Mama, steh mir bei
Ein Kind ist ein Projekt. Sein Studium wird von vielen Familien als Investment gesehen. Für sogenannte Helikopter-Eltern ist das ein Traumjob. Sie können weiter über ihren Lieblingen kreisen. Viele Erstsemester finden das Dauer-Coaching gut. Die Folgen für die Hochschulen: Eltern sind eine wichtige Zielgruppe.
Der Ansturm war so groß, dass die Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg für die Begrüßung ihrer Erstsemester kurzerhand die Osttribüne des Fußballstadions mietete. Wo sonst die Kicker des Bundesligisten SC Freiburg spielen, trat die Big Band der Uni auf und ein Kabarettist gab Launiges aus seiner eigenen Uni-Zeit zum Besten. Und all dies, um nicht nur den Studienanfängern etwas zu bieten, sondern auch deren Eltern, die Seite an Seite mit ihren Kindern auf der Stadiontribüne saßen.
„Die Eltern unserer Studierenden sind für uns eine feste Zielgruppe geworden“, sagt Rudolf-Werner Dreier, Leiter der Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit und Beziehungsmanagement. In Freiburg gibt es seit 1997 den Erstsemester-Familientag. Im Schlepptau ihrer Sprösslinge studieren die Eltern kritisch die Curricula und überschlagen schon mal, in welchem Semester ihre Kinder wie viele Credit Points erwerben müssen, um schnell durchs Studium zu kommen.
Mama und Papa als Karriere-Coach
Die Eltern als Zielgruppe – das scheint ein für die Hochschulen nicht ganz freiwilliges, gleichwohl gesellschaftlich zwangsläufiges Thema zu sein. Während viele Akademiker um die 40 zu ihren Studienzeiten nicht genug weltanschauliche und räumliche Distanz zwischen sich und ihre Eltern bringen konnten, studiert der Nachwuchs heute meistens mit Mama und Papa als Karriere-Coach. Diese fahren quer durch die Republik, um an Studienberatung oder Studienstart ihrer Kinder teilzunehmen. Rudolf-Werner Dreier sagt: „Diese Entwicklung war für einige unserer Mitarbeiter, die zum Teil schon seit vielen Jahren im Hochschulbereich tätig sind, anfangs gewöhnungsbedürftig. Es wurde durchaus darüber diskutiert. Doch es ist heute der Normalzustand. Viele Studierende wollen ihre Eltern dabei haben, weil deren Urteil ihnen wichtig ist.“
Eine Studie der Hochschul-Informations-System GmbH (HIS) von 2012 zeigt, dass sich über die Hälfte der befragten Studierenden von ihren Eltern während des Studiums stark unterstützt fühlt. Diese sind nach dem Freund oder der Freundin die wichtigsten Ansprechpartner. Sie werden darum von den Kindern meist ausdrücklich in die Phase des Studienanfangs einbezogen. Deshalb gehören Elternveranstaltungen mittlerweile zum Standard an deutschen Hochschulen. Sie heißen „Eltern¬alarm“ oder „Eltern auf dem Campus“. Und einige Universitäten haben, zeitlich parallel zur Studienberatung für Abiturienten, sogar eigene Elternsprechstunden eingerichtet.
Darunter ist auch die Spezies der extrem behütenden, sogar Grenzen überschreitenden Eltern. Fachbereiche berichten von Vätern, die sich bis ins Dekanat durchstellen lassen, weil ihr Kind Probleme mit einer Klausur hatte. Oder von Müttern, die das Passwort ihres Sohnes knacken, um Zugang zum Uni-Portal zu bekommen und zu sehen, welche Prüfungen der Filius längst hätte absolvieren müssen. Erziehungswissenschaftler und Psychologen sprechen von Helikopter-Eltern, die alles kontrollieren und am liebsten nichts im Leben ihrer Kinder dem Zufall überlassen wollen.
„Das Kind bekommt den Stellenwert eines Projektes.“
„In Zeiten befristeter Arbeitsverträge und unklarer Berufsaussichten fühlen sich die Eltern selbst verunsichert und versuchen zunehmend, alle Risiken auszuschalten, statt ihre Kinder einfach machen zu lassen und auch mal auf die Nase fallen zu lassen“, sagt Psychologe Peter Schott, der die zentrale Studienberatung der Universität Münster leitet. „Das Kind bekommt den Stellenwert eines Projektes.“ Dieses Phänomen treffe häufig auf sogenannte späte Eltern und Ein-Kind-Familien zu. Und von denen gibt es inzwischen viele. Der Freiburger Uni-Rektor Prof. Dr. Hans-Jochen Schiewer hat diese Gluckeneltern beim Erstsemester-Tag im vergangenen Herbst freundlich ermahnt: „Sogenannte Helikopter-Eltern, die als ‚Dauer-Coach’ über allen Lebensphasen des Nachwuchses kreisen und sich in alles einmischen, sollten spätestens mit dieser Veranstaltung lernen, loszulassen und ihre Kinder in die Eigenständigkeit zu entlassen.“
Den meist volljährigen Studenten können die Hochschulen jedoch nicht verbieten, ihre Eltern einzubeziehen. Hinzu kommt, dass etliche Eltern Alumni sind, die man ohnehin gerne an die Hochschule binden, zumindest aber nicht abschrecken möchte. „Veranstaltungen für die Zielgruppe Eltern gehören auch zur Marketing-Strategie einer Hochschule“, sagt Peter Wichmann, stellvertretender Pressesprecher der Universität Münster. Eltern seien wichtige Multiplikatoren, die positive Eindrücke von der Hochschule ihrer Kinder auch an Freunde und Familie weitergäben.
Also laden in Münster Universität, Fachhochschule, Stadtmarketing und die regionale Tageszeitung Westfälische Nachrichten als Medienpartner regelmäßig gemeinsam zum „Elternalarm“. Nach dem Motto „Holt sie euch lieber für ein Wochenende in der Stadt, bevor sie permanent bei euch auf der Matte stehen“ wird den Eltern ein volles Programm geboten: von der feierlichen Begrüßung durch die Hochschulleitung über eine Stadtführung bis hin zu Vorträgen der einzelnen Fakultäten und dem Mensa-Brunch am Sonntagvormittag. 1200 Eltern kamen beim letzten Mal im vergangenen November.
Die Söhne und Töchter sind meistens mitnichten von Mamas und Papas Präsenz genervt. In der aktuellen Shell-Jugendstudie (2010) geben rund 90 Prozent der Jugendlichen an, ein gutes bis sehr gutes Verhältnis zu ihren Eltern zu haben. Tatsächlich findet der Generationskonflikt heute kaum noch statt. Eltern werden von ihren Kindern als coole Kumpel wahrgenommen, unter deren Dach man gerne noch etwas länger wohnt. Sie mögen die gleiche Musik und kaufen ihre Klamotten in den gleichen Läden.
Die Studienberater der Hochschulen haben das Phänomen in ihrem Fachverband Gesellschaft für Information, Beratung und Therapie an Hochschulen e.V. (GIBeT) längst thematisiert. „Deshalb schließen wir die Eltern auch nicht von der Beratung aus“, erklärt Marco Bazalik, Studienberater bei der Zentralen Studienberatung Osnabrück und stellvertretender GIBeT-Vorsitzender. Die Eltern hätten meistens Fragen zum Bachelor-/Master-System und zu Karriereaussichten in den verschiedenen Fächern. Manchmal kämen in solchen Gesprächen allerdings auch grundsätzliche Probleme in der Familie zum Vorschein, „zum Beispiel wenn sich herausstellt, dass die alleinerziehende Mutter sich davor fürchtet, das Studium ihres Kindes nicht finanzieren zu können“. Der Studienberater nimmt dann die Rolle eines Mediators ein, der versucht, „für alle Seiten eine tragbare Lösung zu finden“.
Studium als Investment
Martin Scholz, ebenfalls im GIBeT-Vorstand sowie Leiter der Studienberatung der Uni Hildesheim, beobachtet, dass „viele Studieninteressierte das Studium als Investment betrachten und mit einer Renditeerwartung beginnen. Die Präsenz der Eltern in der Orientierungsphase verstärkt dies noch und übt somit ungeheuren Druck aus.“ Somit sei die Uni heute für viele Studierende nicht mehr Ort der Abnabelung vom Elternhaus, weil die Eltern ständig präsent seien. „Zugleich ist die Universität jedoch nach wie vor der Ort, an dem ein junger Mensch zum ersten Mal in seinem Leben eine autonome Bildungsentscheidung treffen kann. Meine Aufgabe ist es, die Studienbewerber darin zu bestärken und ihnen klar zu machen, dass sie damit ihr Leben selbst steuern können“, sagt Scholz. Doch was ist, wenn die Gluckeneltern das Gespräch dominant an sich reißen? „Dann braucht man Fingerspitzengefühl“, sagt Scholz. „Oft hilft es schon, wenn ich sage: Da es in diesem Gespräch darum geht, was sich Ihr Sohn/Ihre Tochter für die Zukunft vorstellt, möchte ich jetzt gerne seine/ihre Ansicht dazu hören.“ Dass man Eltern aus dem Raum schicken muss, passiere äußerst selten.
Generation Unselbstständig
Verschärft wird die Situation nach Meinung vieler Experten dadurch, dass eine sogenannte „Generation Unselbstständig“ in die Hörsäle drängt. Die auf zwölf Jahre verkürzte Schulzeit (G8) und der Wegfall von Wehr- und Zivildienst bringen Abiturienten hervor, die mit 16 oder 17 Jahren in der Studienberatung sitzen. Manchmal sind sie noch nicht volljährig beim Studienbeginn. Das ist weniger ein juristisches oder administratives Problem. Viele Unis und FHs lassen die Eltern eine Erklärung unterschreiben, um auch die Minderjährigen wie Volljährige behandeln zu können. Die Herausforderungen zeigen sich eher in der Lehre. „Viele Lehrer bestätigen, dass Schüler zwischen dem 18. und 19. Lebensjahr noch einmal einen erheblichen Entwicklungsschub erleben“, sagt der Bielefelder Bildungssoziologe Prof. Dr. Wolf-Dietrich Webler. „Auch die Erfahrungen im Wehr- und Zivildienst oder während eines Sozialen Jahres waren bislang wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung“, sagt Webler. Die Schüler hatten mehr Zeit, sich mit ihrer beruflichen Zukunft auseinanderzusetzen. Die verkürzte Schulzeit verstärke „Passivität und Unmündigkeit“.
„Viele Abiturienten fühlen sich nicht gut auf ein Studium vorbereitet.“
Problematisch sei auch, dass die Hochschullehrer immer heterogenere Studierendengruppen vor sich haben: Junge, unreife Abiturienten treffen auf 30-Jährige ohne Abitur, die bereits eine Berufsausbildung und mehr Lebenserfahrung gesammelt haben und genau wissen, was sie wollen. „Auf diese Situation sind die Hochschulen didaktisch nicht vorbereitet“, kritisiert Wolf-Dietrich Webler. Professoren beklagen, dass G8-Abiturienten erkennbar schlechter für die Lernanforderungen an der Uni gerüstet und oft nicht in der Lage seien, sich Wissen selbst zu erarbeiten. „Lehrer und Studierende haben mir bestätigt, dass heute in der Schule vieles aufs Auswendiglernen ausgerichtet ist“, sagt Prof. Dr. Uli Katz, Physiker an der Universität Erlangen und zuständig für die Erstsemesterveranstaltungen. „An der Universität dagegen geht es darum, wirklich zu verstehen, was man lernt.“ Deshalb gilt in Erlangen die Regelung, dass im Fachbereich Physik die Noten der ersten beiden Semester nicht in die Bachelor-Abschlussnote einfließen – um den Studierenden mehr Zeit für die Umstellung zu geben.
Wilfried Schumann, Leiter der Psychosozialen Beratungsstelle der Uni Oldenburg und des Studentenwerks Oldenburg, sagt: „Viele Abiturienten äußern in der Beratung selber, dass sie sich zu jung und nicht gut auf ein Studium vorbereitet fühlen.“ All jene Bildungspolitiker hätten sich verrechnet, denen Schul- und Hochschulabsolventen nicht jung genug sein können, denn „die jungen Leute holen sich diese Jahre zurück, indem sie nach der Schule erstmal ins Ausland gehen oder Praktika absolvieren“. Nicht verwunderlich also, dass verunsicherte Erstsemester lieber Mama oder Papa beim Dozenten anrufen lassen, um die verpatzte Klausur zu besprechen – so geschehen bei Prof. Dr. Frank Duzaar, Mathematiker und Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät Erlangen. „Glauben Sie mir: Wenn ich einen Elternsprechtag wie in der Schule anböte, würden etliche Eltern das Angebot nutzen.“
DUZ Magazin 05/2013 vom 26.04.2013