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Plädoyer für eine Bürgeruniversität

Wie die Gesellschaft, so differenziert sich auch das Wissenschaftssystem weiter aus. Der Blick auf das Ganze geht verloren. Er aber ist entscheidend, sagt der ehemalige Präsident der Universität Oldenburg und sieht die Universität gefordert. Eine Philippika gegen die Selbstbezüglichkeit der akademischen Elite.

Der Wissenschaftsrat hat in diesen Tagen seine Empfehlungen zu den „Perspektiven des deutschen Wissenschaftssystems“ vorgelegt. Ausdifferenzierung spielt dabei eine wichtige Rolle. Diese Differenzierung ist längst in vollem Gange. Die Hochschulrektorenkonferenz zerfällt immer mehr in eine Sammlung von Subgruppen, die großen Wissenschaftsgemeinschaften bringen sich mit jeweils individuellen Profilen in die anstehenden Verteilungskämpfe für die Wissenschaftsetats ein.

Was hier im Wissenschaftssystem passiert, hat seine Parallelen in der gesellschaftlichen Entwicklung: Immer höhere Spezialisierung von Wirtschaft, Politik und Medien führt zu deren vermeintlich höherer Produktivität, lässt sie aber in ihrer Eigenlogik erstarren. Wirtschaftskrisen, Politikverdrossenheit und Medienverarmung sind die Folge. Die gesellschaftliche Systemtheorie suggeriert uns, es könne nicht anders sein. Aufgeklärte Gesellschaftsentwürfe setzen dem die Vision einer „Bürgergesellschaft“ (Ulrich Beck u.a.) entgegen: Reintegration der Gesellschaft durch verstärktes bürgerschaftliches Engagement.

Gerade die Universität könnte der zentrale Ort einer solchen Bürgergesellschaft sein. Sie könnte Gesellschaft, Wissenschaft und Politik in neuer Weise aufeinander beziehen. Sie könnte die Reflexive in einer sich zunehmend fragmentierenden und orientierungslos werdenden Gesellschaft sein. Doch von solchen Visionen ist wenig zu spüren in der aktuellen hochschulpolitischen Debatte. Es dominieren das Schachern um Anteile des Kuchens von Exzellenz- und Studierenden-Aufwuchsmitteln und das Ringen um möglichst hohe Anerkennung in den wissenschaftsinternen Reputationssystemen.

Die Unzufriedenheit mit den Hochschulen nimmt daher zu: von engagierten Studierenden, die keine Antworten auf die Fragen bekommen, die sie in die Hochschule geführt haben; von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die den Eindruck haben, Wissenschaft kümmere sich nur um selbst gesteckte Fragen und um die mit Drittmitteln ausgestatteten Themen der Wirtschaft. Und selbst die Politik wird unruhig – erste Landesregierungen wie die in Baden-Württemberg oder in Nordrhein-Westfalen verordnen nach einer langen Phase der Autonomievergrößerung dem Wissenschaftssystem eine stärkere Ausrichtung an den großen gesellschaftlichen Fragen. Genau hier setzt die Vision einer Bürgeruniversität an:

  • Sie begeistert Studierende und ihr Umfeld, weil sie Forschungsfragen aufgreift, die gesellschaftlich bewegen. Studierende motiviert sie, Fragestellungen, ihre Verknüpfungen und die Methoden zu ihrer Bearbeitung zu verstehen. Egal, ob es um alternative ökonomische Modelle, die Verbreitung dezentraler Energien oder Antworten auf den demografischen Wandel oder die zunehmende Diversität in Städten und Regionen geht.
  • Die Bürgeruniversität mobilisiert zur Beantwortung nicht nur die Wissensbestände ihrer vielfältigen Disziplinen, sondern bezieht auch betroffene Akteure und deren Wissen mit ein. Damit wird sie zur öffentlichen Wissensplattform und rückt in die Mitte der Gesellschaft. Ein wichtiger Schlüssel dafür sind Reallabore, das heißt Veränderungsräume, die von Hochschulen aktiv begleitet werden.
  • Forschendes Lernen wird in der Bürgeruniversität zur Realität. Sie verwirklicht eine Kultur des Wissensaustausches auf Augenhöhe. Das disziplinäre Expertenwissen von Wissenschaftlern begegnet den Wissensbeständen und Fragen von Studierenden und der Gesellschaft auf einer Ebene. Dies zeigt sich insbesondere in Forschungsprojekten im interkulturellen Bereich.
  • All dies hilft der Bürgeruniversität, sich aus der Selbstbezüglichkeit einer disziplinären Logik zu befreien und eine Identität als gesamte Universität zu entwickeln, um damit auch zum Identifikationsort für ihr gesellschaftliches Umfeld zu werden.

Die gerade skizzierten Kernbausteine einer Bürgeruniversität sind seit vielen Jahren ausgearbeitet in den Programmen einer transdisziplinären Wissenschaft, der Idee einer „Modus 2“-Wissenschaft, wie es die Schweizer Wissenschaftstheoretikerin Helga Nowotny nennt. Das globale Future-Earth-Forschungsprogramm spricht von Co-Design und Co-Production von Wissen im Forschungsprozess. Die Europäische Union definiert im Rahmen ihres Programmes Horizon 2020 die großen gesellschaftlichen Herausforderungen als Ausgangspunkt künftiger Forschung. Der wissenschaftliche Beirat für Globale Umweltveränderungen (WBGU) hat den Begriff einer transformativen Wissenschaft geprägt, das heißt einer Wissenschaft, die gesellschaftliche Veränderungsprozesse aktiv begleitet. Und all das ist kein Abgesang auf die Qualitätskriterien exzellenter disziplinärer Wissenschaft. Es bettet diese vielmehr in gesellschaftliche Herausforderungen ein und erweitert den Umfang der praktizierten Wissensintegration.

Dennoch gibt es diese Formen der Wissenschaft im Wissenschaftssystem bisher nur als zarte Pflänzchen; von inspirierenden Formen des sogenannten Service-Learning über eine Reihe beispielgebender transdisziplinärer Projekte bis hin zu einigen wenigen Universitäten, die den Mut haben, ihre Fakultätsstrukturen neu zu überdenken (wie etwa die Leuphana Universität in Lüneburg) oder Ausbildungsgänge konsequent problemorientiert durchzudeklinieren, wie es bei der Medizinerausbildung in der Wittener Didaktik der Fall ist.
Ein konsequent umgesetztes Programm einer Bürgeruniversität fehlt bisher. Es ist ein voraussetzungsvolles Programm:

  • Es braucht engagierte Lehrende und Forscher, die sich auf von außen gestellte Forschungsfragen einlassen und die Mühen der Verständigung und Kooperation mit zum Teil weit entfernten Disziplinen und Praktikern nicht scheuen.
  • Es braucht offene Studierende, die eigene Fragen haben und die Antworten auf diese Fragen selbstbewusst von ihrer Universität einfordern.
  • Es braucht den Mut, Fakultäts- und Universitätsstrukturen neu zu denken.
  • Es braucht ein offenes Umfeld, das über die klassischen Wirtschaftskontakte von Hochschulen hinausgeht. Ein Umfeld, das Vertrauen in die Orientierungs- und Lösungskompetenz seiner Hochschule hat und diese einfordert.
  • Es braucht innovative öffentliche und private Förderinstitutionen und -formate, die eine solche Form der Forschung mit all ihrem Aufwand unterstützt.
  • Es braucht eine gute Nachwuchsqualifizierung und Qualitätssicherung, um den Anspruch einer Bürgeruniversität auf hohem Niveau und nachhaltig einzulösen.

Eine Reihe ausgewählter Forschungsinstitute setzt ein solches Programm heute in der Forschung um. Vollständig eingelöst werden kann der Anspruch an die Wissenschaft aber letztlich nur in und von Universitäten: Denn eine bürgerorientierte Wissenschaft ist mehr als die Summe einzelner Forschungsprojekte. Sie ist eine Haltung, mit der Wissenschaft der Gesellschaft gegenübertritt. Sie muss sich niederschlagen in der Ausbildung von Studierenden und in der wissenschaftlichen Nachwuchsqualifizierung. Und dies kann nur die Universität leisten.

Insofern lohnt es sich, den Weg einzuschlagen: Denn die Idee einer Bürgeruniversität würde die Universität wirklich in den Mittelpunkt der Gesellschaft rücken – zum Vorteil von Wissenschaft und Gesellschaft.

Prof. Dr. Peter Finke

Prof. Dr. Peter Finkes Antwort auf den Beitrag von Prof. Dr. Uwe Schneidewind ist in gekürzter Fassung erschienen im duz MAGAZIN 01/2014 am 20. Dezember 2013, Seite 28. Seine 'Philippika gegen die Philippika' ist in ungekürzter Fassung online zu lesen: "Der inkonsequente Reformer"

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