
Wir können mehr
Um den Klimawandel zu bewältigen, müssen Forscherinnen und Forscher allesamt gewiefter sein als Lobbyorganisationen – sind Patrick Pax und Volker Stein überzeugt. In ihrem DUZ Gastbeitrag skizzieren sie, was die Wissenschaft aus ihrer Sicht zur Bewältigung des Klimawandels beitragen müsste
Wir Forscherinnen und Forscher sind fleißig am Werk. Wir verfolgen jedes CO₂-Molekül einzeln, ordnen es Verursachungsfaktoren zu, konzipieren Aufklärungspraktiken und überlegen, wie wir das Handeln von Milliarden von Menschen verändern können. Und einiges scheint zu funktionieren: Zunehmend werden Flugemissionen kompensiert, Elektroautos gekauft und Müll recycelt. Denn die Botschaft ist mittlerweile angekommen: Jede und jeder von uns muss einen Beitrag leisten, um den Klimawandel zu stoppen. Richtig?
Die Vereinten Nationen verkünden bereits 2021 in ihrem Bericht „Frieden schließen mit der Natur“ die unmissverständliche Botschaft: „Die Transformation erfordert einen grundlegenden, systemweiten Wandel in den Weltanschauungen und Werten sowie in der technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Organisation der Gesellschaft. Dieser Wandel erfordert unter anderem Innovation, Lernprozesse, Zusammenarbeit, Multilateralismus und die Anpassung von Governance-Strukturen, Strategien, Geschäftsmodellen, Technologien und Bildungs- und Wissenssystemen“.
Diese direkte und in ihrer politischen Aussage klare Sprache ist so erfrischend wie schwer operationalisierbar: Wir müssen alles auf den Prüfstand stellen. Der Bericht konstatiert vergebliche „jahrzehntelange Bemühungen“ und beklagt „unzureichende Maßnahmen […], die kurzfristig etwas zum Umweltschutz beitragen können, aber von den längerfristigen Bemühungen ablenken“. Er warnt vor wirkungslosen Veränderungen, „die Machtinteressen im Status quo bewahren oder sogar weiter festigen“. Die ernsthaft vorgetragene und weitreichende Forderung nach systematischem Handeln spiegelt die Besorgnis wider, die sich aus den überwiegend geteilten Diagnosen der Klimaforschung ergibt. Neu für eine offizielle UN-Verlautbarung ist hier jedoch der kritische Hinweis auf bisheriges Scheitern, auf lediglich inkrementelle Anstrengungen und auf die Opposition gegen die Bewältigung des Klimawandels.
Angenommen, wir teilen diese Diagnose, wundern uns über die schnell verrennende Zeit und geloben Besserung: Wie können wir als Wissenschaft feststellen, ob unsere Arbeit zu einem systemischen Wandel oder aber weiter in die Sackgasse der Festigung der Macht einzelner Interessengruppen führt?
Fatales Grundnarrativ
Der Klimawandel ist nicht das erste Umweltproblem der kollektiven Menschheit, und aus der Vergangenheit lässt sich lernen. Das Schließen des Ozonlochs klappte vergleichsweise gut: In Bezug auf die seit den 1970er-Jahren systematisch beobachtete Abnahme der Ozonschicht der Erde gelang auf Basis des Montrealer Protokolls (1987) über weltweite Verbote bestimmter Schadstoffe die Trendumkehr, was eine weitgehende Schließung des Ozonlochs bis 2050 erwarten lässt. Ein weiteres Positivbeispiel ist das Thema Waldsterben und saurer Regen, das seit den 1980er-Jahren ins breite öffentliche Bewusstsein gerückt wurde und zur Intensivierung sinnvoller Gegenmaßnahmen führte.
Hingegen ist die Plastikverschmutzung im Rückblick ein besonders tragischer Fall: Heute treibt im Pazifik auf einer Fläche von 1,6 Millionen Quadratkilometern ein gigantischer Plastikmüllstrudel und wir weisen die Mikroplastikverseuchung in der Tiefsee über die Antarktis bis in die Muttermilch nach. Dies müsste, wenn zeitnah angemessen reagiert worden wäre, nicht sein. Denn bereits in den frühen 1970er-Jahren wuchs in den USA eine Bewegung, die auf das systemische Verbot von Kunststoffen hinarbeitete. Unternehmen der kunststoffherstellenden Branchen schlossen sich daraufhin zu einer „Keep America Beautiful“-Kampagne zusammen. In ihrem prägnanten und inzwischen ikonografischen TV-Werbespot „The Crying Indian“ paddelt ein amerikanischer Ureinwohner (tatsächlich ein Schauspieler italienischer Herkunft) im Kanu auf einem ursprünglich erscheinenden Wasserlauf, der sich nach und nach als verdreckte Industriebrache entpuppt. Als ein gleichgültiger Autofahrer ihm aus dem Autofenster heraus seinen Müll vor die Füße wirft, wendet der Ureinwohner seinen Blick in die Kamera und eine einzelne Träne läuft ihm über die Wange. Aus dem Off erklärt eine Stimme, dass gute Menschen die Umwelt respektieren und schützen, während schlechte Menschen die Umwelt verschmutzen.
Dieser Clip – heute würde man ihn zudem aufgrund kultureller Aneignung kritisieren –verdeutlicht den in Gesellschaft und Wissenschaft gleichermaßen wirksamen Mechanismus, den umweltverschmutzende Industrien wiederholt anwenden: Sie nehmen die Sorgen um die Umwelt verständnisvoll auf, während sie gleichzeitig in ihrem Framing die Verschmutzung von einem systemischen und materiellen Thema samt eigener Verantwortungsüber-nahme zu einer rein individuellen Frage von Herz, Verstand und Ethik umdeuten. Der ausgerechnet durch eine Werbekampagne des BP-Konzerns (!) 2004 bekannt gemachte CO₂-Fußabdruck, der im Endeffekt zu Fleischscham und Elektromobilität führt, ist ein weiteres Beispiel für die „Individualisierung“ des Klimawandels.
Die Übernahme eines solchen Greenwashing-Framings der umweltverschmutzenden Industrien führt erwartbar in eine Sackgasse für die Nachhaltigkeitsbildung. Sie läuft in ihrer Konsequenz ins Leere, wenn weder die tendenziöse Aufklärung über das Problem noch der hier vorgeschlagene Lösungsweg einer Individualisierung der Emissionsverantwortung auch nur annähernd zu Effekten in einer Größenordnung führen können, die in der Realität zur Problemlösung nötig wären – so beispielsweise belegt für das Kunststoffrecycling, wo trotz Mülltrennung weltweit aktuell noch immer nur 14 Prozent des weltweiten Plastikmüllaufkommens dem Downcycling zugeführt wird, wohingegen der Restanteil nach wie vor die ökologischen Probleme verstärkt.
Ein ökologisch orientiertes Marktverhalten, bei dem man hofft, die Internalisierung (Individualisierung?) von Klimaschutzkosten würden Marktversagen korrigieren und ohne viel weitere externe Steuerung zu einer Problemlösung führen – auch als „grüner Kapitalismus“ bezeichnet –, bleibt in seinen Wirkungen hinter den Erwartungen zurück. Die Suche nach besseren Alternativen muss mit der zynischen Erkenntnis beginnen, dass der „grüne Kapitalismus“ genau die Erwartungen und Anforderung eben jener Machtinteressen erfüllt, die von den Vereinten Nationen aufgezeigt werden und in deren finanziellem Interesse die Bewahrung des Status quo und die Dispersion von systematischer Kritik stehen.
Reflexhafte Akzeptanz
Was bedeutet dies für uns als Forschende? Reflektieren wir ausreichend unsere Basisannahmen – oder sind wir den umweltverschmutzenden Industrien auf den Leim gegangen, mit ihrem Framing der letztendlich rein individuellen Verantwortlichkeit bei der Klimarettung? Haben wir uns hierdurch unserer Schlagkraft beraubt und uns von dem notwendigen systemischen Wandel ablenken lassen?
Denn genau dies tun wir zurzeit kollektiv. Herausgefordert durch klimawandelskeptische Nachfragen und im besten Wissenschaftssinne kritisch-rationalistisch, machen wir uns brav an die Arbeit, betrachten vorhandene Evidenzen noch einmal aus einem anderen Blickwinkel, entwickeln einen weiteren Weg mehr, um Individuen in ihrem Verhalten umzustimmen, und evaluieren zum wiederholten Male die wirtschaftlichen Verhaltensanreize auf ihre Effektivität hin. Sorgfältig werden die bereits vorhandenen technologischen Möglichkeiten vorgestellt, man müsse sie nur nutzen.
Dies alles ist nicht verkehrt, aber es wird – so nicht allein die UN – nicht ausreichen. Bei Lichte besehen wird in Sachen globaler Klimawandel vom zeitkritischen Ziel her gedacht bislang weniger als nichts erreicht: Noch immer steigt der Verbrauch nicht-regenerativer Energien weltweit an, noch immer liegt das Maximum der zusätzlichen Treibhausgasemissionen erst vor uns. Und das Fatalste: Noch immer wird das Bild erzeugt, das tugendhafte Individuum könne und müsse die Probleme lösen – dabei ist gerade dies offensichtlich vollkommen unzureichend und sogar schädlich.
Die Alternative
Anstatt uns als Forschende zu leicht beeinflussen zu lassen, wäre eine erneute selbstkritische Diskussion über Normativität, politische Ideologie und Manipulationsanfälligkeit zu führen. Um den Klimawandel zu bewältigen, müssten wir Forschenden allesamt (und nicht allein die Klimawissenschaftlerinnen und -wissenschaftler) gewiefter sein als Lobbyorganisationen, gerade jetzt laut und deutlich die systemischen Konsequenzen in allen unseren jeweiligen Fachgebieten aufzeigen, unsere Positionen zur nachhaltigen Beeinflussung der Politik nutzen und uns für den schwierigen und allumfassenden systemischen Wandel einsetzen, der zur Bekämpfung des Klimawandels erforderlich ist. Mit anderen Worten: Wir müssen aufhören, nützliche Idioten zu sein.
Die Wissenschaft ist aufgerufen, für die Zeit, die präzedenzlos vor uns liegt, weil wir kaum über problemadäquates Erfahrungswissen verfügen, systemische Klimaresilienz mit aufzubauen. Eine solche Agenda – und fairerweise ist zu konstatieren, dass wir als Forschende viele substanzielle Beiträge erbringen – betrifft über alle Disziplinen hinweg mehrere übergeordnete Aspekte:
Das Narrativ: Wie lässt sich über alle Transformationsarenen hinweg die Präferenz individuumsbezogener Problemlösungsnarrative über global-kollektivbezogene, systemische Problemlösungsnarrative umdrehen? Wie kann die Neukalibrierung des Klimawandel-Diskurses gelingen, die die kollektive Verantwortlichkeit in den Vordergrund rückt? Wie lassen sich demzufolge national und international Lösungsmaßnahmen vereinbaren, die nicht allein das Individuum in die Verantwortung stellen oder es gar eines unausweichlichen Versagens beschuldigen, um so die Klimabewegung zu diskreditieren?
Das Ziel: Wie können wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen aktiven Beitrag leisten zum Entwurf einer Zukunftsvision, die nicht als Fortschreibung der Gegenwart mit nur graduellen Veränderungen formuliert wird, sondern, mit aller notwendiger wissenschaftlicher Fundierung, als systemischer und materieller Bruch? Und wie können wir mit all unserem Verständnis, unserer Expertise und Kompetenz dazu beitragen, dass wir nicht im Diskurs stecken bleiben, wie wir über die Zukunftsgestaltung reden wollen, sondern aus diesem Diskurs heraus Konsequenzen für die tatsächliche Veränderung unserer Lebenswirklichkeit ableiten und diesen zur Umsetzung verhelfen?
Die Akzeptanz: Wie können in der Klimadiskussion die Apokalypse-Fokussierung und das Verschieben der wahrscheinlichen Konsequenzen auf die kommenden Generationen einem Gegenwartsoptimismus weichen, also einem Vertrauen in die kollektive Selbstwirksamkeit des Anfangens und konkreten Gestaltens, sogar von Utopien? Nur wenn es eine Vision jenseits von Klimapanik gibt, können die Konsequenzen von systematischen Veränderungen – etwa aller Wahrscheinlichkeit nach unvermeidliche kollektive Verlusterfahrungen – eingebettet in soziale Normen, kollektiv wie auch individuell akzeptiert werden.
Die Ausbildung: Unsere Studierenden brauchen und verdienen eine aufrichtige Auseinandersetzung mit der Klimaveränderung in all ihren Facetten. Wie vermeiden wir es, dass wir im Hinblick auf die Lehrinhalte wie auch die auf die gesellschaftliche Diskussion, in die unsere Absolventinnen und Absolventen entlassen werden, an die Stelle unseres abgewogenen Expertenwissens unbewusst die Framings einzelner Interessengruppen setzen? Wie werden wir unserer pädagogischen Verantwortung gegenüber der kommenden Generation, die wir zu kritischem Denken befähigen wollen, substanziell gerecht?
Das Handeln: Wie können wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehr Einfluss nehmen auf die funktionale Organisation der politischen Entscheidungsfindung? Beispielsweise lässt sich anhand der internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD) lernen, wie dialogische Verfahren durchgeführt werden, an denen viele Fachgesellschaften, Berufsverbände, politische sowie wirtschaftliche Institutionen mit ganz unterschiedlichen Interessen beratend beteiligt sind, wie der Umgang mit Interessenkonflikten und Entscheidungen geregelt sind und wie die Beratungsergebnisse schließlich allgemeine Verbindlichkeit und damit faktische Autorität erlangen. Wie können in einer demokratiebasierten Governancestruktur, basierend auf Forschung und Fachwissen, Einsicht in die global-systemische Handlungsnotwendigkeit und Zuversicht in die kollektive Selbstwirksamkeit erhöht werden, damit die politischen Akteurinnen und Akteure ein deutlicheres Mandat für ihr Handeln erhalten?
Die Wissenschaft in ihrer ganzen Breite ist gefordert, ihre Ambitionen im Hinblick auf diese Themenfelder weiter zu steigern: als Innovatorin, Vorreiterin, Multiplikatorin, Treiberin und Beschleunigerin.
Trauen wir uns dies zu?
Letztlich sind wir als Forschende eines solch umfassenden Problems wie dem Klimawandel dazu aufgerufen, uns selbstkritisch zu fragen: Machen wir tatsächlich einen Unterschied? Können wir gegenüber Gesellschaft und Politik zu einer umfassenderen Forschung und Lehre der Disruption, der Improvisation, der Utopieumsetzung beitragen? Seien wir entschiedener darin, die kritische Kompetenz, die wir vielen vermitteln wollen, auf uns selbst anzuwenden! Seien wir mutiger, groteske Narrative und ihre Urheberinnen wie auch Urheber zu entlarven und unsere geballte wissenschaftliche Kompetenz dagegenzusetzen! //
Dr. Patrick Prax
arbeitet als Dozent an der Fakultät für Game Design an der Universität von Uppsala in Schweden.
https://nordmedianetwork.org
Foto: privat
Prof. Dr. Volker Stein
hat den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Personalmanagement und Organisation an der Universität Siegen inne.
www.pmg.uni-siegen.de
Foto: Uni Siegen
DUZ Magazin 02/2025 vom 21.02.2025