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Im demografischen Übergang liegen Chancen

Der demografische Wandel gestaltet sich weltweit sehr unterschiedlich. Und er ist keine Entwicklung, die über Nacht über Gesellschaften und Nationen einfach hereinbricht. Catherina Hinz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung erläutert im Interview, welche Herausforderungen und auch Chancen der demografische Wandel birgt und wie die Politik ihn – national und weltweit – steuern und begleiten kann

Frau Hinz, was verstehen Sie als Expertin für demografische Entwicklungen unter „demografischer Wandel“ und worin zeigt er sich am deutlichsten?

Der demografische Wandel beschreibt eine Entwicklung von hohen Geburten- und Sterberaten hin zu niedrigen Geburten- und Sterberaten. Dieser Wandel ist ein demografischer Übergang, den alle Länder dieser Welt während ihrer sozioökonomischen Entwicklung durchlaufen. Meist sinkt zunächst die Sterberate und danach, etwas verzögert, die Geburtenrate. Dadurch wächst am Anfang die Bevölkerung sehr schnell. Wenn die Geburtenrate dann sinkt, stabilisiert sich die Bevölkerung. Rutscht die Geburtenrate später allerdings unter das Ausgleichsniveau der Sterberate, beginnt eine Bevölkerung zu schrumpfen und die Gesellschaft zu altern. Das ist in vielen Industrieländern so, wie auch in Deutschland. Diese Entwicklung von einer jungen zu einer älteren Gesellschaft beschreiben wir meist als demografischen Wandel.

Ist der demografische Wandel in allen Ländern der Welt ähnlich?

Wenn wir auf die Weltbevölkerung schauen, ist dieser sehr divers. Die Länder der Welt befinden sich in recht unterschiedlichen Phasen und Ausprägungen des demografischen Übergangs. Es gibt junge Gesellschaften, alternde und ältere Gesellschaften. Fast überall sinken die Geburtenraten, aber in einigen Ländern, wie etwa auf dem afrikanischen Kontinent, geschieht dies verzögert und langsamer. Während afrikanische Länder stark wachsen und mit einer jungen Bevölkerung aufwarten, schrumpfen viele Länder in Europa ohne Einwanderung. Das ist auch der Fall in China.

Der Begriff „demografischer Wandel“ ist in Deutschland oft negativ konnotiert. Er wird mit Überalterung der Gesellschaft und Gefahr für die Sozialsysteme in Verbindung gebracht. Birgt der Wandel tatsächlich nur Risiken und Probleme und gibt es Länder, die das „besser“ hinbekommen und von denen wir lernen könnten? 

Natürlich ist die Alterung der Gesellschaft eine Herausforderung für unsere Gesellschaft, Wirtschaft und Sozialsysteme. Man kann diese Entwicklung allerdings auch positiv betrachten, denn im demografischen Übergang liegen durchaus Chancen. Diese Chancen wurden von den sogenannten asiatischen Tigerstaaten genutzt, zu denen Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Thailand und Vietnam zählen. Der Vorteil: Im Zuge der Veränderung der Altersstruktur verschiebt sich zunächst der Schwerpunkt der Gesellschaft in Richtung erwerbsfähige Bevölkerung. Wenn hier in Bildung, Gesundheit und Arbeitsplätze investiert wird, kann sich diese günstige Altersstruktur – auch demografischer Bonus genannt – in eine demografische Dividende verwandeln. Bei den asiatischen Tigerstaaten ist bis zu einem Drittel des Wirtschaftswachstums darauf zurückzuführen. Auch Afrika steht vor großen demografischen Herausforderungen. Die Bevölkerung wächst rasant. Etwa 60 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt. Diese Dynamik birgt auch enorme Chancen für die wirtschaftliche Entwicklung der Länder. Ob dies jedoch gelingt, hängt auch davon ab, ob genügend Investitionen in die große Jugendgeneration getätigt werden – sprich, die jungen Menschen genügend Bildung erhalten, ein passender Arbeitsmarkt für sie entwickelt wird und sich die Lebensbedingungen und die Gleichberechtigung und damit auch körperliche Selbstbestimmung der Frauen verbessern.

Gut aufeinander abgestimmte politische Maßnahmen sind also notwendig, um einen demografischen Wandel positiv nutzen zu können? 

Auf jeden Fall. Der demografische Wandel ist eine unumkehrbare Entwicklung, die uns nicht einfach überfällt, sondern die sich schon lange vorher ankündigt. Man kann ihn gestalten und dafür planen. Auswirkungen und Konsequenzen können mit gezielten Maßnahmen beeinflusst werden, wie zum Beispiel mit einer klugen Familien- und Gleichberechtigungspolitik, indem man die Sozialsysteme anpasst und sich für Zuwanderung öffnet. So wächst Deutschland seit Mitte der 1970er-Jahre fast nur noch durch Zuwanderung. Daher sollten wir den demografischen Wandel noch viel stärker als Chance verstehen. Denn wir werden älter, diverser und weniger. Darauf müssen wir uns einstellen und entsprechend planen. Diese Entwicklung ist langfristig und eine Herausforderung. Sie lässt sich nicht in einer Legislaturperiode regeln. Die Politik muss in langen Horizonten planen.

Was sind die Versäumnisse unserer Politik und wo müsste schleunigst etwas geschehen?

In der Familienpolitik haben die Einführung des Elterngeldes und der Kita-Ausbau an den richtigen Stellschrauben gedreht. Der Kita-Ausbau ist aber zu langsam und auch nicht verlässlich. Das ist aber wichtig für die Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt und für Menschen, die eine Familie gründen wollen. Auch beim Fachkräftemangel gibt es noch vieles zu tun. Neben der Arbeits- und Fachkräfte-Anwerbung aus dem Ausland könnte man versuchen, die Teilnahme von Frauen und Älteren am Arbeitsmarkt weiter zu steigern. Die Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre war ein wichtiger Schritt. Aber man könnte viel mehr dafür tun, dass Menschen es attraktiv finden, über das Rentenalter hinaus zu arbeiten. Auch Menschen, die keinen Schulabschluss haben, sollte man besser mitnehmen und die Teilhabechancen am Arbeitsmarkt für alle Menschen in Deutschland erhöhen – ob nun mit oder ohne deutschen Pass. Zudem müssen wir dringend auf den Pflegenotstand reagieren. Wenn die Babyboomer in die Hochaltrigkeit wachsen, wird sich die schon heute schnell wachsende Zahl der Pflegebedürftigen noch verstärken. 

Wie könnten Erkenntnisse und Wissen über die Gestaltung des demografischen Wandels in die alltägliche Politik miteinfließen?

Ich würde mir wünschen, dass die Politik Daten, Fakten und Erkenntnisse des demografischen Wandels ernsthafter berücksichtigt. Es gibt auch eine Vielzahl an Erfahrungen und Best-Practice-Beispielen, die in eine ­vorausschauende Planung mit einbezogen werden könnten. So haben wir am Berlin-Institut in einer Studie über teilhabeorientierte Integrationspolitik interessante Ansätze von Gemeinden untersucht, die Teilhabeangebote für alle Menschen öffnen, die diese benötigen. Diese Integrationsangebote wenden sich nicht nur an Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund, sondern an all diejenigen, die zum Beispiel Schwierigkeiten haben, eine Wohnung oder Arbeit zu finden oder die Bildungslücken vorweisen. Dadurch gelingt es den Gemeinden, ihre Bürgerinnen und Bürger für das Thema Zuwanderung zu sensibilisieren. Wir erhalten Anfragen aus Korea, Japan und China. Diese Länder wollen von uns wissen und lernen, wie Deutschland den demografischen Wandel gestaltet. Im Gegenzug könnten auch wir von anderen Ländern lernen. So werden in Korea Schulen, die nur noch wenige Schulkinder besuchen, umgewidmet für die Bildung von älteren Frauen. Auch bei uns könnte man Schulen und Kindergärten multifunktional für andere Nutzungsformen (um-)bauen und planen. Zudem sollte der Begriff „Zuwanderung“ von der Politik sehr viel positiver gesehen und dargestellt werden. Denn schon heute beruht unser Wohlstand auf der Leistung derjenigen, die in der Vergangenheit zu uns gekommen sind. Wir sind auf Zuwanderung angewiesen und das sollte die Politik ihren Bürgerinnen und Bürgern gut erklären und mit Fakten hinterlegen.

Sollten wir unsere demografischen Probleme bzw. Demografiepolitik überhaupt auf nationaler Ebene angehen, wäre nicht vielmehr eine internationale Zusammenarbeit dringend notwendig?

Ja. Das findet bei den Vereinten Nationen auch schon statt. Dort tagt jedes Jahr die Bevölkerungskommission, die sich mit zum Beispiel damit befasst: Wie kann man die Bevölkerungspolitik menschenrechtsbasierter gestalten in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Arbeit, Gleichberechtigung, internationaler Zusammenarbeit und Migration? Besonders das Thema Migration ist ein Streitthema, denn es ist schwierig hierfür international gerechte Regelungen zu finden, die eine Win-win-Situation sowohl für die Sendeländer als auch für die Empfängerländer ermöglicht. Es gibt zwar Migrationsabkommen, zum Beispiel mit Brasilien im Bereich der Pflegekräfte und mit einigen afrikanischen Ländern, wie Kenia und Tunesien. Aber auch Brasilien ist ein Land, das im demografischen Wandel schon weit fortgeschritten ist. Die Partnerschaften dürfen nicht dazu führen, dass Brasilien am Ende zu wenige Pflegekräfte im eigenen Land hat. Und wir sollten uns an den Gedanken gewöhnen, dass wir nicht nur Menschen aus dem europäischen Raum willkommen heißen, sondern auch aus anderen Regionen der Welt, die zudem ähnliche demografische Probleme in der Zukunft haben könnten wie wir. //

Catherina Hinz

ist geschäftsführende Direktorin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Zuvor war sie unter anderem Projektleiterin des Globalvorhabens zum Nachfolgeprozess der Kairoer Weltbevölkerungskonferenz bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ); Abteilungsleiterin Kommunikation und politische Arbeit bei der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Südasieninstitut der Humboldt-Universität zu Berlin in einem Forschungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Foto: Christina Ohmann

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