Science City
Wissen und Wissenschaft sind wichtige Ressourcen für die Stadtentwicklung. Darauf verwies schon 2011 der Stifterverband, der von 2005 bis 2012 den Wettbewerb „Stadt der Wissenschaft“ ausgelobt hatte. Seitdem haben sich immer mehr Kommunen gemeinsam mit der Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft vor Ort auf den Weg gemacht. Sie nutzen das vorhandene Wissen, um attraktiver zu werden.
Ein barockes Schloss, eine überschaubare City, ein öffentlicher Badesee in Gehentfernung vom Stadtzentrum – so stellt man sich keine Boom-Town vor. Trotzdem finden sich in Darmstadt, im südlichsten Zipfel Hessens, über 30 wissenschaftliche Einrichtungen, darunter international bekannte Institutionen wie das GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung oder die European Space Agency (ESA). Große Unternehmen wie der Pharmakonzern Merck, der Plexiglashersteller Röhm oder das Kosmetikunternehmen Wella haben hier ihren Firmensitz. Damit zieht die Stadt Fachkräfte aus ganz Deutschland an. Jeder vierte Arbeitnehmer hat mindestens einen Hochschulabschluss. Und mehr als jeder Vierte von insgesamt 167 000 Einwohnern studiert an einer der hier ansässigen vier Hochschulen. Als erste deutsche Kommune mit diesem Titel nannte sich Darmstadt 1997 offiziell „Wissenschaftsstadt“. „Und mit diesem Jahr endete der statistische Bevölkerungsrückgang“, sagt Marina Hofmann, Leiterin des Amtes für Wirtschaft und Stadtentwicklung. „Heute sind wir eine Schwarmstadt.“
Wissen als Motor für die Stadtentwicklung
Eine komfortable Situation, die andere Kommunen in Zeiten von demografischem Wandel, verödeten Innenstädten, Fachkräftemangel und schwindendem Einfluss von Industriestandorten neidisch machen könnte. Deshalb wies der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft 2011 in einem Positionspapier darauf hin, welch wichtige Rolle Wissen als Ressource bei der Stadtentwicklung spielt. Und dass die Stadt als Ballungsraum wiederum eine wichtige Rolle in der Wissensgesellschaft einnimmt: Denn Wissen, sowohl formelles aus Büchern wie auch informelles aus Erfahrungen, steckt in den Köpfen der Menschen. Und wo die aufeinandertreffen, entsteht im Austausch wieder neues Wissen und im Idealfall kommt es zu innovativen Ideen und Produkten. Einige Städte haben sich inzwischen auf den Weg gemacht, ihr vorhandenes Humankapital besser zu nutzen oder neues durch attraktive Strukturen anzuziehen.
Die Initialzündung war der Wettbewerb „Stadt der Wissenschaft“ des Stifterverbandes und der Deutschen Bank. In den Jahren 2005 bis 2012 bewarben sich rund 50 Kommunen mit ihren Konzepten, sieben wurden als jeweilige Jahressieger ausgezeichnet. Im letzten Förderjahr traten erneut 23 Städte an, von denen zehn mit einer Projektförderung von insgesamt 500 000 Euro bedacht wurden. Die Gewinner bewarben sich mit unterschiedlichen Konzepten, hinter denen im Wesentlichen vier Strategien standen. Diese wurden 2011 evaluiert, sind aber auch heute noch gängige Praxis, sagt Dr. Gero Stenke, Leiter und Geschäftsführer der Wissenschaftsstatistik im Stifterverband.
Vier Strategien
Da ist einmal der Event-Ansatz, der mit relativ kleinem Aufwand eine breite Öffentlichkeit mit wissenschaftlichen Themen erreicht. So reiste zum Beispiel im letzten Jahr unser Nachbarplanet Mars durch Deutschland. Der britische Künstler Luke Jerram bedruckte zu diesem Zweck eine Kugel mit sieben Metern Durchmesser mit Originalfotografien der NASA. „Mars findet Stadt“ hieß die Ausstellung mit Begleitprogramm. Sie war in neun Städten zu sehen, die dem Strategiekreis Wissenschaft in der Stadt (SK Wista) angehören.
Auf eine länger angelegte Verschiebung in der öffentlichen Wahrnehmung zielt der Image-Ansatz. Wie bei einer Marketing-Kampagne wird hier daran gearbeitet, das Bild einer Stadt mit neuen Begriffen zu verknüpfen. Oldenburg zum Beispiel versuchte im Vorfeld der Bewerbung um den Titel Wissenschaftsstadt 2009 als „Übermorgenstadt“ zu „neuer Urbanität“ zu finden. Und auch Bochum begleitet seinen Strukturwandel mit zielgerichteten Schlagworten.
Deutlich stärker fokussiert auf wissenschaftliche Inhalte ist der Cluster-Ansatz. Hier ermitteln Städte wie Münster oder Regensburg Schwerpunkte der in ihnen ansässigen Hochschulen und Forschungsinstitute, die sich gewinnbringend für Stadt, Wissenschaft und Wirtschaft ausbauen lassen und in Ansiedlung von Industrie oder Neugründung von Unternehmen münden.
Beim baulichen Ansatz schlägt sich das Engagement der Kommune ganz konkret in der Stadtarchitektur nieder. „Wer es sich leisten kann“, meint Gero Stenke, „gönnt sich ein Haus der Wissenschaft“, einen Begegnungsort, an dem Vernetzung, Transfer und Wissenschaftskommunikation stattfinden können. In Bremen, Braunschweig und Oldenburg, Titel-Gewinner von 2005, 2007 und 2009, sind solche Bauten entstanden: in Bremen mit klarer Breitenwirkung, eingebunden in die „Wissenswelten“, 19 Science Center und Museen, die sich über die Stadtgrenzen hinaus als touristische Besuchermagneten etabliert haben; in Bielefeld hingegen als Beitrag zu mehr innerstädtischer Lebensqualität.
Stabile Netzwerkstrukturen sind die Basis
Selten folgt eine Stadt nur einem Ansatz, oft finden sich mehrere dieser Strategien parallel. Basis des Ganzen ist aber immer eine stabile Netzwerkstruktur. Wissenschaftsstädte sind nach der Definition des Stifterverbandes nicht einfach nur Orte, denen die Ressource Wissenschaft durch günstige Fügung zufliegt. Es sind Orte, an denen Netzwerke zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Kommune geschaffen werden, in denen jeder Partner einen Vorteil für sich erkennen kann und somit der Fortbestand gesichert ist.
Das Beispiel Lübeck zeigt, was passiert, wenn diese Interessen auseinandergehen: 2012 wurde die Hansestadt zur Wissenschaftsstadt gekürt und richtete – mitfinanziert durch das Preisgeld in Höhe von 250 000 Euro – im gleichen Jahr ein erfolgreiches Wissenschaftsjahr unter dem Motto „Hanse trifft Humboldt“ aus. Durch ein Bürgervotum gelang es, die Medizinische Fakultät an der Universität zu Lübeck zu sichern und zwei Jahre später folgte als neue zentrale Anlaufstelle und Teil des Zukunftskonzeptes „Wissenschaftsstadt Lübeck“ im Haus der Kaufmannschaft das „Haus der Wissenschaft“. Doch schon 2017 wurde es wieder geschlossen, das erst 2009 aufgebaute städtische Wissenschaftsmanagement wieder eingestampft. Hansestadt und Hochschulen sähen keine Notwendigkeit mehr für eine „institutionalisierte Kooperation“, hieß es offiziell, zukünftig wolle man lieber in Einzelprojekten zusammenarbeiten.
Hinter dieser plötzlichen Kehrtwende stehen wohl in erster Linie finanzielle Erwägungen. Die eingeworbenen Stiftungsgelder seien als Projektförderung nicht auf die Finanzierung von Daueraufgaben angelegt gewesen, sagt die ehemalige Wissenschaftsmanagerin der Stadt, Dr. Iris Klaßen-Lippmann. „Hier geht es aber immer auch um Machtfragen“, meint Gero Stenke. Denn schließlich müsse man sich bei einer festen Partnerschaft zum gemeinsamen Nutzen auch immer auf Kompromisse einlassen. „Und für eine gut etablierte Hochschule stellt sich die Frage: Bin ich bereit dazu?“
Für die Städte liegen die Vorteile einer solchen Partnerschaft eher auf der Hand, denn sie müssen die Folgen einer sich wandelnden Gesellschaft schultern. Insgesamt 13 von ihnen waren deshalb bereit, gemeinsam das Benchmarking-Projekt „Science Score Card“ zu finanzieren. Die von 2014 bis 2016 laufende Studie half den teilnehmenden Kommunen, sich im Bezug auf Faktoren wie Studierendenzahlen, Gründungsintensität oder Drittmittelaufkommen der Hochschulen untereinander zu vergleichen. Daraus konkrete Handlungsempfehlungen abzuleiten, habe sich aber nicht ergeben, erklärt Gero Stenke. Denn eine Stadt wie Münster mit einem Wissenschafts- und Verwaltungsschwerpunkt zum Beispiel verfolge ganz andere Ziele als eine Ruhrgebiet-Stadt im Strukturwandel wie Bochum. Deshalb gebe es auch keine allgemeingültigen Erfolgsrezepte: „Es braucht immer eine auf den Handlungsort zugeschnittene Strategie“, so Stenke.
Fest steht: Dranbleiben lohnt sich
Dies man etwa am Beispiel Halle an der Saale sehen. Die Stadt, zu DDR-Zeiten ein Standort der chemischen Industrie, erlebte nach 1990 eine dramatische Deindustrialisierung, die Arbeitslosigkeit stieg auf bis zu 30 Prozent, die Einwohnerzahlen sanken. Aus der Krise half die alte Tradition als Bildungs- und Wissenschaftsstadt, meint Dr. Sabine Odparlik, Leiterin des Fachbereichs Wirtschaft, Wissenschaft und Digitalisierung der Stadt. Aus der Universität entstanden die ersten Ausgründungen, auf einem alten Armeegelände wurde ein großer Technologiepark eingerichtet. Institute der Helmholtz-Gemeinschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft und der Leibniz-Gemeinschaft siedelten sich an. Zwar scheiterte die Bewerbung als Stadt der Wissenschaft. „Doch dadurch haben wir an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft viele Dinge vorgedacht“, meint Odparlik. So seien nützliche Strukturen entstanden, „mit Leuten, die einander kennen und miteinander an einer Sache arbeiten, die nicht sofort Erfolg zeigt.“ Das zahlte sich aus bei der Bewerbung um ein EU-Leuchtturmprojekt, das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation. Denn der Antrag sah nicht nur den Nachweis eines entsprechenden Forschungsumfeldes mit internationalen Partnern vor, sondern auch Erfahrung mit Bürgerdialogen, bis hin zu einer Kinderbefragung zum Thema Zukunft. Dass die Kommune hier nicht bei Null anfangen musste, brachte im Wettbewerb um ein Bundesinstitut den Zuschlag. //
DUZ Magazin 05/2024 vom 23.05.2024