Lizenz zur Verschwendung
Die Debatte um Nachhaltigkeit erreicht die Wissenschaft. Wie schonend gehen Hochschulen mit knappen Mitteln um? Forschende sehen sich zunehmend im Dilemma: Sie ringen um Freiheit – und werden doch immer stärker zu Kapazitätsmanagern.
Das Ambiente war nobel, die Herren gaben sich feierlich, das kühle Juniwetter konnte der gehobenen Stimmung nichts anhaben. Schließlich galt es, an diesem Donnerstag im Juni 1913 ein neues Mitglied aufzunehmen: In der Preußischen Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt in Berlin stand die Wahl Albert Einsteins in die Akademie an, und wie damals üblich, hatten vier Mitglieder einen entsprechenden Wahlvorschlag unterbreitet. Einer der vier war Max Planck, und der beschrieb Einstein zwar als überaus fähigen Forscher, notierte aber zugleich: „Daß er in seinen Spekulationen auch einmal über das Ziel hinausgeschossen haben mag, wie z. B. in seiner Hypothese der Lichtquanten, wird man ihm nicht allzuschwer anrechnen dürfen; denn ohne einmal ein Risiko zu wagen, läßt sich auch in der exakten Naturwissenschaft keine wirkliche Neuerung einführen.“
Die milde und halb scherzhafte Kollegenschelte – mit der Planck inhaltlich natürlich falsch lag – illustriert ein Dilemma, vor dem Wissenschaftler seit jeher stehen: Zweckfreies Erkenntnisinteresse kollidiert mit dem Wunsch der Geldgeber nach konkreten nutzbaren Ergebnissen. „Man kann das als kontinuierlichen Balanceakt zwischen Verschwendung und Effizienz deuten“, sagt der emeritierte Biologe Prof. Dr. Josef H. Reichholf, bis 2010 Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung München. „Forschung sucht immer mehr als nur die Bestätigung dessen, was man schon weiß. Wir brauchen also den Mut zur Verschwendung und zur Sackgasse.“ Oft seien es solche Sackgassen, in denen Zweifel wachsen und Neues gedacht werde.
Die Kanalisierung des Zufalls
Mit anderen Worten: Umwege und Ineffizienz sind treibende Kräfte wissenschaftlicher Arbeit. Um sie zu nutzen, brauchen Forschende Phantasie, sagt Privatdozent Dr. Heinrich Parthey von der Gesellschaft für Wissenschaftsforschung, betont aber: „Die Phantasie von Forschern muss Kriterien der Wissenschaftlichkeit genügen, wenn wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt erreicht werden soll.“ Eine schwierige Herausforderung. Schließlich bedeutet Phantasie immer auch Ma߬ und Zügellosigkeit, sie überspringt Grenzen und Beschränkungen – und sollte doch gleichzeitig „auf Grund weiterer und tieferer Erfahrungen diszipliniert“ worden sein, wie es der deutsch-lettische Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieb. „Es geht dabei nicht um hemmungslose Verschwendung, sondern um die Kanalisierung des Zufalls“, sagt auch Reichholf. Dies sei jedoch „ein Grundproblem wissenschaftlichen Erkennens“, so Heinrich Parthey: Bürokratisierung, Machtstrukturen und Routine seien die größten Hemmnisse für die wissenschaftliche Phantasie.
Rechnungshof, was ist das?
Was hier durchscheint, ist ein Wissenschaftsideal, das zugespitzt vielleicht mit der Lizenz zur Verschwendung bezeichnet werden kann: Denken, Forschen und Versuchen ohne Kapazitätsbeschränkungen und vor allem ohne Rechtfertigungsdruck gegen¬über Controllern und Mittelverwaltern. Wissenschaft kann demnach – streng wissenschaftstheoretisch betrachtet – auch niemals ein Fall für den Rechnungshof sein. Und tatsächlich werden Wissenschaftseinrichtungen zwar gelegentlich in entsprechenden Berichten erwähnt, in aller Regel aber im Zusammenhang mit Managementfehlern – wie etwa im aktuellen „Schwarzbuch 2014“, herausgegeben vom Bund der Steuerzahler. Dort wird kritisiert, dass beispielsweise die Universität Flensburg Baumängel am Dach des Uni-Gebäudes zu spät erkannt und saniert habe – bis Orkan Christian das marode Dach im Oktober 2013 hinwegfegte und ein Schaden von 2,5 Millionen Euro entstand.
„Zusammen mit zwei vorangegangenen Teilsanierungen wurden für die verpfuschte Dacheindeckung mehr als 2,8 Millionen Euro verschleudert“, bemängeln die Prüfer. Aber: Es sind eben ausdrücklich keine Wissenschaftsfehler, die hier angeprangert werden – wie denn auch? Doch wer forscht, kennt auch die andere Seite: die Erwartung, dass Wissenschaft möglichst plan- und kalkulierbar ist, dass Erfolgsstrategien identifiziert und möglichst verlässlich umgesetzt werden.
Paradigma in der Missbrauchsfalle
Immer wieder wird dafür das Leitbild unternehmerischen Denkens herangezogen, das Schlagwort von der „unternehmerischen Hochschule“ wird dafür in der Debatte kontinuierlich bemüht. Er habe sich über die falsche Verwendung dieses Begriffs seit einiger Zeit immer wieder geärgert, sagt Prof. Dr. Detlef Müller-Böling, früherer Chef des Centrums für Hochschulentwicklung, „nicht nur die Gegner der Hochschulreformen der letzten Jahre diffamieren die neue Hochschule als wirtschaftshörig und dem Kapital ergeben“. Das aber, so Müller-Böling, habe der amerikanische Pädagoge und Wissenschaftssoziologe Burton R. Clark nicht im Sinn gehabt, als er in den 1990er¬Jahren von der „entrepreneurial university” sprach. „Unternehmerisch“, das stehe bei Clark „für eine wandlungsfähige, den gesellschaftlichen Herausforderungen aktiv begegnende Universität“, so Müller-Böling. Für Wissenschaftler, die Neues suchen und gleichzeitig ihr Umfeld nicht aus den Augen verlieren. Aktuell würde man das wahrscheinlich als „nachhaltig“ bezeichnen.
Falsch verstanden und benutzt
Doch es sind nicht nur Gegner der Hochschulreformen, die den Begriff nutzen – und umdeuten. Für David Willets, den im Sommer zurückgetretenen konservativen britischen Staatsminister für Hochschulen und Wissenschaft, war und ist der Umbau der Universitätsfinanzierung noch lange nicht ausgereizt. Willets kann sich Drittmittel sogar für den Alltagsbetrieb der Hochschulen vorstellen, also auch für die Lehre: „Es gibt doch einen klaren Trend bei der Hochschulfinanzierung: weg vom Staat, hin zum Einzelnen und zu den Unternehmen“, sagt der britische Politiker. „Über Studiengebühren als Beitrag haben wir schon sehr viel diskutiert, aber über die Rolle der Unternehmen nur sehr wenig. Wir müssen darüber reden, welches Ausbildungsniveau die Arbeitgeber von den Universitätsabsolventen erwarten – und wie sie zur Finanzierung beitragen.“ Auch damit kommt Effizienz ins Spiel – und eine Interpretation von universitärer Nachhaltigkeit, die vor allem von ökonomischen Interessen und dem Blick auf den Arbeitsmarkt geprägt ist.
„Das verbessert die Chancen unserer Leute“
Dass Universitäten sich, mit derart radikal eingeschränkter staatlicher Grundfinanzierung, zum fast hundertprozentigen Dienstleister der Unternehmen machen, ist ein Konzept, das unter deutschen Wissenschaftlern noch für massives Befremden sorgt. Sie fordern eine ausreichende Grundfinanzierung – für Lehre und Forschung gleichermaßen. Und müssen doch auch zugestehen, gibt der Bochumer Rektor Prof. Dr. Elmar Weiler zu bedenken, „dass die Expertise der Hochschulen im grundlagenwissenschaftlichen Bereich immer zur Anwendung gebracht werden soll“. Das gelte für Forschungsinhalte genauso wie für die Vermittlung von Qualifikationen, so Weiler: „Damit ermöglichen wir es vielen Studierenden, auch Doktoranden und Doktorandinnen, sich im Bereich von anwendungsorientierter Forschung an konkreten Projekten zu schulen. Und das verbessert auch die Chancen unserer Leute auf dem Arbeitsmarkt.“
Forschung im Korsett
Anders gesagt: Forscher müssen immer auch die Nützlichkeit des von ihnen generierten Wissens in der Vermittlung an den akademischen Nachwuchs mitdenken – ein weiterer Balanceakt im Alltag der Wissenschaften und ein weiterer Aspekt nachhaltiger Forschung. Gleichzeitig aber auch einer, der das System aushöhlt und freies Forschen massiv untergräbt, findet Wolfgang Lieb, früherer SPD-Staatssekretär im NRW-Wissenschaftsministerium und mittlerweile als Publizist der „Nachdenkseiten“ aktiv. Wenn heutzutage Uni-Vertreter über Hochschulen sprächen, gehe es normalerweise nicht mehr um Erkenntnis, Wahrheitssuche oder die Freiheit der Wissenschaft. „Wie aus einem Redenschreib-Generator, bis zum Überdruss, tauchen immer wieder folgende Stichworte auf: Wettbewerb, Autonomie, Exzellenz, Internationalität, effektives Management, Wirtschaftlichkeit, zusätzliche Finanzierungsquellen angesichts knapper öffentlicher Kassen“, ätzt Lieb, und auch der Begriff „Marketing“ dürfe „selbstverständlich nicht fehlen“.
Punktuelle Freiheit
Es gibt jedoch auch andere Beispiele. Beispiele, die zeigen, dass Forschung nachhaltig und trotzdem mit größtmöglicher Freiheit organisiert werden kann – vorausgesetzt, die Kapazitäten stehen zur Verfügung. An der Technischen Universität Dresden ist das durch die Fördermittel der Exzellenzinitiative der Fall: Seit Mai gibt es dort Lehrstühle, die als „Open-Topic-Professuren“ ausgeschrieben sind. Wer hier berufen wird, muss sich nicht mehr in ein enges fachliches Korsett zwängen, sondern kann ganz im Rahmen seiner wissenschaftlichen Interessen vorhandene formale Grenzen ignorieren.
„Eine forschungsfördernde Verwaltung“
„Der größte Unterschied zu einer normalen Professur ist die Vielfalt der Fachrichtungen in meinem Team“, sagt Prof. Dr. Lars Koch. Der Professor für Medienwissenschaft und neuere deutsche Literatur war der erste Open-Topic-Lehrstuhlinhaber. „Früher hätte ich ganz selbstverständlich nur Germanisten als Mitarbeiter gehabt – hier reicht das Spektrum von Sprach- über Kulturwissenschaftlern bis hin zu soziologisch und historisch arbeitenden Kollegen“, sagt er. Koch forscht zur Medialisierung von Gefahr, „und da arbeite ich natürlich mit Leuten aus meinem Fachbereich zusammen, aber auch mit Wissenschaftlern aus ganz anderen Disziplinen – bis hin zu den Ingenieuren, die ja hier in Dresden sehr gut vertreten sind“. Hinzu komme „eine extrem forschungsfördernde Verwaltung. Das kenne ich aus anderen Unis längst nicht in dieser Form“, sagt Koch. Das ganze Konzept sei deshalb eine Win-Win-Situation, von der Universität und Studierende genauso profitierten wie er selbst. Lars Koch: „Klar ist aber auch, dass das nur mit den zusätzlichen Exzellenz-Mitteln möglich ist.“
Scheint so, als gebe es also durchaus eine Formel für nachhaltiges Forschen, auch wenn sie auf den ersten Blick etwas widersprüchlich klingt: Erst die Lizenz für Verschwendung legt die Grundlagen für nachhaltige, effiziente Wissenschaft – die Evaluation der Exzellenzinitiative könnte die These stärken.
Tagungstipp
Tagungstipp
Das Thema: Geht die Wissenschaft also alles in allem schonend mit ihren materiellen, aber auch personellen Ressourcen um? Ist sie langfristig organisiert? Berücksichtigt sie die Interessen künftiger Generationen? Und schließlich: Ist eine Wissenschaft, die in diesem Sinn nachhaltig wäre, überhaupt wünschenswert? Das sind die Fragen, die bei der diesjährigen Jahrestagung des Berliner Instituts für Forschungsinformation und Qualitätssicherung diskutiert werden.
Der Termin: Die Tagung findet am 1. und 2. Dezember in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften statt.
Internet: www.forschungsinfo.de
DUZ Magazin 12/2014 vom 21.11.2014