
Vergiftete Debatte
Migration war eines der Themen, die im Wahlkampf auf der Agenda ganz oben standen und zu hitzigen, oft diffamierenden Aussagen führten. Die Migrationsforscherin Felicitas Hillmann bietet Antworten auf das Warum und dazu, was dies über den Zustand unserer Gesellschaft aussagt
In der politischen und medialen Debatte wurde in den zurückliegenden Monaten so hitzig über Migration diskutiert wie seit Langem nicht. Täuscht der Eindruck, dass es seitens der Migrationsforschung seltsam still ist?
Nein, der Eindruck täuscht nicht. Zurzeit sind fast ausschließlich Juristen und politische Experten, die stark auf die Steuerung von Migration setzen, in den Medien präsent. Aus anderen Disziplinen, der Soziologie und den Politik- oder Erziehungswissenschaften etwa oder auch aus der Geografie oder der Ethnologie, hört man weniger.
Warum ist das so?
Gründe dafür gibt es eine ganze Reihe: Erstens ist Migration ein komplexes und vielschichtiges Thema, einfache Antworten und Lösungen gibt es so gut wie nie. Das erschwert, sich in den politischen und medialen Debatten Gehör zu verschaffen. Zweitens muss man leider konstatieren, dass auch die Migrationsforschung sich in Silos unterteilt und nicht in einem ständigen, gar systematischen Austausch steht. Hinzu kommt: Viele Forschende scheuen vor öffentlichen Äußerungen zurück und distanzieren sich bewusst von der Politik. Dabei braucht es mehr Kommunikation zwischen Wissenschaft und Politik.
Wie erleben Sie als langjährige Migrationsforscherin die derzeitige Debatte um ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz & Co.?
Ich war schockiert über die Wucht, mit der die Debatte vor den Bundestagswahlen erneut aufflammte. Begriffe wie „Massenzustrombegrenzung“ suggerieren einen Kontrollverlust, der nicht der Realität entspricht. Die vergiftete Debatte wirft uns zurück und schadet international – dabei schien Deutschland endlich auf dem Weg zu einem „bekennenden“ und gestaltenden, nicht nur faktischen Einwanderungsland. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das in den zurückliegenden Jahren stark vorangetrieben wurde, war viel Arbeit – und ein Schritt in die richtige Richtung: sich international in einen Diskurs von fairer Migration einzubringen.
Ein zentrales Argument in der derzeitigen Debatte lautet, die Willkommenskultur müsse ein Ende haben, vor allem als Signal in die Herkunftsländer, aus denen viele Menschen als Asylbewerber kommen …
Menschen fliehen, weil sie müssen, nicht weil es hier so wunderbar ist. Zwar ist richtig, dass dort teils – auch von Schleppern geprägte – Illusionen über Deutschland kursieren, die falsch sind, die das Blaue vom Himmel versprechen. Dennoch ist die Unterscheidung in „gewünschte“ und „unerwünschte“ Migration problematisch. Sie missachtet die Menschenwürde und verhindert langfristig tragfähige Lösungen in der Zuwanderungspolitik. Migrationspolitik ist ein Spagat zwischen höchst unterschiedlichen Interessen und voller Widersprüchlichkeiten.
Sie haben die Willkommenskultur wissenschaftlich erforscht. Was ist das?
In unserer Studie sprechen wir von der postulierten Willkommenskultur, also den Wünschen und Erwartungen, die formuliert werden – eine normative Seite. Dann gibt es die praktizierte Willkommenskultur, also die Arbeit der Menschen im Feld, die konkret mit Zugewanderten arbeiten und Entscheidungen treffen müssen, oft auf Grundlage unklarer Regulierungen. Drittens gibt es noch die kaum erforschte perzipierte Willkommenskultur, also: Wie erleben Zugewanderte diese? Im Grunde meinen wir mit dem Begriff ein Ineinandergreifen verschiedener Prozesse und Beteiligter in diesen drei Dimensionen. Leider bemerkt man vorhandene Willkommenskultur oft nicht – oder erst dann, wenn es zu spät ist, wenn sie fehlt und sich Feindseligkeit breitmacht.
Sie haben vor allem Berlin in den Blick genommen. Was sind zentrale Ergebnisse?
Berlin hat, generell gesprochen, eine sehr vielfältige und gut vernetzte Willkommensinfrastruktur. Eine wichtige Rolle spielen dabei die vielen migrantischen Organisationen. Es gibt viel Erfahrung im Umgang mit Zuwanderern, und es herrscht überwiegend eine liberale Stimmung, die viele Menschen ermutigt, herzukommen. Vor allem gibt es eine Vielfalt unterschiedlicher Migrationsformen, das ist immer leichter, als wenn nur ein Typus von Migration vor Ort vertreten ist. Dennoch hakt es in Berlin wie bundesweit an manchem.
Was sind die größten Baustellen?
Eine große bleibt der Zugang zu Arbeit – auch wenn viele Projekte darauf abzielen, Migrantinnen und Migranten in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wir haben in Deutschland ein gut ausgebautes, kapillares System aus Unterstützungs- und Hilfsorganisationen, das europaweit einzigartig ist. Doch diese Akteure sind oft nur kurzfristig finanziert, was übrigens auch ein Problem für die ist, die in diesem Feld arbeiten. Es gibt also wenig Institutionalisierung, dafür eine Art „Projektitis“, die es sehr schwer macht, langfristig zu agieren. In eine ähnliche Richtung geht ein anderes Problem: Deutschland hat keine kohärente Migrationsstrategie. Andere Länder haben Migrationsministerien. Ob das die beste Lösung ist, bin ich nicht sicher, aber bei uns sind allein auf Bundesebene mindestens sechs Ministerien mit dem Thema befasst – und sie tauschen sich nur teilweise untereinander aus. Dazu kommen die Kompetenzen der Länder und der Kommunen, die immer wieder neu austariert werden. Damit teils zusammenhängend werden Zuwandernde oft in Gruppen sortiert. Dabei braucht es eine Strategie, die nicht nur auf Fachkräftesicherung oder internationale Studierende abzielt und zu diesen Gruppen Migrationsabkommen schließt, sondern den Blick auf das große Ganze lenkt.
Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz sollte viele der beschriebenen Probleme lösen. Unter anderem sieht es einen sogenannten „Spurwechsel“ vor, der Menschen, die als Asylsuchende gekommen sind, unter Umständen ermöglicht, als Arbeitskräfte im Land zu bleiben.
Das Gesetz war und ist ein wichtiger Schritt, um die Zuwanderung von Fachkräften zu erleichtern. Es wurde übrigens in der Öffentlichkeit viel weniger beachtet als das aktuell geplante Zuwanderungsbegrenzungsgesetz. Dabei hat es das Potenzial, sich nachhaltig positiv auf den deutschen Arbeitsmarkt auszuwirken, denn es schafft auch über den Spurwechsel hinaus eine Reihe legaler Zuwanderungswege, an denen es in Deutschland wie in Europa mangelte. Zuwanderung trotz Arbeitslosigkeit ist für jeden Sozialstaat ein schwieriges Thema. Doch werden wir mit dem Ausscheiden der Boomer aus dem Arbeitsmarkt schon sehr bald alle Arbeitskraftressourcen, auch aus dem Ausland, nutzen müssen. Wir stehen da in einem internationalen Wettbewerb und können mit unseren Stärken – sozialer Frieden, gute Arbeits- und Lebensbedingungen, hoher Lebensstandard und Meinungsfreiheit – punkten.
Welchen Beitrag können Hochschulen zu einer Willkommenskultur leisten?
Es ist wichtig, die Ansprache der internationalen Studierenden weiter zu verbessern – vor dem Studium, während ihres Studiums, und darüber hinaus. Bisher gehen zu viele internationale Studierende nach ihrem Abschluss wieder weg. Ich halte das aber nicht für unvermeidlich. Wenn man attraktive Angebote macht und die Studierenden sich wohlfühlen, bleiben sie auch. In Cottbus hat im zurückliegenden Jahr ein Willkommenszentrum eröffnet, das auch die Aufgabe hat, internationale Studierende zum Bleiben zu bewegen. Eine andere Zielgruppe dort sind übrigens potenzielle Rückkehrer aus den westlichen Bundesländern. Wichtig sind auch Alumninetzwerke und Kontaktbörsen an Hochschulen und eine stärkere Zusammenarbeit der Hochschulen mit der Wirtschaft, beispielsweise durch Praktika während des Studiums. Auch hier gilt allerdings wieder: Unabdingbar sind rechtliche Rahmenbedingungen, die den Verbleib ermöglichen.
Ist es nicht auch eine Aufgabe von Hochschulen, über den akademischen Raum hinaus zu wirken?
Doch – übrigens auch, weil Hochschulen auch Arbeitgeber von nicht akademischem Personal sind. Die Universität Cottbus ist da ein gutes Beispiel, dort hat man im Rahmen der 2024 gegründeten Medizinischen Universität Lausitz – Carl Thiem zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) Pflegekräfte aus Vietnam angeworben. Die GIZ hat zusammen mit der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung der Bundesagentur für Arbeit das Programm Triple Win auf den Weg gebracht, das berufliche Mobilität so organisiert, dass alle Beteiligten etwas davon haben – die Migrantinnen und Migranten, die Herkunfts- und die Zielländer. Zu dem Programm gehört unter anderem eine gute Onboarding-Strategie, in diesem Fall in der neuen Cottbusser Universitätsklinik. Das ist ein echtes Leuchtturmprojekt.
Mit der sogenannten Third Mission, dem Hineinwirken in Gesellschaft, Kommunen und Städte, tun sich Hochschulen jedoch oft schwer.
Ich sehe durchaus gute Ansätze. Generell bringen Hochschulen junge, innovative Menschen zusammen, die etwas bewegen wollen. Damit haben sie große Chancen, in eine Gesellschaft hineinzuwirken. Allerdings ist das Problem oft nicht so sehr der urbane, sondern der ländliche Raum. Auch dort werden Hochschulen idealerweise wirksam, auch wenn dies natürlich komplizierter ist. So ist zum Beispiel unabdingbar, die Angst vor Abstieg in alten Industrieregionen wahrzunehmen und zu adressieren – nehmen Sie nur die Lausitz als ehemalige Kohleregion bei Cottbus, die mitten in einer Transformation steckt. Dort warten die Herausforderungen, und dort braucht es mehr als studentisches oder auch forschendes Engagement. Zugleich wissen wir aus einer Studie, die wir vor einigen Jahren zu Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern in Brandenburg durchgeführt haben: Solange sie aktive Demokratinnen und Demokraten haben und eine Zivilgesellschaft, können sie in von Rechtspopulismus geprägten Zeiten Regionen ein Stück weit vor dem Kippen bewahren. Gibt es diese nicht oder nicht mehr, wird es sehr schwer. Sie sehen: Eine gute Willkommenskultur nutzt allen: denen, die hier sind und denen, die sich noch einfinden möchten. //
Zur Studie
Die Studie zum Download: „‚Das ist, wenn die Menschen sich sicher fühlen‘ Fachkräftesicherung und Willkommenskultur in Berlin – mit Einblicken in die Branchen Pflege, Gastronomie und Logistik“
Zum Thema ist zudem ein Sonderheft der IzR – Informationen zur Raumentwicklung erschienen: „Wann kommst du (zurück)?“ Mit zwölf Beiträgen zur Willkommenskultur in Deutschland
Im Interview
Prof. Dr. Felicitas Hillmann
befasst sich seit Langem mit den Themen Migration und sozialräumliche Entwicklung. An der TU Berlin baute sie das Wissensfeld „Migration und Stadtentwicklung“ am Institut für Stadt- und Regionalplanung auf. Seit 2022 leitete sie ein internationales Vernetzungsprojekt im Kontext der Internationalen Metropoliskonferenz in Berlin. In ihrem laufenden Projekt „Paradigmenwechsel_Weiterdenken“ erschien jüngst eine Mikrostudie zum Thema „Fachkräftesicherung und Willkommenskultur in Berlin“.
Info: www.felicitashillmann.com
Foto: Dagmar Morath
DUZ Magazin 05/2025 vom 23.05.2025