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Proteste ohne Vielstimmigkeit

Für Leuphana-Präsident Sascha Spoun basieren die aktuellen Studierendenproteste auf „lumping“ – einer Einteilung der Welt in Opfer und Täter. Er appelliert an die Demonstranten, den Diskurs für alle Stimmen, auch für die moderaten, vermittelnden und unbequemen, zu öffnen. Nur so könne die Freiheit im Denken und Reden, für die die Institution Hochschule steht, bewahrt werden:

Ein wichtiges Ziel von universitärer Bildung ist die Herausbildung einer individuellen Stimme und die Fähigkeit, sich eine differenzierte Meinung zu bilden und diese zu äußern. Der kritische Diskurs ist hierfür der beste Weg, weshalb er bei universitärer Bildung methodisch im Vordergrund steht.

Protest hingegen ist eine Ultima Ratio, um sich Gehör zu verschaffen, etwa, weil ein Diskurs verweigert wird. Die Studierendenproteste im Jahre 1964 in Berkeley oder im selben Jahr an der Freien Universität Berlin, die sich dann zur 68er-Bewegung ausweiteten, hatten ihren Auslöser in einem Redeverbot, das seitens der Universitätsleitungen ausgesprochen wurde. Im Beharren auf die verfassungsrechtliche Meinungsfreiheit, die auch auf einem Universitätscampus gelten sollte, wählten die Studierenden die Ultima Ratio des Protestes in einer Form, wie er bei der Bürgerrechtsbewegung praktiziert wurde.

Sind die aktuellen Studierendenproteste, die auf den Konflikt in Gaza zielen, ebenfalls eine Ultima Ratio? Oder ist dieser Protest eine Proxima Ratio aufgrund der Einschätzung, sich damit am einfachsten und wirkungsvollsten Gehör zu verschaffen? Zudem: Ist dieser Protest darauf angelegt, einer Vielstimmigkeit Gehör zu verschaffen und damit eine Deliberation einzulösen, oder ist er darauf aus, beides hinter sich zu lassen? Offensichtlich ist, dass die Art des Protestes, wie sie hier gewählt wurde, indifferenzierend und komplexitätsreduzierend ist. Der Protest bedient sich einer Praxis, wie sie in gewaltsamen Konflikten üblich ist, und überträgt sie auf den Diskursraum der Universität. 

Der israelische Soziologe Eviatar Zerubavel hat das Vorgehen, zum Zwecke der Polarisierung jegliche Differenzierung innerhalb der Konfliktparteien einzuebnen, „lumping“ genannt. Diese Praxis erlaubt es, die jeweils anderen in ihrer Gesamtheit als Täter zu identifizieren. Sofern der Konflikt als ein globaler betrachtet wird, lässt sich dann auch die Weltpolitik als Ganze in Täter und Opfer einteilen. Dann geht es um ein globales lumping, das allem Anschein nach auch die aktuellen Studierendenproteste prägt.

Zweifelsohne ist die Wirklichkeit in Gaza und Israel eine hochkomplexe Gemengelage aus historischen Begebenheiten, Multiethnizität, Multireligiosität, machtpolitischen Kämpfen, fundamentalistischem Terror und schwer zu überblickenden Kampfhandlungen. Eine Positionierung gegenüber Israel erlaubt vielerlei Abstufungen, wie sie faktisch auch sichtbar ist. Derlei Differenzierungen kommen in den aktuellen Studierendenprotesten nicht vor, sie basieren auf einem vollständigen lumping, einer Einteilung der Welt in Opfer und Täter. Ein freier Diskurs, zumal ein universitärer und damit wissenschaftsorientierter, steht für das Gegenteil, er steht für das Herausarbeiten der Differenzen und Eigenheiten, für Komplexitätserfassung, für Perspektivenvielfalt, für das Wissen um Informationsmangel und somit eine Vorläufigkeit des Urteils.

An den aktuellen Protesten zeigt sich zudem etwas, das sich als „blurring“ betiteln lässt, ein gleichgültiges Verschwimmenlassen dessen, was genau das Protestziel sein soll. Fordert die Parole „Free Palestine!“ nur den israelischen Rückzug aus Gaza oder gar die Auslöschung Israels? Man erfährt es nicht, das Protestziel bleibt vage, ein hörbarer Diskurs darüber findet nicht statt. Durch diese Vagheit werden die Proteste zur Bedrohung für jüdische Studierende, denn ob sie in den Parolen als Täter mitgemeint sind, erfahren sie nicht – was die Bedrohung nicht abschwächt, sondern im Raum stehen lässt.

Weil innerhalb dieser Proteste kein deliberativer Diskurs stattfindet (das Protestziel gilt als ausgemacht), geht jede individuelle Stimme in ihnen verloren. Daher kann dort erstens niemand für sich sprechen. Es kann keine Rechtfertigung sein, für einen persönlich symbolisiere das rote, nach unten weisende Dreieck – ein genuines Symbol der Hamas – lediglich die Flagge Palästinas. Denn innerhalb des Protestes scheint es keinen Diskurs darüber zu geben, ob und wie man sich von der Hamas klar abgrenzt. Dasselbe gilt für die Parole „From the river to the sea!“, um dessen genaue Bedeutung und Nicht-Bedeutung sich niemand hörbar bemüht. In Berkeley konnten erschreckend viele Protestierende nicht einmal korrekt angeben, um welchen Fluss und welches Meer es geht.

Zweitens usurpiert in den vorliegenden, auf lumping und blurring basierenden Protesten die radikalste Interpretation die Deutungshoheit. Wenn jüngst der Revolutionsführer des Iran, Ali Khamenei, den Protestierenden in den USA und Europa versicherte, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, da sie für die Auslöschung Israels kämpften, weshalb erhebt sich unter den Protestierenden kein Abgrenzungsaufschrei dagegen? Das Moderate, sofern es vorliegt, lässt sich hier vom Radikalsten vereinnahmen, da alles andere eines mühsamen Abgrenzungsdiskurses bedürfte, den man offensichtlich scheut.

„Ich kann alle Protestierenden nur ermutigen, ihre Empörung und Wut außen vor zu lassen, weil anders das Erkennen von Komplexität und Perspektivenvielfalt nicht möglich ist und alles andere der Sache nicht gerecht werden kann.“


Wie ließe es sich besser machen? Es ist erklärtes Bildungsziel, dass es um die Herausbildung einer individuellen Stimme, um das Erarbeiten einer differenzierten Meinung und einer fundiert begründeten Haltung geht. All dies ließe sich auch innerhalb eines Protestes einlösen, wofür die 68er in Teilen als gutes Beispiel dienen. Aber dafür müssten die Proteste auf einen vielstimmigen und differenzierenden Diskurs aus sein, statt diesen als entweder abgeschlossen oder überflüssig zu erachten.

Von außen erhält man den Eindruck, als würden die Protestierenden mit ihren aktuellen Aktionen das Ende solcher Diskurse einläuten wollen, vor allem eines Diskurses mit Israel. Sie erklären durch die Art ihres Protestes das lumping und blurring zur neuen Leitmethode, um eine vermeintliche Gerechtigkeit zu erkennen und einzufordern. Ich kann daher alle Protestierenden nur ermutigen, ihre Empörung und Wut außen vor zu lassen, weil anders das Erkennen von Komplexität und Perspektivenvielfalt nicht möglich ist und alles andere der Sache nicht gerecht werden kann.

Das Erkennen sowie Anerkennen von Komplexität und Perspektivenvielfalt erfordert Besonnenheit, es erfordert gegenseitiges Zuhören und Abwägen von Argumenten, es erfordert das Zugeständnis, dass man sich irren könnte. Nur dann öffnet man den Diskurs für alle Stimmen, auch für die moderaten, vermittelnden und unbequemen. Erst in einer solchen Vielstimmigkeit gibt es eine Freiheit im Denken und Reden, wie sie die Universität auszeichnet.

Ein solcher Diskurs ist anstrengend, zeitraubend und oft auch ernüchternd. Aber er sollte immer die erste Wahl sein und nicht ein Protest, der glaubt, solche Diskurse hinter sich lassen zu können, weil sich die Frage nach dem Richtigen und Gerechten gar nicht mehr stelle. Sie stellt sich immer und ist nie abgeschlossen. Sofern ein Protest nicht auf Vielstimmigkeit und Deliberation aus ist, worauf denn dann jenseits von Provokation, Erpressung und Gewalt? //

Prof. Dr. Sascha Spoun

ist seit 2006 Präsident der Leuphana Universität Lüneburg. Zudem wirkt der Wirtschaftswissenschaftler als Gastprofessor für Universitätsmanagement an der Universität St. Gallen und ist seit 2021 Sprecher des Verbunds Norddeutscher Universitäten.

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