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Experten entwerfen Leitbild für Berater

Welchen Beitrag kann die deutsche Wissenschaft zur Lösung der großen gesellschaftlichen Aufgaben wie Energieversorgung, Klimawandel, globale Ernährung wirklich leisten? Der Wissenschaftsrat bemüht sich jetzt um ein Leitbild für die Politikberatung – und begibt sich damit auf ein vermintes Feld.

Wenn im antiken Griechenland die Politik nicht mehr weiter wusste, dann rief sie das Orakel von Delphi an. Heute greift die Politik zur Legitimation ihres Handelns gern zur Auftragsforschung, zu teuren Studien, interessengeleiteten Expertisen und auch zu Meinungsumfragen. Ebenso beliebt sind Anhörungen, wo ausgewählte wissenschaftliche Gutachter der einen Seite den ausgewählten wissenschaftlichen Gutachtern der anderen Seite Paroli bieten sollen.

Der Beratermarkt, ein Haifischbecken

An Anbietern für wissenschaftliche Politikberatung herrscht kein Mangel: Da gibt es die Nationalakademie Leopoldina, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech), die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission Forschung und Innovation (efi), den Deutschen Ethikrat und nicht zuletzt mehrere wissenschaftliche Akademien in den Bundesländern mit zum Teil jahrhundertealter Tradition. Und auch etliche Unternehmens¬ und Privatstiftungen wollen bei der Politikberatung mit ihren Denkanstößen und unzähligen Auftragsstudien mitreden – mit wissenschaftlichem Anspruch, bei der Themensetzung zwar nicht immer ganz frei von Eigeninteresse, dafür aber medial umso präsenter: Bertelsmann, Robert Bosch, Mercator, Telekom, Vodafone – um nur einige große und einflussreiche Mitspieler zu nennen.

Es menschelt in der Wissenschaft

Wer das jahrzehntelange Tauziehen um die Kür einer Deutschen Nationalakademie in der föderalen Bundesrepublik kennt, weiß, dass dieser wissenschaftliche Beratermarkt nicht frei von Eifersüchteleien, Egoismen, Fallstricken, Anspruchsdenken und Festhaltenwollen am Status quo ist. Auch Wissenschaftler sind schließlich Menschen, Politiker ebenso. Als der damalige Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Gerhard Neuweiler, 1994 die Frage der Prospektion aufwarf – also das Aufspüren bislang unbekannter Zukunftsfelder in der Forschung –, kostete ihn das den Job. Neuweilers provokante, aber nachvollziehbare These: Die heutigen Empfänger von Forschungssubventionen sind nicht frei von Eigeninteresse, um unabhängig und objektiv darüber zu entscheiden, in welche anderen Wissenschaftsdisziplinen künftig die Milliarden fließen sollen. Denn der staatliche Geldkuchen für die Forschung wächst nun bekanntlich nicht unbegrenzt.

Ein Thema, das Karrieren stoppt

Die erboste Allianz der Wissenschaftsorganisationen sah in Neuweilers Prospektionsüberlegungen für eine völlig neue Form von Politikberatung und Steuerung der Zukunftsthemen in der Forschung einen Angriff auf das etablierte System der Selbstverwaltung in der deutschen Wissenschaft. Gemeinsam verhinderten die Organisationen schließlich Neuweilers sicher geglaubte Wiederwahl an die Spitze des Wissenschaftsrates.

Dabei gibt es immer wieder genug Beispiele auch für Schwächen dieses Systems. So hatten in den 80er Jahren in Deutschland Universitäten, Mathematisch-Naturwissenschaftlicher Fakultätentag wie auch die Wissenschaftsminister der Bundesländer gemeinsam den weltweiten Aufstieg der neuen Wissensdisziplin Informatik schlicht verschlafen – bis sie vom damaligen Bundesbildungsminister Jürgen Möllemann mit einer 400-Millionen-Gabe des Bundes wachgeküsst wurden. Das erste Hochschulsonderprogramm des Bundes (HSPI) war geboren. Und auch die Anstöße, deutlich mehr Forschungsgelder in die Nanotechnologie zu investieren, kamen nicht aus der Wissenschaft selbst – sondern aus dem Bundeswirtschaftsministerium.

Die aktuellen Überlegungen im Wissenschaftsrat zu einem Leitbild für Politikberatung zielen allerdings weniger auf Klein-klein, sondern auf die ganz großen gesellschaftlichen Herausforderungen: Umbau der Energierversorgung, demografischer Wandel, knapper werdende Ressourcen, Erderwärmung und Sicherung der globalen Ernährung für bald zehn Milliarden Menschen. Der Wissenschaftsrat strebt mit seinen Empfehlungen einen Rahmen für eine geordnete, plurale Politikberatung an – auch um dem bisherigen interessengeleiteten Gutachterwildwuchs etwas entgegenzusetzen. „Mit gutem Grund erwarten Bürgerinnen und Bürger, dass die Wissenschaft zur Bewältigung solcher Herausforderungen beiträgt“, heißt es in dem Positionspapier, das dem Wissenschaftsrat Ende Januar bei seiner Sitzung in Berlin erneut vorliegt. Dazu werden an die Akteure in der Wissenschaft hehre Ansprüche formuliert: Sie sollen disziplinübergreifende Kooperation und Pluralität gewährleisten, ebenso die Interaktion von Wissenschaft mit Nicht-Wissenschaftlern sowie anderen Teilen der Gesellschaft (zum Beispiel Bürgergruppen)  unterstützen.

Ziel ist dabei eine breitere Akzeptanz in der Bevölkerung für Problemlösungen auf wissenschaftlicher Basis. Dazu soll die Wissenschaft Mechanismen für die Koordination von Akteuren mit unterschiedlichsten Interessen bereitstellen – um zukunftsfähiges Handeln zu ermöglichen. Laut dem Entwurf soll die Wissenschaft dafür sorgen, dass Ziele, Leitbilder und Verständnisse von Herausforderungen regelmäßig überprüft werden. Bei offenen Fragen soll sie Alternativen eröffnen. Und letztlich soll Wissenschaft offen sein auch für die Revision von Prozessen und Strukturen, sollten sich bislang eingeschlagene Wege als nicht gangbar erweisen.

Neue Nummer im Spiel: die Zivilgesellschaft

Angestrebt wird zudem die Schaffung von Experimentierräumen für disziplin-übergreifende Forschungsprogramme, bei denen neben Unternehmen auch Organisationen und andere zivilgesellschaftliche Akteure einbezogen werden könnten. Im Blick haben die Autoren dabei auch Anreizsysteme, die Kooperation über Disziplingrenzen hinweg belohnen sollen. „Transformative Wissenschaft“ soll bereits im Studium angelegt werden, ebenso bei der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Allerdings: Konkrete Beispiele dazu enthält der jüngste Entwurf aus dem Wissenschaftsrat nicht mehr, so wenig wie Empfehlungen, wer diese geforderte disziplinübergreifende Kooperation gewährleisten und wer den Dialog mit Bürgergruppen steuern soll. In einem frühen Stadium der Debatte war angedacht, dass einzelne Organisationen, wie die Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren und die Wissenschaftsgemeinschaft Leibniz, dabei eine Vorreiterrolle übernehmen könnten.

„Für die Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen stellt (…) der Aufbau einer zentralen, umfassenden Koordinations- und Kontrollstruktur keine geeignete Lösung dar“, heißt es nunmehr im jüngsten Entwurf. Mehrfach ist in dem Papier von dezentralen Lösungen die Rede. Die Erwartung, es könne bei dieser Diskussion eine zentrale, koordinierte Strategie – insgesamt oder auch nur in der Forschungsförderung – geben, wird als „unrealistisch“ bezeichnet. Der alte Streit um das Entstehen einer Deutschen Nationalakademie und die Angst vor einer Oberrichterfunktion bei unterschiedlichen Positionen in der Wissenschaft lässt grüßen.

Interessant ist dazu auch die Vorgeschichte des Papiers. Ursprünglich motiviert durch den Regierungsentschluss zur Energiewende, hatte der Wissenschaftsrat im Juli 2012 eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die mit finanzieller Unterstützung der Mercator Stiftung und unter Einbeziehung externer Experten im April vergangenen Jahres ein gut 130 Seiten starkes Papier vorlegte – unter Vorsitz des damaligen Wissenschaftsratsvorsitzenden Professor Dr. Wolfgang Marquardt. Bei einer ersten Lesung im Wissenschaftsrat gab es Bedenken. Die neue Vorlage wurde mittlerweile auf gut 30 Seiten eingedampft.

Es ist im Wesentlichen Marquardts Verdienst, dass das neue Leitbild den Gedanken der Interdisziplinarität in der deutschen Wissenschaft weiter voranbringen kann – wenn denn die Akteure in Universitäten, Instituten, Forschungsorganisationen und auch in den Akademien guten Willens sind und Fachegoismen und versäultes Denken in den Wissenschaftsstrukturen weiter abbauen.
Seinen Job kann Marquardt das Papier nicht mehr kosten. Seine Amtszeit als Wissenschaftsratsvorsitzender ist bereits abgelaufen. Seit vergangenen Sommer führt er das Forschungszentrum Jülich.

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