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Ist die Erinnerungskultur gescheitert?

Vermutlich wurde noch nie so viel Geld für Antisemitismus-Prävention und Erinnerungskultur ausgegeben wie heute. Gleichzeitig sind seit 1945 die antisemitischen Vorfälle nie so hoch gewesen. Der Antisemitismusexperte Joseph Wilson versucht, diese Diskrepanz zu erklären.

„Die einzige Erinnerungskultur, die es wirklich gibt, ist die des Gerüchts, das Jahrhundert für Jahrhundert, Generation für Generation weitergegeben wird, bis heute“, schreibt Michel Friedman in seinem jüngst erschienen Buch „Judenhass“ und rekurriert dabei auf Theodor W. Adornos berühmtes Zitat: „Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.“ Friedman kritisiert nicht nur, dass es nicht gelungen sei, „ein kulturelles Gedächtnis zu schaffen, auf das sich die jüdische Gemeinschaft verlassen könne“, sondern auch, „wie oberflächlich der Kampf gegen den Antisemitismus und Rassismus betrieben wird“. Seine Kritik reiht sich ein in zahlreiche Debatten der vergangenen Jahre, die die deutsche Erinnerungskultur zu ihrem Gegenstand haben: Historikerstreit 2.0, multidirektionale Erinnerung, Wiederaufbau des Berliner Schlosses, Post-Colonial- versus Shoah-Gedenken. Erinnerungsweltmeister? Versöhnungstheater!

Während in deutschen Feuilletons und auf Social Media heftig gestritten wird, stehen Akteure und Institutionen der Erinnerungskultur vor ganz faktischen Herausforderungen: Das Ende der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen rückt in unmittelbare Nähe. Sowohl unter Jugendlichen als auch Erwachsenen gibt es Wissenslücken in Bezug auf Opfergruppen, Fakten zur Geschichte und Orte der systematischen Ermordung – wie die Memostudien der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) zeigen. In einer postmigrantischen Gesellschaft fühlen sich viele mit ihren eigenen migrantischen Familiengeschichten häufig nicht in der deutschen Erinnerungskultur repräsentiert. 

Seit dem 7. Oktober 2023 ist der Diskurs um die Erinnerungskultur um ein Kapitel angewachsen. Denn der sprunghafte Anstieg des Antisemitismus in allen Bereichen des öffentlichen Lebens um 320 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (Bundesverband RIAS) – sei es im Internet, an den Hochschulen, in Kunst- und Kultureinrichtungen oder auf der Straße – erschüttert die deutsche Öffentlichkeit (oder zumindest Teile davon). Ist die Erinnerungskultur, das Lernen aus der Geschichte, angesichts der erschreckenden verbalen und physischen Gewalt gegen Jüdinnen und Juden gescheitert? Müssen wir folglich unsere Ansätze der historisch-politischen Bildung hinterfragen?

Die Antwort lautet: Jein!

Ja, sie ist gescheitert. Jüdinnen und Juden sind realen Gefahren ausgesetzt. Antisemitismus ist weiterhin virulent und die Bekämpfung des Antisemitismus (und des Rassismus) ist oberflächlich. Als Gesellschaft müssen wir unsere Ansätze hinterfragen. Und nein, weil Prävention und Bekämpfung des Antisemitismus nicht die „Funktion“ der Erinnerungskultur darstellt und die Erinnerungskultur per se kein Wundermittel ist. 

Es gilt zuweilen die Annahme, die Erinnerungskultur sei sozialer Kitt und demokratische Allzweckwaffe gegen jede Form von menschenfeindlicher und antidemokratischer Entwicklung. Als würde die bloße Auseinandersetzung mit der deutschen Gewaltgeschichte und der Präzedenzlosigkeit der deutschen Vernichtungsmaschinerie in einem Moment der pluralistischen Erleuchtung alle Menschenfeinde auf den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zurückholen. Antisemitisches Flugblatt im Rucksack gefunden? Ab in die Gedenkstätte! Antisemitische Aussagen auf dem Schulhof? Kollektives Stolpersteinputzen! Zunahme rechtsextremer Tendenzen in der Bevölkerung? Gemeinsamer Aktionstag am 27. Januar! Dieses performative Gedächtnistheater zur Wiedergutwerdung der Deutschen (Max Czollek) ist nicht nur höchst „gojnormativ“ (Judith Coffey und Vivien Laumann) – also die Funktionalisierung von Jüdinnen und Juden aus einer nicht jüdischen Perspektive –, sondern zuweilen auch uneffektiv in der Bekämpfung von Antisemitismus. 

Erinnerungskultur und Antisemitismusprävention sind keine Synonyme 

Gedenkstättenbesuche immunisieren nicht vollends gegen verschwörungsideologischen Antisemitismus. Historisch-politische Bildung verknüpft Antisemitismus eng mit Bezügen zum Nationalsozialismus und verkennt häufig Antisemitismus als Relikt der Vergangenheit. Dies kann zu Externalisierungsprozessen führen, die die Verantwortung für den gesellschaftlich existierenden Antisemitismus ausschließlich bei extremistischen Gruppierungen außerhalb des bürgerlichen Konsenses verorten. Wir müssen also unsere gesellschaftlichen Erwartungen an die Erinnerungskultur reflektieren und die häufige Gleichsetzung von historischer Wissensvermittlung und Bildungsarbeit gegen Antisemitismus hinterfragen. 

Die Ächtung von Antisemitismus nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, vor dem Hintergrund der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, führte zur Entstehung von subtileren und codierten Formen des Antisemitismus und einer erheblichen affektiven Wirkung, was eine viel differenziertere Auseinandersetzung mit den Phänomenen des Antisemitismus erfordert. Denn wie monokausale Erklärungsansätze um Ursache und Aufstieg des Nationalsozialismus kläglich scheitern, so scheitern eben auch monokausale Wirkungstheorien in der Bekämpfung des Antisemitismus. 

Antisemitismusprävention und -bekämpfung stellen folglich eine eigene Disziplin dar und dürfen nicht als Beiprodukt einer aktiven Erinnerungskultur gesehen werden. Sie erfordern Bildungsformate, die sich mit den spezifischen Erscheinungsformen des Antisemitismus auseinandersetzen, speziell dem sekundären und dem israelbezogenen Antisemitismus, und auch außerhalb der Schule und an den Gedenkstätten umgesetzt werden – wie es die Initiative „Informiert, couragiert, engagiert!“ der Stiftung EVZ vormacht. Antisemitismuskritische Bildungsarbeit endet nicht mit dem Schulabschluss. Es war eben nicht nur die 9b eines Gymnasiums, die nach dem 7. Oktober die Gräueltaten der Hamas als antikolonialen Widerstand gefeiert hat, sondern ein diverser Querschnitt der Gesellschaft. Insofern müssen antisemitismuskritische Bildungsarbeit und Strukturen auch in den Arbeitsplatz, in den Sportverein, ins Theater und in die Gewerkschaften einkehren und als notwendige Auseinandersetzung mit dem eigenen Antisemitismus anerkannt werden, wie es einige Institutionen bereits im Rahmen des EVZ-Förderprogramms „Strukturen schaffen gegen Antisemitismus“ umsetzen. 

Bevor nun aber der Eindruck entsteht, dass an dieser Stelle eine ahistorische Bildungsarbeit beworben wird, sei festgehalten: Antisemitismus bildete die Kernideologie des Nationalsozialismus. Selbstredend steht Antisemitismus in einem historischen Kontext, erfüllte damals wie heute antiaufklärerische Funktionen, richtete sich gegen alles „Jüdische“ und führte zur systematischen Verfolgung und Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Eine aktive, interdisziplinäre und multiperspektivische Erinnerungskultur leistet einen bedeutsamen Beitrag zur historischen Wissensvermittlung und gedenkt der Opfer nationalsozialistischen Unrechts, die nicht überlebt haben. Sie darf niemals Instrument einer deutschen „Wiedergutwerdung“ sein, sondern muss immer kritisch in Bezug auf Verantwortung und Kontinuitäten sein. 

Zurück zur Eingangsfrage: Ja, die Erinnerungskultur ist gescheitert – an unseren gesellschaftlichen Erwartungen und Hoffnungen. Es ist an uns allen, selbstkritisch über unsere Strategien gegen Antisemitismus und unsere Erwartungen an die Erinnerungskultur zu reflektieren, Antisemitismus als gesamtgesellschaftliche Herausforderung zu akzeptieren und jüdisches Leben in Deutschland zu schützen. //

Joseph Wilson 

ist Fachreferent in der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) im Cluster „Handeln gegen Antisemitismus“ und „Handeln mit jüdischen Selbstorganisationen“. Er hat Politikwissenschaften und Antisemitismusforschung an der Freien Universität Berlin, der Technischen Universität Berlin und der Tel Aviv University studiert. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten zählen strukturelle Ansätze der Antisemitismusprävention und -bekämpfung und kritische Erinnerungskultur. 

Foto. EVZ

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