Hochschulforschung als Spiegel der Veränderungen
Künstliche Intelligenz und Digitalisierung verändern einschneidend nicht nur Forschung und Lehre, sondern auch die Governance, Führung und Arbeitskultur. Warum sich die Leitungsebene damit intensiv auseinandersetzen und dabei die Ergebnisse der Hochschulforschung beachten sollte, erläutert IHF-Chefin Isabell Welpe im Interview.
Frau Professorin Welpe, das IHF betreibt seit 50 Jahren Hochschulforschung – mit dem Ziel, Forschung, Lehre und Governance der Hochschulen zu optimieren. Warum sind Ihr Tätigkeitsbereich und Ihre Forschungsergebnisse gerade heute so wichtig?
Im Grundsatz geht es darum, das bewährte System der Hochschulausbildung und Forschung an die sich wandelnden globalen, technologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen anzupassen. Digitalisierung, Virtuelle Realitäten (VR) und Künstliche Intelligenz (KI) stellen nicht nur global Gesellschaften vor neue Herausforderungen, sondern auch die Hochschulen, die darauf angemessen reagieren müssen. VR und KI werden zu einem epochalen Wandel in Hochschulen und Forschungseinrichtungen führen, weil sie die Art und Weise, wie wir forschen, lehren und lernen, grundlegend verändern werden. Dabei geht es nicht nur darum, bestehende Curricula zu ergänzen oder neue Studiengänge aufzulegen. Vielmehr müssen Lehren und Lernen ebenso neu gedacht werden wie Verwaltungsstrukturen oder Governance-Prozesse an Hochschulen – begleitet von Herausforderungen an die Forschungsfreiheit, Leitlinien guter wissenschaftlicher Praxis sowie gesetzliche Regelungen des Personal- und Arbeitsrechts. Gleichzeitig beobachten wir die Entwicklung, dass weltweit nicht staatliche Akteure in der Hochschulbildung an Bedeutung gewinnen, mit kürzeren, individualisierten und online durchgeführten Lehrangeboten. Diese Prozesse müssen wir durch Forschung begleiten und wir müssen entsprechende Handlungsempfehlungen für die Hochschulakteure formulieren.
Welchen Einfluss hat die Hochschulforschung auf die gesellschaftlichen und technologischen Herausforderungen, denen Hochschulen gegenüberstehen?
Die Hochschulforschung ist ein Spiegel der Veränderungen, die sich an Hochschulen an den Schnittstellen von Schule und Hochschule sowie Hochschule und Arbeitsmarkt vollziehen. Die Hochschulbildung ist in den letzten 50 Jahren deutlich expandiert und internationaler geworden. Die Herausforderungen vor 50 Jahren waren deutlich andere als heute. Vor über 50 Jahren ging es um Bildungsexpansion und die Aufgabe, die Hochschullandschaft so aufzustellen, dass sie möglichst viele Studierende ausbilden konnte. In diesem Sinne waren Standortplanung im Zusammenhang mit der Gründung von Hochschulen und die Berufsfelder von Absolventinnen und Absolventen bestimmter Studienfächer relevante Themen.
Was hat sich thematisch verändert?
Heute stehen Themen wie die Folgen der Digitalisierung für Lehre, Forschung und Verwaltung von Hochschulen, die Internationalisierung der Hochschulbildung sowie Führung und Governance auf der Agenda. Hinzu kommt, dass mit dem Anstieg der Drittmittelförderung ein gewaltiger Anstieg des wissenschaftlichen Personals verbunden ist. Auch die Kosten der Hochschulbildung steigen seit Jahren an, aber nicht die Gehälter der Absolventinnen und Absolventen. Ein Hochschulabschluss ist heute kein Garant mehr für ein höheres Einkommen oder ein besseres Leben. Fähigkeiten und Kompetenzen, die auch ohne Hochschulabschluss erworben werden, geraten bei Unternehmen für die mittleren und zum Teil auch höheren Qualifikationsstellen zunehmend in den Fokus. Das ertragen die Hochschulen bisher recht sorglos.
Inwieweit müssten sie hier umdenken?
Die Hochschulen sollten sich ernsthaft fragen, ob sie in Zukunft noch die richtigen Fähigkeiten vermitteln. Diese Entwicklungen werfen substanzielle gesellschaftliche Fragen auf, die das IHF in den nächsten Jahren im Rahmen seiner Forschungsprojekte begleiten wird. Forschung über und für Hochschulen hat gerade hier eine wichtige Daseinsberechtigung, weil aus den Ergebnissen der Forschungsprojekte Empfehlungen für das Handeln der Akteure in Politik und Hochschulen abgeleitet werden können. Lassen Sie mich das an einem Beispiel aus unserer Forschung deutlich machen: Über Hochschulräte stehen Hochschulleitungen in einem Austausch mit Akteuren aus Wirtschaft und Gesellschaft. Sie fungieren als Steuerungsinstrument der Hochschulen. In einem Forschungsprojekt am IHF untersuchen wir die Zusammensetzung und Vernetzung von Hochschulräten. Dazu erheben wir mittels einer Governance-Datenbank zentrale Merkmale von Hochschulräten bundesweit, um Zusammenhänge von Governance-Strukturen im Hochschulbereich identifizieren zu können.
Mit welchen besonderen Herausforderungen werden die Hochschulen in naher Zukunft konfrontiert sein?
Mit der Öffnung des höheren Bildungssystems für breite Bevölkerungsgruppen, mit der Migration und Internationalisierung gibt es Studienanfängerinnen und -anfänger mit recht unterschiedlichem schulischen Vorwissen und unterschiedlichen Kompetenzen. Bildungssysteme, die allen Lernenden ungeachtet von Interessen, Vorbildung und Begabung dieselben Lerninhalte in der gleichen Intensität im Unterricht vorsetzen, sind nicht mehr zeitgemäß. Lerninhalte, Lernformen und Lerngeschwindigkeit müssen individuell angepasst werden. Fundiertes Fachwissen ist für Hochschulabsolventen zwar immer noch wichtigste Kompetenzanforderung. Hinzu kommen aber auch komplexes Problemlösen, innovatives Denken, eigenverantwortliches Handeln, aktives Lernen, unternehmerisches Denken, kritisches Denken und Empathie als zentrale Fähigkeiten, um am Arbeitsmarkt zu bestehen.
Worin sehen Sie die radikalsten Veränderungen?
Lernen und Lehren wird zeitlich und räumlich flexibler, in realen und virtuellen Räumen. Der Zugriff auf Lernplattformen und Open Access wird die klassische Lernsettings vor Ort in Seminarräumen und Bibliotheken ablösen. Flexible Raumkonzepte passen sich an die jeweiligen Lernphasen an und bieten kollaboratives Lernen. Statt Stundenpläne wird es zunehmend modularisierte Angebote, projektbasiertes Lernen und die Möglichkeit geben, über asynchrone Lehreinheiten zeit- und ortsunabhängig Unterricht anzubieten und daran teilzunehmen. Der Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden wird wichtiger, wenn in Zukunft Lernsoftware und Bildungstechnologien die Aufgaben der Wissensvermittlung übernehmen und dabei ein neues Rollenverständnis der Lehrenden entsteht – vom „sage on the stage“ zum „guide by the side“. Die Lehrenden werden zu Mentoren, anstatt ihre Zeit auf Instruktion und Übung zu verwenden.
Was bedeuten diese Herausforderungen für das Management der Hochschulen?
Hochschulen und Hochschulleitungen müssen künftig flexibler, innovations- und gestaltungsfreudiger mit gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen umgehen können. Dazu gehört auch, dass Führungskräfte und Lehrende sich miteinander vernetzen, um voneinander zu lernen und sich zu unterstützen. Ein Beispiel dafür ist die 2021 gegründete Technische Universität Nürnberg (UTN). Mit ihrem interdisziplinären Ansatz zwischen Technik-, Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften soll sie einen bundesweiten Modellcharakter haben und ein völlig neues universitäres Denken entwickeln. Statt Fakultäten gibt es an der UTN Departments. Das Department Engineering umfasst technikwissenschaftliche Disziplinen. Das Department Liberal Arts and Sciences beheimatet Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften und Mathematik. Es werden interdisziplinäre Studiengänge angeboten, die von den Studierenden modular zusammengestellt werden können. In den Kursen wechseln sich Präsenz- und Online-Phasen ab und sie finden überwiegend auf Englisch statt. Denn nicht nur Lehren und Lernen werden zunehmend in internationalen und transnationalen Zusammenhängen angeboten, auch Lehrende und Beschäftigte müssen international mobiler werden. Dazu ist es notwendig, in Kooperationen personelle, finanzielle und strukturelle Ressourcen zu bündeln, national und international erbrachte Studienleistungen flexibler anzuerkennen und anzurechnen. Schon heute kooperieren Hochschulen weltweit mit den großen Anbietern von Massive Open Online Courses (MOOCs). Beim US-amerikanischen Online-Kurs-Anbieter Coursera, der Online-Kurse von Hochschulen streamt und verwaltet, bieten nicht nur das Massachusetts Institute of Technology (MIT) und die Stanford University ihre Kurse an, sondern auch die Technische Universität München, das Karlsruher Institut für Technologie und die Ludwig-Maximilians-Universität München. //
Prof. Dr. Isabell M. Welpe
hat den Lehrstuhl für Strategie und Organisation an der TUM School of Management der Technischen Universität München inne. Zudem ist die Wirtschaftswissenschaftlerin seit 2014 wissenschaftliche Leiterin des Bayerischen Staatsinstituts für Hochschulforschung und Hochschulplanung (IHF). Ihre Forschungsgebiete umfassen die digitale Transformation von Unternehmen, innovative Geschäftsmodelle, die Auswirkungen von digitalen Technologien auf Wirtschaft und Organisationen sowie die Zukunft von Führung und Arbeit. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher und wissenschaftlicher Artikel zu den Themen Digitalisierung, Blockchain, Digital Work Design, Diversity und Leadership.
Foto: IHF
DUZ Magazin 03/2024 vom 22.03.2024