Denker träumen seltener vom Geld aus Brüssel
Geistes- und Sozialwissenschaftler aus Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden besorgen sich mehr Geld für ihre Forschungsprojekte vom Europäischen Forschungsrat als ihre deutschen Kollegen. Woran liegt das?
Brüssel Seit 2007 fördert der ERC exzellente Grundlagenforschung in der EU mit verschiedenen Finanzprogrammen, den sogenannten Grants. Diese sind oft eine oder sogar mehrere Millionen Euro schwer und auf mehrere Jahre angelegt, um Forschern Pionierarbeit „an der Grenze des Wissens“ zu ermöglichen. Insgesamt heimst Deutschland dabei nach Großbritannien die meisten Grants ein. Allerdings ist das Land der Dichter und Denker vor allem stark in den Natur- und Lebenswissenschaften. In den Sozial¬ und Geisteswissenschaften hinkt es dagegen bei der Zahl der Grants nicht nur Großbritannien, sondern auch den Nachbarn Frankreich und den Niederlanden hinterher. Pernicka ist einer der relativ wenigen deutschen Forscher, die eine Förderung in der Kategorie Gesellschafts- und Sozialwissenschaften bekommen haben.
Rund 60 Projekte in Deutschland wurden vom ERC in der Kategorie Geistes- und Sozialwissenschaften zwischen 2007 und 2012 mit verschiedenen Grants gefördert. Während sich die Starting und Consolidator Grants an Nachwuchswissenschaftler richten, sind die Advanced Grants für Fortgeschrittene gedacht. Die Synergy Grants unterstützen Forschergruppen und das Proof of Concept soll helfen, Forschungsergebnisse marktfähig zu machen. Sieger Großbritannien kommt auf 207 Projekte, die Niederlande auf 78 und Frankreich auf 69.
„Den Forschern fehlt schlichtweg die Zeit für-die Forschung.“
Prof. Dr. Helga Nowotny, Präsidentin des ERC, sagt: „Großbritannien und die Niederlande liegen in absoluten Zahlen vor allem deshalb voran, weil von diesen Ländern auch mehr Einreichungen kommen.“ Aus Deutschland dagegen kämen vergleichsweise wenige Bewerbungen. Woran das liegt, kann Nowotny allerdings nur vermuten: „Im Vergleich zu den Niederländern und Briten scheinen die deutschen Kollegen in einer guten Ausstattungsposition zu sein. Außerdem gibt es hier recht viele Finanzierungsangebote auch vonseiten nationaler Organisationen wie der DFG.“ Schon seit Jahren seien Forscher aus England und Holland dagegen auf die Einwerbung von Drittmitteln angewiesen. Eine Antragskultur sei deshalb auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften seit Langem etabliert.
Alles eine Frage des finanziellen Drucks also? Dem stimmt Dr. Lutz Raphael zu. Der Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Trier, der auch Mitglied im Wissenschaftsrat ist, hat aber noch eine andere Erklärung, warum sich deutsche Geisteswissenschaftler seltener beim ERC bewerben. Niederländer und Briten hätten den Vorteil, ihre Anträge für die Grants in der Sprache zu stellen, die in ihrem Land Mutter- oder Wissenschaftssprache ist. „Aus der Perspektive deutscher Wissenschaftler ist die DFG-Förderung deshalb verlässlicher“, sagt Raphael.
Dennoch gibt es offenbar auch strukturelle Gründe, die es deutschen Geistes- und Sozialwissenschaftlern schwer machen, Zeit für umfangreiche Bewerbungen auf europäischer Ebene aufzubringen. „Die Grundausstattung der Universitäten, die Forschung ermöglichen soll, ist nach wie vor unzureichend“, beklagt Lutz Raphael. Die Studentenzahl nehme zwar zu, nicht aber die Anzahl an Stellen. „Den Forschern fehlt schlichtweg die Zeit für die Forschung, die sie verstärkt in der Lehre einsetzen“, sagt er. Die mangelnde finanzielle Grundausstattung der Hochschulen führe außerdem dazu, dass Nachwuchsforscher in den Geistes- und Sozialwissenschaften besonders in der Postdocphase nur mit Mühe und Not eine feste Stelle fänden.
Viele exzellente Sozial- und Geisteswissenschaftler hätten Deutschland bereits verlassen, berichtet Helga Nowotny. Statt für Deutschland würden sie ihren ERC-Grant jetzt in Großbritannien oder den Niederlanden einwerben. Auch das Bundesforschungsministerium sieht bei der Zahl der deutschen Grants in den Sozial¬ und Geisteswissenschaften „deutliches Steigerungspotenzial“. Unter anderem das neue Rahmenprogramm zur Förderung der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften soll deshalb dazu beitragen, die Wettbewerbsposition deutscher Forscher beim europäischen Forschungsrat zu verbessern.
Ernst Pernicka hat drei Anläufe gebraucht, bis er das ERC-Stipendium schließlich erhielt. Die Mühe hat sich gelohnt, sagt er und empfiehlt anderen, es ihm gleichzutun. Mindestens 700 Millionen Euro sind bisher vom ERC in die Förderung von geistes- und sozialwissenschaftlichen Projekten geflossen. Insgesamt werden zwischen 2007 und 2013 rund 18 Prozent des ERC-Gesamtbudgets von 7,5 Milliarden Euro in diesen Bereich gehen, heißt es. Das wären etwa 1,35 Milliarden Euro. Es ist also noch eine Menge Geld da – auch für deutsche Geistes- und Sozialwissenschaftler.
Philosophie-Professor Dr. Michael Quante
Aufwändige Anträge
„Es ist unsicher, ob sich der Einsatz lohnt“
Für deutsche Geisteswissenschaftler könnte der Aufwand für Förderung durch den Europäischen Forschungsrat zu hoch sein, meint der Philosophie-Professor Dr. Michael Quante.
duz: Herr Quante, wie erklären Sie, dass deutsche Geisteswissenschaftler bei den ERC-Programmen schlechter abschneiden als ihre Kollegen in Großbritannien oder den Niederlanden?
Quante: Ich kann darüber nur Vermutungen anstellen. Ich denke, dass englische und niederländische Forscher Vorteile bei der Bewerbung haben, da sie ihre Anträge in der Mutter- oder der im Land gesprochenen Wissenschaftssprache erstellen. Besonders bei den Geisteswissenschaften ist das von Bedeutung. Außerdem hat Deutschland vergleichsweise gute nationale Förderbedingungen. Forscher müssen also nicht zwingend auf die europäische Ebene gehen.
duz: Heißt das, die deutschen Geisteswissenschaftler sind europascheu?
Quante: Nein, das würde ich nicht sagen. Aber gerade die europäischen Förderanträge sind oft sehr aufwändig. Vor allem Nachwuchswissenschaftlern fehlt dafür die Zeit und es ist unsicher, ob sich der Einsatz lohnt.
duz: Werden Geisteswissenschaften im Vergleich zu Naturwissenschaften in Deutschland vernachlässigt?
Quante: Man kann das nicht vergleichen. In den Geisteswissenschaften werden weniger Mittel benötigt. Da sind 15.000 Euro eine Menge Geld, während das in den Naturwissenschaften nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Aber die Geisteswissenschaften leiden schon darunter, dass ihre Forschungsergebnisse oft nicht direkt ökonomisch verwertbar sind. Wichtig ist, dass nicht nur auf Einwerbung von Drittmitteln gesetzt wird, sondern dass die Grundfinanzierung der Hochschulen dauerhaft gesichert wird.
Das Gespräch führte Ulrike Thiele.
DUZ Europa 02/2013 vom 08.03.2013