit in der Volksrepublik gehen, misst die derzeitige Führung allerdings nach zweierlei Maß. Recherchen der New York Times zufolge verfügen selbst Familienangehörige von Xi Jinping über gigantische Vermögen im Ausland. Dieses Vermögen bleibt bislang aber unangetastet. Und in seiner eigenen Familie scheint das chinesische Staatsoberhaupt mit Verwestlichung weniger Probleme zu haben: Seine Tochter studiert in Harvard.

Druck auf Professoren

Akademiker hingegen, die nicht so wie Wang argumentieren, werden massiv unter Druck gesetzt. Dr. Xia Yeliang, ein ehemaliger Wirtschaftsprofessor der Universität Peking, war bereits letztes Jahr entlassen worden, weil er demokratische Reformen unterstützt haben soll. Zwei weitere Dozenten in Peking sind disziplinarisch bestraft worden, weil sie über so „sensible“ Themen wie den Arabischen Frühling oder Regierungsgrundsätze gesprochen hätten.

In sozialen Netzwerken im Internet berichten Studierende von der Umsetzung dieser Kampagne an Universitäten in anderen Städten. Studenten in der Stadt Xi‘an mussten ihre Bücher abgeben. Prof. Dr. Willy Lam, Politikwissenschaftler an der China Universität in Hongkong, weiß von Unis, an denen die Parteisekretäre Schwarze Listen erstellt haben mit Akademikern, „die westlichem Denken besonders zugetan“ seien.

Kapital als Pflichtlektüre

Keine Frage: Die Propagandaabteilung der Kommunistischen Führung insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften hatte bei brisanten politischen Themen auch vorher schon häufig die Deutung vorgegeben. Und Marx-Kurse gab es an chinesischen Universitäten all die Jahre auch. Sie wurden jedoch vorwiegend von Studenten und Lehrkräften genutzt, die Mitglied der Kommunistischen Partei waren oder eine Karriere in der chinesischen Führung anstrebten. „In den Natur- und Ingenieurwissenschaften herrschte weitgehende Forschungsfreiheit“, sagt Zhang Rong, Professor an der Technischen Universität Peking. „Wir wurden geradezu aufgefordert, von den USA und Europa zu lernen.“

Seit einigen Monaten würden allerdings selbst Physik¬ und Medizinprofessoren dazu verdonnert, das Kapital zu lesen, beklagt sich Rong. Und der geschasste Ökonom Xia, der nun Gaststipendiat am US-amerikanischen Cato¬Institut in Washington D.C. ist, vermutet, die Beobachtung von Wissenschaftlern sei ein Schachzug der Regierung, um den öffentlichen Diskurs in China im Zaum zu halten. „Durch die Art, wie sie es macht, versucht sie, die chinesischen Akademiker zu terrorisieren“, sagt Xia. Was ihm besonders große Sorgen bereitet: Wer auch nur Verbindungen ins Ausland pflege, dem könne bereits der Vorwurf gemacht werden, er sei antichinesisch. „Das ist haargenau die gleiche Praxis wie zu Zeiten der Kulturrevolution“, sagt Xia.

Insbesondere die Wissenschaftler der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften (CASS) könnten diesem Vorwurf leicht ausgesetzt werden. Dabei durften sie lange Zeit frei forschen und öffentlich ihre Einschätzung kundtun. Der chinesischen Führung war es durchaus wichtig, dass zumindest in einem bestimmten Rahmen gesellschaftliche und politische Zusammenhänge aus unabhängiger Sicht beurteilt werden. Aufgabe der CASS war es daher explizit, die Zusammenarbeit und den Austausch mit ausländischen Stiftungen und Denkfabriken zu suchen.

Forscher sagen Auslandsreisen ab

Nun steht allerdings diese Zusammenarbeit unter Beschuss der Ideologiewächter. Die Volkszeitung (Renmin Ribao), das Parteiorgan der KP-Führung, und andere Staatsmedien werfen den Wissenschaftlern der Forschungseinrichtung vor, sie seien von ausländischen Mächten, insbesondere den USA, unterwandert. Die Folge: CASS-Forscher sagen ihre Auslandsreisen ab. Die Zusammenarbeit der Akademie mit politischen Stiftungen unter anderem aus Deutschland ruht weitgehend. Viele Wissenschaftler wagen auch nicht mehr mit ausländischen Journalisten und Experten zu reden. „Die Unsicherheit ist groß“, berichtet ein deutscher Akademiker, der viele Jahre lang eng mit der CASS zusammengearbeitet hat.

Noch trauen sich aber auch namhafte chinesische Wissenschaftler, Kritik zu äußern. Prof. Dr. Shen Kui, ehemaliger Dekan der Juristischen Fakultät an der Peking-Universität, griff in einem Blog vor ein paar Wochen Bildungsminister Yuan direkt an und wies darauf hin, dass die Idee des Kommunismus selbst ein westlicher Gedanke sei. „Der Marxismus, auf den sich unsere derzeitige Verfassung beruft und den wir bewahren müssen, die Gedanken des Internationalismus, des dialektischen Materialismus (…) – sie sind alle im Westen entstanden und haben China beeinflusst.“

Andere sprechen von einer gefährlichen Rückwärtsentwicklung für den Wissenschaftsbetrieb. Chinas Unis leiden ohnehin bereits unter dem „Verlust kluger Köpfe“, klagt ein Professor der Pekinger Tsinghua Universität, der aus Angst vor Repression namentlich nicht genannt werden möchte. Schon jetzt würden viele China verlassen und lieber für US-amerikanische oder europäische Forschungseinrichtungen arbeiten. Wenn ideologische Betonköpfe wieder die Oberhand gewinnen, werde es eine Abstimmung mit den Füßen geben, befürchtet er: „Unsere klugen und kreativen Köpfe sind dann weg.“

Chronik der Verschärfung

Chronik der Verschärfung

März 2013: Xi Jinping wird Chinas Staatspräsident. Kurz nach Amtsantritt geht er gegen kritische Intellektuelle vor.

Sommer 2014: Staatsmedien werfen der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften vor, von ausländischen Mächten unterwandert zu sein.

Herbst 2014: Staatspräsident Xi empfiehlt einer Künstlergruppe, nicht mit „vulgären“ Werken nach Popularität zu streben, sondern den Sozialismus zu preisen.

Januar 2015: Bildungsminister Yuan Guiren fordert das Verbot von Unterrichtsbüchern, die westliche Werte propagieren.

März 2015: Das Bildungsministerium will von den Hochschulen wissen, welche ausländischen Lehrbücher sie im Unterricht nutzen.

Chinas Hochschulen in Zahlen

Chinas Hochschulen in Zahlen

Forschungsausgaben: Chinas Regierung investierte im Jahr 2013 21,6 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung an den Hochschulen.

Hochschulen: China hatte im Jahr 2014 mehr als 2500 staatliche und staatlich anerkannte Hochschulen. Deren Anzahl hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Etwa 450 davon sind private Hochschulen.

Hochschulpersonal: Mehr als 2,25 Millionen Hochschullehrer und wissenschaftliche Mitarbeiter arbeiteten im Jahr 2013 an den chinesischen Hochschulen. Davon sind rund 140 000 ordentliche Professoren.

Studierende: 31,46 Millionen Studierende waren 2013 an den Hochschulen eingeschrieben. Der Frauenanteil liegt bei 50 Prozent, der Anteil ausländischer Studierender bei 1,04 Prozent.

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