POLITIK & GESELLSCHAFT

FORSCHUNG & INNOVATION

STUDIUM & LEHRE

KOMMUNIKATION & TRANSPARENZ

ARBEIT & PSYCHOLOGIE

WISSENSCHAFT & MANAGEMENT

75 JAHRE DUZ

 Login

Weniger Straßenverkehr

Für den österreichischen Mobilitätsexperten Holger Heinfellner ist der Planungsansatz für die Verkehrswende, wie ihn Deutschland praktiziert, falsch. Er plädiert für ein Umdenken.

Herr Heinfellner, wie berechnen Sie als Mobilitätsforscher künftige Verkehre? Ich nehme an, es werden verschiedene Modelle verwendet, die dann mit Zahlen gefüttert werden?

Die historische Verkehrsmodellierung ist von der Annahme ausgegangen, dass der Motorisierungsgrad, also die Anzahl an Kraftfahrzeugen je 1000 Einwohner, auch in Zukunft weiter steigen wird. Als Modellergebnis hat sich so ein immer weiter wachsendes Verkehrsaufkommen ergeben. Diesem wurde in weiterer Folge mit der Errichtung neuer beziehungsweise dem Ausbau bestehender Straßen begegnet, um einem etwaigen Verkehrskollaps zuvorzukommen. Allerdings ist dieser Verkehrszuwachs zu einem großen Teil erst auf die Errichtung neuer Straßen zurückzuführen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Verkehrsmodelle entscheidende zukünftige Verkehrs- und Mobilitätstrends nicht in der notwendigen Qualität berücksichtigen. Dazu zählen ökonomische Entwicklungen, wie beispielsweise Effekte des zukünftigen Emissionshandels, ebenso wie soziale Entwicklungen, wie beispielsweise der Mangel an Lenkenden für schwere Nutzfahrzeuge sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr. Umgekehrt wissen wir heute, dass die prognostizierte Verkehrszunahme nicht auf einem unbeeinflussbaren Naturgesetz beruht. Das Wissen über den kausalen Zusammenhang zwischen Infrastrukturausbau und Verkehrsentwicklung kann daher auch genutzt werden, um die zukünftige Verkehrsentwicklung und Verkehrsmittelwahl so zu steuern, dass sie die Erreichung der Verkehrs-, Klima- oder Energieziele unterstützt. Das heißt, bei der Modellierung könnte das Verkehrsaufkommen sogar geringer ausfallen, wäre jedenfalls multimodal auf unterschiedliche Verkehrsträger und -mittel verteilt und damit klima- und sozialverträglicher.

Bei solchen Berechnungen gibt es bestimmt einige unbekannte Größen, die sich nur durch Wenn-dann-Annahmen eingrenzen lassen, oder?

Ein Modell versucht, die gegenwärtige oder zukünftige Realität möglichst genau abzubilden, dafür sind auch Annahmen zu treffen. Es ist einfacher, Annahmen darüber zu treffen, wie sich bestimmte Technologien entwickeln, etwa die Elektrifizierung von Fahrzeugen, als das zukünftige Mobilitätsverhalten der Menschen. Das liegt daran, dass das Mobilitätsverhalten von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst wird, die über die reine Verkehrsplanung hinausgehen. Hinzu kommt, dass disruptive Ereignisse wie die Covid-19-Pandemie oder die Energiekrise 2022 in keinem Modell berücksichtigt werden konnten. Insbesondere mit Blick in die Zukunft sind aber Wenn-dann-Beziehungen unerlässlich, um den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung abbilden zu können. Das betrifft auch die beiden Herangehensweisen bei der Verkehrsmodellierung: Wenn die Mobilitätskosten weiterhin von der Allgemeinheit getragen werden und bei der Infrastrukturentwicklung die Errichtung von Straßen bevorzugt wird, dann ist eine weitere Verkehrszunahme im motorisierten Individualverkehr auf der Straße zu erwarten. Wenn man hingegen die verursachten Kosten, beispielsweise Gesundheits- oder Umweltschäden, zukünftig verstärkt den Verursachern anlastet und gleichzeitig Alternativen (insbesondere im öffentlichen Verkehr) ausbaut und attraktiviert, dann ist eine Aktivitätsreduktion und eine Verkehrsverlagerung im Sinne der Mobilitätswende möglich.

Welche Rolle spielen dabei politische Vorgaben?

Politische Vorgaben spielen eine zentrale Rolle! Zum einen, weil die Politik zunächst Strategien oder Visionen für ein zukünftiges Verkehrssystem entwickelt, und zum anderen, weil die erforderlichen Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden müssen, zum Beispiel die Verteilung öffentlicher Budgetmittel oder steuerrechtliche Vorgaben. In Österreich wäre das beispielsweise der „Mobilitätsmasterplan 2030“, ein Strategiepapier, aus dem klar hervorgeht, dass die Erreichung der Klima- und Energieziele eine deutliche Reduktion des Verkehrsaufkommens auf der Straße erfordert. Zu den dafür geschaffenen Rahmenbedingungen zählen unter anderem steuerrechtliche Maßnahmen oder Anpassungen der Straßenverkehrsordnung. Dazu zählen auch ökonomische Maßnahmen, wie beispielsweise der Klimabonus, das Klimaticket für die Nutzung des öffentlichen Verkehrs oder die Planung von Budgetmitteln für die Errichtung eines mittelfristigen Zielnetzes der österreichischen Bundesbahnen. Dieser Rahmen und solche Maßnahmen bilden die Grundlage für das zukünftige Verkehrssystem. 

Ihrer Einschätzung nach hat die deutsche Politik falsche beziehungsweise überholte Grundlagen und Zahlen bei ihrem Bundesverkehrswegeplan verwendet. Wieso?

Der Bundesverkehrswegeplan (BVWP) 2030 ist das wichtigste Instrument der mittel- und langfristigen Planung auf Bundesebene zum Ausbau, Neubau, Erhalt und zur Erneuerung von Bundesfernstraßen, Schienenwegen und Wasserstraßen in Deutschland. Vorgesehen ist, dass dieser Plan in einem Intervall von fünf Jahren regelmäßig überprüft wird. Für diese Überprüfung wurden Verkehrsprognosen gemacht, welche die tatsächliche Entwicklung in den vergangenen Jahren deutlich überschätzt haben. Dazu kamen etwa unrealistische Prämissen für die Entwicklung von Lkw-Maut, Strompreis oder CO2-Preis. Im Straßenverkehr wurden zudem mehr Ausbaustufen geplanter Projekte berücksichtigt als im Schienenverkehr, was eine modellhaft höhere Verkehrsnachfrage auf der Straße gegenüber der Schiene zur Folge hat. Diese Beispiele zeigen, dass die hier durchgeführten Verkehrsprognosen mit Annahmen arbeiten, die aktuelle Zielsetzungen im Klima- und auch im Biodiversitätsbereich nicht aufgreifen, sondern dafür sogar kontraproduktiv sind. 

Was wäre aus Sicht der Mobilitätsforschung denn eine zielorientierte Verkehrsmodellierung?

Die bisher bekannten Verkehrsprognosen, die als Grundlage für die Bedarfsplanüberprüfung des Bundesverkehrswegeplanes dienen, unterstützen die bis dato vorherrschende „Predict and Provide“-Planung – also eine Bereitstellung von Angeboten für eine prognostizierte und als nicht beeinflussbar angesehene Verkehrsnachfrage. Sie wird genutzt, um den Bedarf an neuen Straßenbauprojekten zu begründen. Verkehrs-, klima- oder umweltpolitische Zielsetzungen bleiben dabei weitgehend unberücksichtigt. Weil die Verkehrspolitik aber weit in die Zukunft reichende Auswirkungen hat, wäre es sinnvoll, verschiedene Szenarien zu entwickeln, die den angestrebten Zielzustand in den Mittelpunkt stellen – das Erreichen von Klima- und Biodiversitätszielen. Diese Form der „Decide and Provide“-Planung ermöglicht den Entscheidungstragenden, die Entwicklung der Mobilität ausgehend von plausiblen Zukunftsszenarien aktiv zu gestalten, statt wie bisher auf Entwicklungen zu reagieren, die nicht zukunftsfähig sind. Der Vorteil von zielgerichteten Zukunftsszenarien ist außerdem, dass sie den Vergleich verschiedener Handlungsmöglichkeiten erlauben, um die Entscheidungsfindung abzusichern. 

Wie realistisch ist es denn überhaupt, dass durch den Ausbau des Schienenverkehrs der Verkehr von der Straße oder auch aus der Luft wegkommt?

In vielen Regionen gibt es aufgrund schlechter oder fehlender Angebote keine Alternative zum privaten Pkw. Daran sieht man schon, dass der Ausbau des Schienenverkehrs und des öffentlichen Verkehrs die Grundvoraussetzung für eine Verkehrsverlagerung ist. Mit dem Ausbau des Schienenverkehrs oder auch des öffentlichen Verkehrs wird dieser überhaupt erst konkurrenzfähig. Dieser Ausbau sollte auch aus volkswirtschaftlichen Gründen bei der Verteilung der Haushaltsbudgets für die Errichtung und den Erhalt von Verkehrsinfrastruktur priorisiert werden. Das Angebot allein reicht aber noch nicht aus, um die für ein klima- und umweltverträgliches Verkehrssystem erforderliche Verkehrsverlagerung zu erreichen. Ergänzend braucht es Begleitmaßnahmen, die den mobilen Individualverkehr verteuern und den öffentlichen Verkehr vergünstigen. Die mögliche Palette an Begleitmaßnahmen setzt vor allem bei der Kostenstruktur an: Der motorisierte Individualverkehr und der Flugverkehr verursachen hohe Klima-, Umwelt-, aber auch Gesundheitskosten, die von der Allgemeinheit getragen werden. Eine verursachergerechte Anlastung dieser Kosten würde das Kostengefüge zugunsten des Schienenverkehrs verschieben und diesen für viele Verkehrsteilnehmende deutlich attraktiver machen. Wird ergänzend dazu auf umfassende Bewusstseinsbildung gesetzt, um die zahlreichen Vorteile der Bahnnutzung zu kommunizieren, ergibt sich ein großes Verlagerungspotenzial und damit auch eine tatsächliche Änderung.

Wie müsste ein ideales und gut funktionierendes Mobilitätskonzept aussehen, das klimafreundlich ist und den Bedürfnissen einer mobilen Gesellschaft entspricht?

Ein sozial-, klima- und umweltverträgliches sowie energie-effizientes und damit wirtschaftsförderndes Mobilitätssystem der Zukunft basiert auf drei Säulen: Als Erstes gilt es, das Verkehrsaufkommen zu reduzieren. Das kann durch eine Erhöhung des durchschnittlichen Besetzungsgrades im Pkw oder eine Erhöhung der Beladung von Lastkraftwagen im Güterverkehr erfolgen, aber auch durch eine Intensivierung der virtuellen Mobilität (etwa verstärktes Homeoffice). Mittelfristig finden sich wirkungsvolle Stellschrauben im Bereich der Raumplanung und Flächenwidmung, wo beispielsweise durch Nutzungsdurchmischung potenziell viele Wege eingespart oder deutlich verkürzt werden können. Das Potenzial dieser Verkehrsvermeidung ist allerdings begrenzt. Für ein zukunftssicheres Mobilitätssystem gilt zweitens, dass der Verkehr auf besonders klima- und umweltverträgliche Verkehrsträger und Verkehrsmittel verlagert werden muss, die eine hohe Energieeffizienz aufweisen. Dazu zählen insbesondere der Bahnverkehr, der öffentliche Verkehr insgesamt, aber auch das Zufußgehen und Radfahren für kurze Strecken. Für jene Fahrten, die weder vermieden noch verlagert werden können und weiterhin auf der Straße stattfinden, gilt es im Rahmen der dritten Säule, möglichst emissionsfreie und energieeffiziente Antriebstechnologien einzusetzen. Insbesondere auf der Straße wird es in den allermeisten Fällen der Elektroantrieb sein, da sich durch die hohe Energieeffizienz mit derselben Menge an Primärenergie die höchste Verkehrsleistung erbringen lässt. Alle Verkehrsträger, also Straße, Schiene, Wasser und Luft, sowie alle Verkehrsmittel und -arten haben in einem zukünftigen Mobilitätssystem ihren Platz, müssen aber unter den Gesichtspunkten einer vollständigen Reduktion fossiler Treibhausgase und insbesondere einer Optimierung der Energieeffizienz in einem sozialverträglichen Gesamtmobilitätssystem bestmöglich kombiniert werden. //

Holger Heinfellner

arbeitet seit 2014 als Mobilitätsexperte am österreichischen Umweltbundesamt, wo er im Dezember 2019 die Leitung des Mobilitätsteams übernommen hat. Er beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten der Mobilitätswende und Dekarbonisierungsansätzen zur Erreichung der Klima- und Energieziele. Seit September 2017 ist er auch als Lektor der Vorlesung „Ökologische Aspekte der Mobilität“ an der FH Campus Wien tätig.

Foto: B. Gröger / Umweltbundesamt

Diese Cookie-Richtlinie wurde erstellt und aktualisiert von der Firma CookieFirst.com.

Login

Der Beitragsinhalt ist nur für Abonnenten zugänglich.
Bitte loggen Sie sich ein:
 

Logout

Möchten Sie sich abmelden?

Abo nicht ausreichend

Ihr Abonnement berechtigt Sie nur zum Aufrufen der folgenden Produkt-Inhalte: