
Inkubatoren des Fortschritts
In der DUZ-Serie „Demokratie stärken“ stellen Hochschulakteurinnen und -akteure vor, wie sie diese gesetzlich verankerte Aufgabe verstehen und wo sie ihre Grenzen sehen. Gedanken aus der Universität Heidelberg von Charlotte von Knobelsdorff und Marc-Philippe Weller
Die Demokratie gehört gemäß Art. 20 GG zur Fundamentalessenz unserer verfassungsmäßigen Ordnung. Mit ihr wird heute eine Staatsform beschrieben, die auf allgemeiner, freier und gleicher Partizipation aller an der politischen Willensbildung beruht. Demokratie existiert nicht im luftleeren Raum, sondern beruht – jedenfalls in ihrer liberalen Variante – auf mehreren flankierenden Pfeilern: Dazu gehören in erster Linie freie Wahlen, die Gewaltenteilung, die Herrschaft des Rechts (und nicht der Willkür) sowie Grund- und Menschenrechte (vor allem Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit). Sie baut aber auch – in Anlehnung an ein Diktum des Staats- und Verwaltungsrechtlers und Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde zum freiheitlichen Staat – auf gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen auf, die sie nicht selbst schaffen und garantieren kann. Sie beruht namentlich auf einer gesellschaftlichen Kultur, die Interessenkonflikte im Rahmen einer fairen Debatte diskursiv einer Lösung – regelmäßig in Form von Kompromissen – zuführt. Diese politische Kultur wiederum gedeiht nur in einer pluralen, meinungsbreiten Gesellschaft ohne hoheitliche Dirigistik und Machtkonzentrationen, in der Diversität wertgeschätzt wird.
Zentrale Rolle der Universitäten für die Demokratie
Vor diesem Hintergrund erweisen sich Universitäten als zentrale Bausteine der Demokratie. Sie bilden – als Universitas und damit als Gemeinschaft aus Lehrenden und Studierenden konzipiert – das Demokratieprinzip in ihren inneren Strukturen ab (Gleichheit aller universitären Mitglieder, Gremienwahlen, partizipative Selbstverwaltung). Vor allem aber tragen sie zu den Rahmenbedingungen der Demokratie bei, welche diese nicht selbst schaffen kann. Es ist kein Zufall, dass der Sturz von Autokratien oft universitäre Keimzellen hat. Der Gesetzgeber teilt die Ansicht über die zentrale Rolle der Universitäten für die Stärkung der Demokratie, wenn er etwa in § 2 Landeshochschulgesetz Baden-Württemberg (LHG) die vielfältigen universitären Aufgaben mit dem „freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat“ verknüpft. Die Universitäten tragen mithin Verantwortung für die Demokratie. Dieser Verantwortung werden sie durch eine Vielzahl an Programmen und Projekten gerecht, welche die Demokratie stärken. Im Folgenden werden pars pro toto einige Beispiele der Universität Heidelberg genannt, die vergleichbar auch an anderen Universitäten zu finden sind.
Inkubatoren des diskursiven Fortschritts
Universitäten stärken die Demokratie zuvörderst mit ihren beiden Kernaufgaben, der Forschung und der Lehre. Diese sind verfassungsrechtlich in Art. 5 Abs. 3 GG verbürgt und damit im systematischen Kontext der Demokratiegrundrechte par excellence, der Meinungs- und Pressefreiheit in Art. 5 Abs. 1 GG. Als Inkubatoren des Fortschritts vermitteln Universitäten nicht nur den aktuellen Wissensstand, sondern auch – und das ist für Studierende noch bedeutsamer – wissenserschließende Methoden. Dabei erwächst wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn aus kontroversem Diskurs und kritischer Reflexion, aus dem auf den Philosophen Hegel zurückführbaren Dreiklang aus These, Antithese und Synthese. Universitäten bilden bereits mit dieser ihnen institutionell inhärenten Forschungs- und Lehrmethodik einen wesentlichen Baustein demokratischer Gesellschaften. Wissenschaftlicher Fortschritt entsteht strukturell vergleichbar wie der demokratische Prozess, nämlich aus einem immer wieder neu zu hinterfragenden antithetischen Diskurs, der sich einer weltweiten Fachöffentlichkeit stellen und an den Denkgesetzen der Logik und Stringenz messen lassen muss. Diesen Diskurs den Studierenden und damit Führungspersönlichkeiten sowie Leistungsträgerinnen und Leistungsträgern von morgen erfahr- und erlernbar zu machen, gehört zu den vornehmsten Aufgaben der Universität.
Beispiel aus der Rechtswissenschaft
Ein Beispiel liefert die Rechtswissenschaft. Auf dem 74. Deutschen Juristentag, der jüngst in Stuttgart stattfand, wurden auf verschiedenen Panels unter anderem neue Regelungskonzepte zur Krisenbewältigung durch den Staat in Katastrophenfällen sowie Vorschläge zur Klimatransformation der Wirtschaft über das Gesellschaftsrecht diskutiert. Unter den über 2000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern waren Studierende zahlreich vertreten und im Vorfeld an den Universitäten deutschlandweit in Seminarveranstaltungen thematisch vorbereitet worden. Die in Stuttgart diskutierten Thesen wurden von verschiedenen Professorinnen und Professoren bereits im Vorfeld publiziert, die Gegenthesen von anderen Jura-Kolleginnen und -Kollegen, jeweils unter Einbeziehung von Post-Docs sowie Doktorandinnen und Doktoranden. Transfer fand ebenfalls statt, weil zugleich die Praxis (Anwaltschaft, Medien, Notariat, Verwaltung, Unternehmen) breit einbezogen wurde. Nach zwei Tagen intensiver und kontroverser Diskussion der pro Panel etwa 20 bis 30 Thesen wurden weiterführende Synthesen erarbeitet. Über diese durften am Ende alle abstimmen. Ein Musterbeispiel für wissenschaftlichen Diskurs aus These, Antithese, Synthese, der schließlich noch basispartizipativ gestützt wurde.
Partizipation, Engagement und Empowerment fördern
Auch wenn Elemente der direkten (plebiszitären) Demokratie angesichts der deutschen Historie umstritten sind (Gertrude Lübbe-Wolff: „Demophobie?“), so lebt doch auch die repräsentative Demokratie von Partizipation und Engagement. Diese setzen wiederum Selbstwirksamkeit (empowerment) voraus. An der Universität Heidelberg gibt es diesbezüglich eine Vielzahl an Empowerment-Formaten: Gleichstellungsmaßnahmen fördern die Chancengerechtigkeit der Geschlechter und tragen somit zur Egalität, einer Grundvoraussetzung der Demokratie, bei. Das New-Potentials-Programm richtet sich an Erststudierende (Erstakademikerinnen und Erstakademiker). Sie erhalten die Möglichkeit, über befristete Stellen Einblick in den akademischen Arbeitsalltag zu bekommen. Zudem soll das Programm über eine unmittelbare Institutsanbindung Perspektiven für den wissenschaftlichen Karriereweg eröffnen. Klassismus und Zugangshürden sollen damit reduziert werden.
Partzipation zeigt sich am neuen Diversity-Konzept. Dieses wurde in einem universitätsweiten Bottom-up-Prozess entwickelt. Alle 45 000 Mitglieder – von den Studierenden über den „Mittelbau“ und die Verwaltung bis hin zu den Professorinnen und Professoren – wurden zur Beteiligung und zum aktiven Gestalten ihrer Universität aufgerufen. Auf diese Weise können auch marginalisierte Stimmen Aufmerksamkeit erhalten. Liberale Demokratie ist die Staatsform, die Minderheiten und Randgruppen besonders schützt und fördert. Diesem Aspekt können Universitäten durch dezentrale und gegebenenfalls anonymisierte Beteiligungsprozesse Rechnung tragen.
Engagement, Partizipation und Empowerment vereint das neu aufgesetzte Verfahren zum Umgang mit universitären Konflikten und Fehlverhalten. Hier engagieren sich in Heidelberg fast 70 Universitätsmitglieder ehrenamtlich als Konfliktlotsinnen und -lotsen, die universitätsweit als vertrauensvolle Anlaufstellen ersten Rat geben und den Weg zu professioneller Hilfe weisen (daher hat das Verfahren den Namen „GUIDE“). Dieses GUIDE-System ist Ausprägung demokratischer Organisationskultur, die statusgruppenübergreifend-partizipativ wirken soll.
Liberale Demokratie lebt von Pluralismus. Dazu gehören Perspektivwechsel, die Entwicklung von Ambiguitätstoleranz und die Öffnung von Diskursräumen. Dies alles leisten Universitäten. An der Universität Heidelberg finden im Wintersemester 2024/25 die zentrale Ruperto Carola Ringvorlesung zum Thema Wissenschaftsfreiheit und ihre Grenzen sowie ein Symposium mit dem Titel „Lost in discourse – Reichweite von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit an Universitäten“ statt, um gerade in Zeiten von Cancel Culture die Offenheit der Universität als Dialog- und Diskursraum zu diskutieren und zu unterstreichen. Hinzu kommen zahlreiche Fachvorlesungen mit Diversitätsbezug, welche in verschiedenen Fakultäten angeboten werden, etwa zu Migration, Antisemitismus, Rassismus, Antiziganismus oder geschlechtlichen Rollenbildern im Wandel. Zur Ambiguitätstoleranz gehört etwa, auf die Philosophie Hegels – wie oben geschehen – in dem kritischen Bewusstsein zu rekurrieren, dass Teile seiner Lehren rassistische und frauenfeindliche Elemente enthalten.
Grundlage des Pluralismus ist nicht zuletzt das Wissen um heterogene Lebensrealitäten, über Ungleichheiten und Machtasymmetrien, die den Zusammenhalt, gesellschaftliche Solidarität und Vertrauen in die Demokratie zu bedrohen vermögen. Die Universität versucht, diese Informationsasymmetrien durch Weiterbildungsangebote abzubauen, etwa zu den Themen Neurodiversität oder zur Kulturgemeinschaft tauber Menschen.
Transfer in die Gesellschaft
Die Erträge des wissenschaftlichen Diskurses teilen Universitäten mit der Gesellschaft. Stichworte sind Wissenschaftskommunikation, Citizen Science, Studium generale und öffentliche Symposien und Vorträge. Darüber hinaus beteiligt sich die Universität Heidelberg über UNIFY an pro-demokratischen Allianzen in der Kommunalpolitik, etwa am Heidelberger Runden Tisch gegen Rassismus oder demjenigen gegen sexualisierte Gewalt.
Auf überregionaler und internationaler Ebene wird die Freiheit der Wissenschaft über Allianzen gestärkt, etwa als Teil der U15-Universitäten, der Hochschulrektorenkonferenz, der Landesrektoratekonferenz der Universitäten Baden-Württemberg sowie der League of European Research Universities (LERU) oder der europäischen Universitätsallianz 4EU+.
Demokratie lebt von gesellschaftspolitischen Voraussetzungen, die sie nicht allein schaffen kann. Die Universitäten sind Inkubatoren, sie stützen und stärken die Demokratie. //
Charlotte von Knobelsdorff
leitet UNIFY (Unit for Family, Diversity and Equality), eine zentrale Einrichtung der Universität Heidelberg.
Prof. Dr. Marc-Philippe Weller
ist Prorektor für Internationales und Diversität sowie Direktor des Instituts für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg.
Fotos: Uni Heidelberg
DUZ Magazin 10/2024 vom 18.10.2024