POLITIK & GESELLSCHAFT

FORSCHUNG & INNOVATION

STUDIUM & LEHRE

KOMMUNIKATION & TRANSPARENZ

ARBEIT & PSYCHOLOGIE

WISSENSCHAFT & MANAGEMENT

75 JAHRE DUZ

 Login

Sehr viel Wertvoller als von vielen gedacht

Warum Physiker auch die Geisteswissenschaften beachten sollten – ein Plädoyer von Maria Rentetzi, die als Wissenschaftshistorikerin und Physikerin beide Welten kennt.

Im Jahr 1998 führte ein schwerer Unfall des Mars Climate Orbiter der NASA zu einem Verlust von 125 Millionen Dollar und der 638 Kilogramm schweren Roboter-Raumsonde – ein schwerer Schlag für den Ruf der NASA. Der Grund dafür war verblüffend einfach: Während das Navigationsteam am Jet Propulsion Laboratory (JPL) bei seinen Berechnungen das metrische System verwendete, lieferte Lockheed Martin Aeronautics – das Unternehmen, das die Raumsonde entworfen und gebaut hatte –, die entscheidenden Beschleunigungsdaten im englischen System mit Zoll, Fuß und Pfund. Die New York Times berichtete: „Der daraus resultierende Rechenfehler, der während der vielen Monate vom Entwurf über den Bau bis zum Start der Sonde unentdeckt blieb, führte dazu, dass der Mars Climate Orbiter bei der Annäherung an den Mars um etwa 60 Meilen vom Kurs abwich.“

Ein neues Denken hält Einzug

Dieses Ereignis veranlasste die amerikanischen Eliteuniversitäten und insbesondere die Fachbereiche Physik und Ingenieurwesen, ihre Lehrpläne neu zu gestalten. Denn den Universitäten war klar geworden, dass einige Grundkenntnisse in Wissenschaftsgeschichte für die Konstrukteure der Raumsonde nützlich gewesen wären. Zum Beispiel, dass in verschiedenen Regionen der Welt unterschiedliche Maßeinheiten genutzt werden. Die National Science Foundation (NSF) versuchte ebenfalls, die Ausbildung in den Ingenieur-und Naturwissenschaften neu zu gestalten. Das US Accreditation Board for Engineering and Technology (ABET) machte in seinen „Criteria 2000“ deutlich, dass die technische Ausbildung einer tiefgreifenden Reform bedürfe. Es war offensichtlich geworden, dass hochgradig interdisziplinäre Teams, die aus Ingenieuren und Forschenden aus sehr vielen unterschiedlichen Disziplinen zusammengesetzt sind, dringend mehr Teamarbeit, interdisziplinäres Wissen und interkulturelle Kommunikationsfähigkeiten benötigten. Die Geisteswissenschaften waren nun gefragt. So wurde Ende der 1990er-Jahre im Großraum Boston eine neue Ingenieurschule, das Olin College, gegründet, das ein einzigartiges Profil aufwies: Neben dem Schwerpunkt auf technischer Ausbildung wurden die Studenten auch in Kunst sowie Geistes- und Sozialwissenschaften ausgebildet. Mehr als ein Viertel der angebotenen Kurse stammte aus diesen Bereichen. „Eine Verpflichtung zur Förderung der Ausbildung von Studenten mit Programmen in den Kunst-, Geistes- und Sozialwissenschaften ist von entscheidender Bedeutung für die Entfaltung und das Potenzial ihres Lebens“, argumentierten die Gründerinnen und Gründer des Olin College in ihren Leitlinien. Was viele überraschte: Die ersten Absolventinnen und Absolventen des Olin College waren in der nationalen und internationalen Industrie sowie im akademischen System sehr gefragt.

Aktuelle Bestandsaufnahmen – im freien Fal

Heute steht die Hochschulbildung in einem Spannungsfeld zwischen starker Internationalisierung einerseits und dem Bemühen um strategische nationale Fortschritte in Naturwissenschaft und Technologie andererseits. In diesem allumfassenden Ringen um Innovation gelten die Geisteswissenschaften oft als irrelevant. Wie der Kolumnist Nathan Heller 2023 im New Yorker schrieb, befinden sich die Geisteswissenschaften daher offenbar im freien Fall. Kurz zuvor hatte Felix Schwarz in der Frankfurter Allgemeinen darauf hingewiesen, die Geisteswissenschaften seien in einer Krise und die Zahl der Studierenden, die sich für Fächer wie Geschichte, Literatur oder Kunst einschreiben, rückläufig. Das belegen auch Angaben der Bundesagentur für Arbeit aus dem Juni 2024, wonach die Zahl der Studierenden in den Geisteswissenschaften in den letzten zehn Jahren um 16 Prozent zurückgegangen ist. Obwohl die Gründe dafür nicht ganz klar sind, scheint es eine wichtige Rolle zu spielen, dass die Zahl der Arbeitsplätze für Absolventen der Geisteswissenschaften begrenzt ist. Darüber hinaus sind sie im Vergleich zu den Natur- und Ingenieurwissenschaften unterbezahlt und genießen ein weniger hohes Ansehen. Um dem entgegenzuwirken, forderte Peter-André Alt, Professor für Neuere Deutsche Literatur und damaliger Präsident der Hochschulrektorenkonferenz im selben Artikel der Frankfurter Allgemeinen: „Wir müssen in Talkshows, auf Podiumsdiskussionen, aber auch an den Schulen stärker auf die Relevanz unserer Fächer hinweisen.“

Keine zwangsläufigen Gegensätze

Aber in einer Welt, in der Naturwissenschaften und Technologie mächtiger sind als je zuvor, geht es in der Hochschulbildung nur noch um die direkte Berufsausbildung und Innovationsstreben. Geisteswissenschaften und ihre Konzentration auf die Kultivierung des Geistes werden bestenfalls als Luxusbeschäftigung für Menschen betrachtet, die über viel Freizeit verfügen oder an einer Universität des 19. Jahrhunderts festhalten, welche die Koexistenz von Physik und Philosophie unter demselben Dach pflegte. An der Universität des 21. Jahrhunderts scheinen solche Figuren jedenfalls keinen Platz mehr zu haben, die sowohl große Naturwissenschaftler als auch Intellektuelle sind und sich an den öffentlichen politischen und wirtschaftlichen Debatten ihrer Zeit beteiligen. So beschreibt der Wissenschaftsphilosoph John Norton etwa Albert Einstein als einen intellektuellen Rebellen, der die Physik 1905 von Grund auf veränderte. Derselbe Einstein bezog später dann ebenso öffentlich Stellung gegen den Ersten Weltkrieg. Aber denken wir an weniger symbolträchtige Physiker. Am 26. Januar 1925 erklärte Gustav Mie beispielsweise in seiner Antrittsvorlesung als Professor für Physik an der Universität Freiburg: „Es ist eine interessante Beobachtung, dass auch die streng an experimentelle Erfahrungen gebundene Physik auf Bahnen geführt wird, die zu den Bahnen der geistigen Bewegungen auf anderen Gebieten durchaus parallel verlaufen.“

Das Offensichtliche hinterfragen

Im Jahr 2021 habe ich einen Ruf auf eine Professur an einer der innovativsten Universitäten der Welt angenommen: der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). Dort habe ich den Lehrstuhl für Science, Technology and Gender Studies aufgebaut. Denn während meiner Laufbahn an Hochschulen auf der ganzen Welt war es meine Vision, Naturwissenschaftler und Ingenieure an Geisteswissenschaften heranzuführen. Ich möchte glauben, und da bin ich nicht die Einzige, dass die Geisteswissenschaften uns zeigen, wie man den Übergang von starren Lehrplänen und Lehrbuchproblemen in der Physik und in den Naturwissenschaften im Allgemeinen zum Unbekannten und zur Spitzenforschung schafft. Denn die Geisteswissenschaften tragen dazu bei, das Gegebene zu hinterfragen, Zweifel zuzulassen und so Raum für das Neue zu schaffen. Wie Thomas Kuhn, einer der bedeutendsten Wissenschaftsphilosophen des 20. Jahrhunderts, schon 1962 in seiner Arbeit „The Structure of Scientific Revolutions“ gezeigt hat, können wissenschaftliche Revolutionen nur dann stattfinden, wenn etablierte wissenschaftliche Gemeinschaften und Traditionen stark infrage gestellt werden. Als diplomierte Physikerin kann ich mit Sicherheit behaupten, dass Geistes- und Sozialwissenschaften Physiker und Physikerinnen nicht unbedingt zu „abgerundeten“ Menschen machen, die in der Lage sind, auf Dinnerpartys Smalltalk zu führen. Was sie den Forschenden aber beibringen: das Offensichtliche, das „Objektive“, die „Wahrheit“ infrage zu stellen; sie lehren das „Andere“, das Andersartige, das „Verschiedene“. Sie legitimieren Zweifel und Unsicherheit, Schlüsselelemente der Innovation. Und überraschenderweise wird durch die Geisteswissenschaften Wissen um altes, unpraktisches „Zeug“ wie die Tatsache, dass ein Teil der Welt in Zoll misst, während der Rest Meter verwendet, höchst relevant! //

Prof. Dr. Maria Rentetzi 

ist Physikerin und Historikerin und als Sonderbeauftragte für die Erhöhung der internationalen Sichtbarkeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) zuständig. Seit 2021 hat sie an der FAU den Lehrstuhl für Science, Technology und Gender Studies inne. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Schnittmenge von Wissenschaft und Technik, Wissenschaftsgeschichte, der Geschichte der Diplomatie, Politischer Wissenschaft und Internationalen Beziehungen.

Foto: Ismail Barakat

Diese Cookie-Richtlinie wurde erstellt und aktualisiert von der Firma CookieFirst.com.

Login

Der Beitragsinhalt ist nur für Abonnenten zugänglich.
Bitte loggen Sie sich ein:
 

Logout

Möchten Sie sich abmelden?

Abo nicht ausreichend

Ihr Abonnement berechtigt Sie nur zum Aufrufen der folgenden Produkt-Inhalte: