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Bewusstsein für Demokratie

Der Hochschullehrerbund (hlb) veranstaltete im Mai in Schwerin ein Kolloquium mit dem Titel „Lehrziel Demokratie – werden wir dieser Verantwortung gerecht?“. Im Interview skizziert hlb-Vizepräsident Prof. Dr. Jochen Struwe, warum Hochschulen die Demokratiebildung ernster nehmen sollten

Herr Prof. Struwe, als Vizepräsident des Hochschullehrerbundes (hlb) engagieren Sie sich dafür, dass „die Studierenden zu einem verantwortlichen Handeln in einem freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat“ befähigt werden. Warum?

Im Hochschulrahmengesetz und in allen 16 Landeshochschulgesetzen findet sich der gesetzliche Auftrag an die Hochschulen, dies als Ziel eines jeden Studiums anzustreben. Dieser Auftrag ist angesichts der akuten inneren und äußeren Gefährdung unserer Demokratie wichtiger denn je.

Wie könnten Hochschulen diese wichtige Bildungsaufgabe umsetzen?

Indem sie ein Bewusstsein für diese Demokratiegefährdung schaffen, nicht nur bei Studierenden, sondern auch bei den Hochschullehrerinnen und -lehrern. Natürlich hat unser Berufsstand genug zu tun, dennoch sollten wir uns alle mehr um unsere Demokratie sorgen, als wir das in der Vergangenheit getan haben. Der 500 Jahre alte Grundsatz „Nihil de nobis sine nobis“ – „Nichts über uns ohne uns“ –scheint unseren Studierenden egal zu sein, wenn ich die verbreitet einstelligen Wahlbeteiligungen bei studentischen Wahlen als Indiz nehme. Demokratie braucht Demokraten, und das müssen wir auch unseren Studierenden deutlich machen.

Warum haben die Hochschulen das bisher nicht getan und warum sollten Hochschullehrende das heute tun?

Alarmierend sind die gerade angesprochenen einstelligen Wahlergebnisse bei studentischen Wahlen an fast allen Hochschulen in Deutschland. Auch die Wahlergebnisse zum EU-Parlament setzen Warnsignale. 17 Prozent der 16- bis 24-Jährigen, dazu gehören auch die Studierenden, haben die AfD gewählt. Wir haben offensichtlich zu wenig darauf geachtet, was sich beim akademischen Teil des Führungskräftenachwuchses unserer Gesellschaft tut. Das mag daran liegen, dass wir als Professoren von Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) seit Jahren eine Überlast schultern müssen. Wo bleibt da noch Zeit, sich mit der Demokratiebildung Studierender auseinanderzusetzen? Es muss aber gehen, wenn wir die Prioritäten ändern: Ein Privileg unseres Berufsstandes ist, dass wir unsere Lehre selbst bestimmen können – zum Beispiel bei der Quantität des zu vermittelnden Fachwissens. Wir wissen, dass die Studierenden das an den Hochschulen erworbene Fachwissen nur zu zehn bis 15 Prozent unmittelbar ihrem Berufsleben einsetzen – das konkrete anwendungsbezogene Fachwissen lernen sie meist erst beim Arbeitgeber. Entscheidender wäre, dass die Studierenden wieder mehr einwandfreie Methodik lernen. Damit würden sie auch mehr Verständnis für demokratische Prozesse entwickeln und lernen, wie wichtig es ist, dafür Verantwortung zu übernehmen.

Studierende haben vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren massiv gegen Krieg und Atomenergie demonstriert. Die Reaktion aus der Politik war: Allgemeinpolitisches Engagement, das nicht die Studierenden betrifft, sollte aus den Hochschulen verbannt werden. So dürfen sich die AStAs auch heute nicht zu allgemeinpolitischen Themen äußern. Ist das noch zeitgemäß?

Ein allgemeinpolitisches Mandat für die Studentenparlamente und -ausschüsse ist nicht sinnvoll, wäre angesichts einstelliger Wahlbeteiligungen auch kaum zu rechtfertigen; das Verbot sollte also bleiben. Es gibt genügend andere Wege für Studierende, sich allgemeinpolitisch zu betätigen, beispielsweise über die Parteien, die nach Artikel 21 des Grundgesetzes an der Willensbildung des Volkes mitwirken.

Bei den Wahlen zum Europaparlament haben sehr viele junge Menschen rechtspopulistische Parteien gewählt. Politikwissenschaftler sehen einen Grund dafür in den Social-Media-Aktivitäten. Sind Studierende heute schlechter informiert über die Grundpfeiler unserer Demokratie und damit auch darüber, warum die Wissenschaftsfreiheit wichtig ist?

Wenn ich Studierende frage, woher sie ihre tagespolitischen Informationen beziehen, bekomme ich in 95 Prozent der Fälle die Antwort: „Ich habe eine Nachrichten-App und verschiedene Blogs abonniert, die schaue ich mir morgens kurz an und das war’s.“ Eine Tageszeitung wirklich durchlesen oder regelmäßig Nachrichten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hören oder sehen – das machen vielleicht noch zwei bis drei Prozent dieser Altersgruppe. Dabei wissen sie durchaus, dass sie in den sozialen Medien irgendwann nur noch von Algorithmen selektiv informiert werden und sich in Filterblasen bewegen. Gleichwohl sind sie der Meinung, dass ihre Informationen ausreichen, um ausgewogen Entscheidungen treffen zu können. Daran habe ich allerdings erhebliche Zweifel.

Der hlb hat im Mai in Schwerin ein Kolloquium veranstaltet zum Thema „Lehrziel Demokratie – werden wir dieser Verantwortung gerecht?“. Was waren die wichtigsten Inhalte?

Wir wollten mit dem Kolloquium Hochschullehrende dafür sensibilisieren, jetzt mehr für das Lehrziel Demokratie zu tun. Um das zu erreichen, haben wir Impulsvorträge organisiert zu den Themen „Lebenslanges Lernen trifft gläserne Decke“, „Starke Hochschulgemeinschaft – starke Demokratie“, „Hochschulen als demokratische Orte und Impulsgeberinnen unserer Gesellschaft“ sowie „Demokratiebildung und Debattenkultur“. In drei Workshops wurden anschließend konkrete Vorschläge erarbeitet, wie Demokratie in Lehre, Forschung, Gremien und dem gesamten hochschulischen Leben vermittelt und gelebt werden kann. Informiert wurde zudem über mögliche Lehrformate und Anreize, um die Studierenden zur Mitarbeit in hochschulischen Gremien zu motivieren. Die Workshops entwickelten auch praxisnahe Handlungsempfehlungen zu den Themen „Service Learning und (spielerische) Demokratiebildung“, „Wie können Lehrende die Befähigung zu wissenschaftlicher oder künstlerischer Arbeit und zu verantwortlichem Handeln in einem freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat vermitteln?“ und „Wie können wir als Hochschulgemeinschaft zu Demokratie-Multiplikatorinnen und -multiplikatoren werden?“. Die daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen sind in der Schriftenreihe des Deutschen Instituts für Hochschulentwicklung (DIfHE) öffentlich zugänglich.

Sie waren beziehungsweise sind in Unternehmen, öffentlichen Verwaltungen und in der Politik tätig und verfügen über sehr viel Erfahrung in diesen Organisationen. Warum ist es wichtig, dass Hochschulabsolventen als künftige Führungskräfte lernen, wie Demokratie funktioniert?

Wir leben in einer Welt mit einer Vielzahl an kulturellen Unterschieden. Gleichzeitig erleben wir auch, dass diese Welt in „wir – die Guten“ und „die anderen – die Nichtguten“ fragmentiert wird. Unser demokratisches System in Deutschland basiert aber auf Interessenausgleich, und da sind Kompromisse notwendig. Dazu gehören eine Streitkultur, die nicht darin besteht, andere niederzuschreien und nicht hören zu wollen, was andere sagen, und das Bewusstsein, der andere könnte auch Recht haben. Heutige Jugendliche, dazu gehören auch unsere Studierenden, sind eher weniger kompromissbereit – vielleicht ein Privileg dieser Altersgruppe. Diese Kompromissbereitschaft wieder einzuüben und zu sehen, dass eine Polarisierung einer Gesellschaft nicht guttut, ist notwendig. Es ist wichtig, das Aushalten anderer Meinungen zu lernen und die eigene Meinung fundiert begründen zu können.

Wie könnte dies ganz praktisch betrachtet in Studium und Lehre geschehen, wie könnten die Hochschulen das unterstützen?

Indem jeder und jede einzelne Lehrende, und zwar unabhängig von seinem oder ihrem Lehrgebiet, die Studierenden immer wieder herausfordert, ohne sie zu überwältigen. Wir Professorinnen und Professoren müssen demokratisches Engagement vorleben, und zwar deutlich und jederzeit. Wir müssen die Studierenden aus ihren Echokammern herausholen, sie mit der harten Wirklichkeit konfrontieren, ihnen deutlich machen, dass sie die Zukunft, ihre Zukunft, alleinverantwortlich gestalten müssen. Praktisch kann dies etwa durch das Heranziehen tagesaktueller Problemstellungen aus Naturwissenschaft, Technik, sozialer Arbeit oder der Wirtschaft geschehen, fallweise auch verbunden mit der weitergehenden Fragestellung: Was würden Sie entscheiden, wenn Sie verantwortlicher Politiker wären. Hilfreich sind Praxisarbeiten, aber auch moderierte Debattierclubs, die Beteiligung an Simulationen wie Model United Nations – alles keine neuen Formate, aber leider zu selten eingesetzt. Es kommt immer darauf an, dass Studierende lernen, dass ihr Tun, genauso wie ihr Nichtstun, Folgen hat – und das lässt sich gerade an HAW mit ihren anwendungsorientierten Studiengängen nahezu überall durchexerzieren. 

Hilfreich ist sicher auch, dass Lehrende verdeutlichen, dass es nicht immer ein eindeutiges „richtig“ oder „falsch“ gibt: Schon in der Physik, der Biologie oder der Medizin gibt es Unschärfen und Bandbreiten, und in den Sozialwissenschaften wird es noch bunter, wenn verschiedene Argumentationen abgewogen werden müssen und gegebenenfalls erst via Mehrheitsentscheid entschieden werden können.

Wie wollen Sie nach dem Auftaktkolloquium das Thema weiter vorantreiben?

Als hlb sind wir in regelmäßigen Gesprächen mit Bundestags- und Landtagsfraktionen und deren wissenschafts- und hochschulpolitischen Arbeitskreisen. Schon vor dem Kolloquium hatte etwa das rheinland-pfälzische Wissenschaftsministerium Kontakt zu mir aufgenommen. Es gibt dort eine Stabsstelle, angesiedelt beim Wissenschaftsstaatssekretär, die sich mit der Demokratiestärkung beschäftigt und die die Hochschulen bei dieser Aufgabe unterstützen will. Wie die Hochschulen agieren werden, wissen wir noch nicht. Hilfreich wäre, wenn die Wissenschaftsministerien den Hochschullehrerinnen und -lehrern mehr Freiraum für die vordringliche Aufgabe Demokratiesicherung verschaffen würden, etwa durch eine Absenkung des Lehrdeputats, eine Stärkung des Mittelbaus und die Verschlankung der Hochschulbürokratie. //

Prof. Dr. Jochen Struwe



Der Vizepräsident des hlb hatte eine Professur für Unternehmensführung, Rechnungswesen und Controlling am Umwelt-Campus Birkenfeld der Hochschule Trier inne. Er ist Mitglied des Auswahlausschusses der Friedrich-Ebert-Stiftung, ist seit seiner Studienzeit allgemein- und hochschulpolitisch aktiv und war der Initiator des hlb-Kolloquiums.


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