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Die Reformfähigkeit Russlands überschätzt

Für verschiedene deutsche Universitäten hat unser Gastautor Martin Gross viele Jahre europäisch-russische Hochschulprojekte koordiniert. Anhand von Beispielen zieht er nun selbstkritisch Bilanz zu einer EU-Reformpolitik, die ins Leere lief. Was ist schiefgelaufen?

Im Mai 2023 hat Russland seine Teilnahme am Bologna-Prozess für beendet erklärt. Damit war ein Vorhaben gescheitert, das in den 1990er-Jahren mit großer Reformeuphorie begonnen hatte. Ich selbst habe seit 1998 viele Jahre als Koordinator in europäisch-russischen Hochschulprojekten gearbeitet, habe dieses riesige Land lieben gelernt und viele Menschen ins Herz geschlossen. Umso erschrockener muss ich feststellen, dass einige der ehemaligen Kolleginnen und Kollegen den aktuellen Ukraine-Krieg jetzt lautstark begrüßen. Es ist vielleicht nicht die Mehrheit von ihnen, aber doch eine starke Minderheit. Die anderen halten Distanz. Sie schweigen oder äußern vage „Sorgen“ oder „Bedauern“ und hoffen auf ein baldiges Wiedersehen. 

Im Folgenden will ich der teils antiwestlichen Stimmung der ehemaligen Kolleginnen und Kollegen nachgehen und sie zu verstehen versuchen. Eine Antwort wird nicht nur, aber auch in den Schwierigkeiten unserer Projekte zu finden sein. Ein Geburtsfehler war möglicherweise bereits, sie als „Reformprojekte“ zu definieren. Die russische Bevölkerung hatte im Laufe der 1990er-Jahre jedes Vertrauen in Reformen verloren. „Reform“ war ein Euphemismus für die rabiate Privatisierungspolitik von Boris Jelzin und die daraus folgende Verarmung. Wir nannten die 1990er-Jahre „Reformjahre“, die Russen nannten sie die „Katastrophenjahre“. Größer könnte ein Missverständnis nicht sein.

Hochschulkooperationen

Für eine Kooperation im Hochschulbereich hatte die EU das Tempus-Programm aufgelegt, das Reformprojekte mit bis zu 500 000 Euro auf drei Jahre finanzierte. Zunächst war Tempus ausschließlich an die Phare-Länder gerichtet, also an die beitrittswilligen Länder Mittel- und Osteuropas, deren EU-Integration unterstützt werden sollte (PHARE: Poland and Hungary Action for Restructuring of the Economy). Ab 1994 wurde Tempus auch für Tacis-Länder geöffnet(TACIS: Technical Assistance to the Commonwealth of Independent States), also für die ex-sowjetischen Staaten, die neuen GUS-Staaten wie Armenien, Georgien, Belarus und auch Russland. 

Dieser Ausweitung scheint mir eine zweite Fehleinschätzung zugrunde zu liegen: Stillschweigend wurden die GUS-Staaten den „beitrittswilligen Staaten“ gleichgesetzt, obwohl ein EU-Beitritt nicht auf deren Tagesordnung stand. In der Reformeuphorie der 1990er-Jahre hatte der Westen angenommen, ein Reformprozess in Russland verliefe ähnlich wie in Polen oder im Baltikum. Im Nachhinein erweist sich das als grundlegender Konstruktionsfehler. Die EU-Ziele lasen sich damals so: „Die Europäische Gemeinschaft (…) startete zwei Programme (PHARE und später TACIS), um die mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL) sowie die Länder der ehemaligen Sowjetunion bei ihrem Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft zu unterstützen und politische Stabilität in der Region zu gewährleisten. (...) Die Reform und der Umbau der Bildungsstrukturen und -systeme der Partnerländer war notwendig, um die Bürger/innen auf die Herausforderungen einer wettbewerbsorientierten Wirtschaft und ein Mehrparteiensystem, in dem die Zivilgesellschaft eine zunehmend größere Rolle spielen sollte, vorzubereiten.“ 

Hier sind nun alle – auch meine – Fehleinschätzungen aufgeführt: die Gleichbehandlung der Phare- und Tacis-Länder und die Annahme, auch Russland verwandle sich in eine westliche Gesellschaft mit Demokratie, Marktwirtschaft, Mehrparteiensystem, Zivilgesellschaft.

Das Konzept, Russland in diesem Prozess unterstützen zu wollen, setzt voraus, dass Russland die genannten Ziele von sich aus überhaupt erreichen will. Weil dies im erwünschen Maße nicht der Fall war, wurde aus der Unterstützung bald ein Imperativ: „Entwickle Demokratie und Zivilgesellschaft!“ Aus Kooperation wurde Anpassungsdruck. So etwas schafft Missstimmung. 

Das Missverständnis der Reformbereitschaft 

Europäische Fördermittel gab es nur, wenn eine „Reformrelevanz“ ausgewiesen und „innovative“ Ergebnisse definiert wurden. Worin sollten die Reformen bestehen? Als mögliche Ergebnisse formulierte die EU: „neue Studienpläne, Unterrichtsmethoden und didaktisches Material; Schulungen für das Management und das Personal der Universität“. [4] In unseren Projekten experimentierten wir mit neuen Studieninhalten und Lernformen (weniger auswendig lernen, mehr Anwendungskompetenzen, individuelle Studienplanung, selbstbestimmtes Lernen). Unausgesprochen bedeutete das für die russische Seite: Anpassung an die Hochschulstandards des Westens. Auch der Vorschlag, „Schulungen“ durchzuführen, zielt ja auf eine Kommunikation, in der eine Seite über Wissen und Kenntnis verfügt, die sie an die andere Seite weitergibt. „Schulungen“ sind eine Art Nachhilfeunterricht. Und Nachhilfe ist hegemonisch, auch wenn sie als „Reformunterstützung“ verkauft wird. Ich kann mir also gut vorstellen, woran sich manche russischen Kolleginnen und Kollegen erinnern, wenn Wladimir Putin von der Hegemonie des Westens spricht. Das rechtfertigt in keiner Weise diesen Krieg, erklärt aber ein wenig, warum manche ihn für gerechtfertigt halten. 

Problemanalyse

Projektanträge beginnen in der Regel mit der Aufforderung: „Analysieren Sie Probleme und Bedarf des Partnerlandes.“ Europäische Reformpolitik ist problemorientiert, sie will Probleme analysieren und anpacken. Im Falle der von mir betreuten Projekte tauchte zum Beispiel das Problem von straffälligen Jugendlichen auf. Eine Kooperation von Sozialwissenschaftlern und Sozialeinrichtungen aus der Praxis hätte günstige Förderaussichten gehabt. Die russischen Partner waren für ein solches Projekt, ihre vorgesetzten Behörden in der Stadt- oder Regionalverwaltung eher nicht. Es gab eine verständliche Abneigung gegen Fremde, die in den heimischen Problemzonen herumschnüffelten und dann auch noch die ideale Problemlösung aus dem Hut zauberten, „sozialpädagogisch betreute Jungendcamps“ zum Beispiel. Ich kann mich erinnern, wie unbehaglich sich mancher russische Kollege gefühlt hat, wenn er mir als einem Deutschen die Defizite seines Landes beschreiben sollte.

Spezifische, messbare Ergebnisse

Ein weiterer Anspruch der Reformprojekte war, dass sie zu Ergebnissen führen sollten, die spezifisch, messbar, attraktiv und prüfbar waren. Das setzt jedes Projekt unter enormen Druck. Man kann sich nicht einfach zusammensetzen und Erfahrungen austauschen, jeder Dialog muss ein spezifisches, innovatives Ergebnis haben: neue Studieninhalte, Curricula, Lehrmethoden. 

In einem dreijährigen Projekt zur „Drogenhilfe“ hatten wir die Idee, für sozialpädagogische Studiengänge ein Modul zu erarbeiten, das die russische Drogenprävention durch Elemente von Drogenhilfe ergänzen sollte. Wissenschaftler und Studierende sollten für den Umgang mit Süchtigen vorbereitet werden, der ja bisher tabu gewesen war. Im ersten Projektjahr wurden deshalb eine Reihe von „Schulungen“ für russische Sozialarbeiter und Sozialwissenschaftler durchgeführt. Es ging um „niedrigschwellige Angebote“ und „Motivation für einen Ausstieg schaffen“. Wir sprachen über „Infektionsrisiko“ und „Schuldenrisiko, Kriminalität, soziale Isolierung, Rechtsberatung“. Aber mit jedem dieser Begriffe für ein Studienmodul „Drogenhilfe“ wurde unwahrscheinlicher, dass es je unterrichtet werden würde. Das Hauptproblem: Es hat keinen Sinn, die Beratung von Süchtigen zu planen, solange sie offiziell als Kriminelle und nicht als Bedürftige angesehen werden. So gesehen waren unsere Workshops nur eine Leistungsschau des Westens: Seht her, was wir den Süchtigen zu bieten haben. Die Europäer (und auch ich) entsprechend selbstbewusst bis überheblich; die Russen verbittert. 

Fazit: Am Ende war zwar ein Modul „Drogenhilfe“ für sozialpädagogische Studiengänge erarbeitet, der Auftrag war erfüllt; das Ergebnis war „spezifisch und prüfbar“, aber das Modul verschwand bald wieder aus den Lehrplänen. 

Unterrichts- und Lernmethoden

In einem dreijährigen Projekt zur Reform des Jurastudiums stießen wir ab 2002 auf das russische System des „Staatsstandards“: Er schreibt für alle Fächer und Studienjahre minutiös Inhalt und Umfang der Seminare fest. Daraus ergibt sich für alle Studierenden ein verbindlicher Stundenplan, etwa so: Montag, 8.30 Uhr: Verkehrsrecht I; 10.00 Uhr: Strafrecht I; 12.30 Uhr: Familienrecht II. So geht es durch die Woche mit 26 bis 34 Unterrichtsstunden, entsprechend gering sind die Zeit für individuelles Arbeiten und die Möglichkeiten, bestimmte Fachgebiete zu vertiefen oder abzuwählen. 

Unser Projekt stieß schnell an Grenzen: Wie sollten neue Lehrinhalte integriert werden, wenn der wöchentliche Stundenplan bereits überfüllt war? Wir konnten ein bisschen tricksen, hier und da ein paar Stunden reduzieren, um ein wenig Freiraum für die geforderten „neuen Lehrinhalte“ zu schaffen. Das war aber ohne Nachhaltigkeit. Die Freiräume waren schon im nächsten Studienjahr wieder aus dem Programm gefallen. 

Mobilität

Mobilitäten, also Auslandsaufenthalte von Studierenden, sind eines der zentralen Anliegen einer EU-Hochschulpolitik. In einem unserer Projekte sollten russische Studierende die Möglichkeit erhalten, drei Monate an einer europäischen Uni zu studieren. Dem genannten Staatsstandard folgend hätten sie aber an der europäischen Gastuniversität exakt jene Seminare besuchen müssen, die an der Heimatuniversität für diese Zeit vorgesehen waren. Das führte einen Auslandsaufenthalt ad absurdum, weil dort ja gerade das studiert werden konnte, was zu Hause nicht angeboten wurde. Viel zu ambitioniert und zum Scheitern verurteilt war deshalb der Versuch einer Anpassung an das europäische Mobilitätssystem, das vorschreibt, an der Heimatuniversität alle Studienleistungen anzuerkennen, die Studierende an der Gastuniversität erarbeitet haben – als Äquivalent für heimische Leistungen, also ohne „Nachholpensum“. 

Die Studierenden in unserem Projekt, die drei Monate im Westen waren, standen also unter widersprüchlichen Geboten: Während das EU-Mobilitätsprogramm forderte, dass sie zu Hause keinen Unterrichtsstoff nachholen sollten, forderte der russische Staatsstandard Belege, dass sie die zu Hause geforderten Seminare besucht und die entsprechenden Prüfungen abgelegt hatten. Ein weniger ambitioniertes Verfahren wäre gewesen, für Studierende beider Seiten mehrwöchige Summerschools anzubieten, in denen sie das jeweils andere Hochschulsystem hätten kennenlernen können. Das wäre aber weniger „reformrelevant“ und „innovativ“ gewesen und damit eher nicht förderfähig. 

Unterrichtstraditionen

In unseren Projekten versuchten wir, das individuelle Lernen zu stärken, das heißt: den „lehrerzentrierten Unterricht“ zu ergänzen durch „schülerorientierte Lehre“ wie autonomes und exemplarisches Lernen, Teamarbeit oder Mood Courts. Für die Russen klang das alles ein wenig nach Spielerei und Zeitverschwendung. 

In Seminaren zur deutschen Literatur haben wir zum Beispiel versucht, mit den Studierenden ins Gespräch zu kommen: wie ihnen ein bestimmter Roman gefällt, ob sie die Handlung plausibel finden, wie sie sich die Reaktion bestimmter Protagonisten erklären – kurz: Wir haben versucht, einen individuellen und subjektiven Zugang zur Literatur zu schaffen und zu reflektieren. Die Reaktion war: Warum zieht ein deutscher Dozent seine Studierenden ins Gespräch, statt ihnen einfach zu sagen, was sie bei der Prüfung wissen müssen: Geburtsdatum des Autors, dessen politischer Standpunkt, Aussage des Romans, mögliche Literaturpreise und so weiter? Die Studierenden fühlten sich in dialogorientierten Seminaren unsicher. Sie hielten es für „Zeitvergeudung“, nach subjektiven Einschätzungen zu fragen: „Es geht doch niemanden etwas an, was ich über einen Roman denke. Ich will wissen, welche Fragen in der Prüfung zu beantworten sind.“ Fazit: Mit den Lehrmethoden müssen auch die Prüfungsmethoden „reformiert“ werden und dies im Einklang mit dem Staatsstandard. Mit neuen Lernmethoden zu experimentieren, ist ein sehr langer Prozess, kurzfristig aber kein spezifisches und nachprüfbares Ziel. 

Finanzfragen 

Die EU steht bei ihren Bürgern im Verdacht, Gelder zu verschwenden. Umso härter fordert sie eine minutiöse Belegpflicht für alle Projektausgaben wie Reisen, Gehälter und Material. Für Manager eines Projektes bedeutet dies, dass sie zu Kontrolleuren werden. Das ist gegenüber deutschen Teilnehmenden schon unangenehm, für russische Partner ist es oft inakzeptabel. Warum ist ein Kollege mit dem Taxi zum Flughafen gefahren statt mit der Metro? „Erklären Sie bitte, belegen Sie bitte.“ Oder: „Wo steht der aus Projektmitteln erworbene Drucker?“ In solchen Momenten entsteht Unmut. Als Ausländer schaut der Projektmanager seinen russischen Kollegen auf die Finger. Das hat für die russischen Partner etwas Entwürdigendes – zumal, wenn sie nach den beschriebenen Problemen dem Projekt ohnehin schon skeptisch gegenüberstehen. Man kann dies vorläufig mit ein paar Freundlichkeiten übertünchen, mit der Zeit verdichtet es sich aber zu einem generellen Unbehagen gegenüber dem Westen. 

Fazit

Die Liste der Beispiele ließe sich noch verlängern. Allen gemeinsam ist, dass sie auf einer Fehleinschätzung der Reformmöglichkeiten beruhen. Sie entspringen (auch meinerseits) einem übermäßig forcierten Bemühen, Russland in den europäischen Hochschulraum zu intergieren, also an EU-Standards heranzuführen. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Die Analyse der Fehler auf westlicher Seite ist keine Rechtfertigung für den Krieg oder die Kriegsbegeisterung. Ein Blick in die Geschichte einer verfehlten Reformpolitik macht aber deutlich, warum viele russische Kollegen Putins Abwendung vom Westen und seinen Vorwurf des Hegemonismus akzeptieren. Die überambitionierten, teils überheblichen Bemühungen um eine Europäisierung Russlands sind ein unrühmlicher Beitrag zur Vorgeschichte des Krieges. 

Wie könnte es jetzt weitergehen? Wie kommen wir wieder miteinander ins Gespräch? Vorerst wird nicht mehr möglich sein, als persönliche Kontakte zu halten, zum Geburtstag zu gratulieren, wissenschaftliche Tipps austauschen, zu überwintern. Längerfristig wird man niedrigschwellige Kooperationsformen bevorzugen. Keine Hegemonie, keine Anpassung, keine ehrgeizigen Ziele, lediglich ein Erfahrungsaustausch, ein paar Besuche, Gesprächsrunden, gemeinsame Publikationen. Solche Projekte sind dann als Low-Budget-Projekte auch weitgehend befreit von finanziellen Kontrollen. Die Russen, die uns besuchen, übernehmen ihre Reisekosten, wir übernehmen die Kosten für Unterkunft und Verpflegung. Kein Russe muss sich auf die Finger sehen lassen. //

​Martin Gross 

Für die Universitäten Lüneburg, Hannover und Köln hat Martin Gross von 1998 bis 2016 als Projektkoordinator gearbeitet, überwiegend in der Zusammenarbeit mit russischen Partnern. Nach dem Scheitern der Ost-West-Annäherung hat er seine Erfahrungen in zwei Romanen beschrieben: „Ein Winter in Jakuschevsk“ und „Nadjas Geschichte“.

Foto: Jan Groh / Verlag Sol et Chant

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