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Die Schweiz ist raus

Seit zwei Jahren ist die Schweiz nicht mehr Teil des EU- Forschungsprogramms Horizont Europa. Die Schweizer Regierung kompensiert die finanziellen Einbußen. Die Folgen des Ausschlusses sind für Forschung und Wirtschaft dennoch gravierend.

Es sind traurige Zahlen, die die EPFL (École Polytechnique Fédérale de Lausanne) auf einer eigens dafür geschaffenen Website unter der Überschrift „Monitoring the non-association to Horizon Europe“ präsentiert: Im Jahr 2020 koordinierten noch sechs EPFL-Wissenschaftler Projekte, die über das EU-Forschungsprogramm Horizont Europa gefördert wurden. In den Jahren 2021 und 2022 waren es keine mehr. Zudem nehmen immer weniger Wissenschaftler an EU-Projekten teil: Im Jahr 2020 waren es noch 184 EU-Projekte mit EPFL-Beteiligung, im Jahr 2022 nur noch 130. Bei den Mobilitätsprogrammen der Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen (MSCA) ging die Teilnehmerzahl im gleichen Zeitraum von 61 auf 32 runter. „Die Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Forschung werden sich erst langfristig bemerkbar machen, aber die ersten Anzeichen einer Erosion sind bereits zu erkennen“, bilanziert die EPFL auf der Webseite. 

Die Tendenzen, die sich aus dieser transparenten Darstellung der EPFL ablesen, sind kein Einzelfall für die Schweizer Hochschullandschaft. Seitdem die Schweiz im Sommer 2021 von Brüssel als nicht assoziierter Drittstaat eingestuft wurde, ist die Teilnahme an Einzelstipendien des Europäischen Forschungsrats ERC (European Research Council), der Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen oder des Accelerators des Europäischen Innovationsrats EIC (European Innovation Council) nicht mehr möglich. Auch der Zugang zu Programmen wie Digital Europe, Euratom und ITER ist versperrt. Besondern schmerzlich ist der Ausschluss von den millionenschweren und prestigeträchtigen ERC Grants. „Es zeigt sich schon jetzt, dass Forschende nicht mehr in die Schweiz kommen und bleiben wollen. Sie nehmen eher eine Stelle in der EU an, wo der Zugang zu den ERC Grants sichergestellt ist“, sagt die Generalsekretärin des Hochschulverbands swissuniversities Dr. Martina Weiss. Dies habe nachhaltig negative Auswirkungen auf die Qualität des Schweizer Hochschulraums. So berichtete etwa die Universität Bern davon, dass sich im Jahr 2021 von vier Forschenden, die den Zuschlag für einen ERC Starting Grant erhalten hatten, eine Person dafür entschied, Bern Richtung einer anderen europäischen Universität zu verlassen. Die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich verließen 2021 zwei von elf der ERC-Starting-Grant-Stipendiaten.

Schmerzlich: Der Ausschluss von den ERC-Grants

Hin- und hergerissen ist Prof. Dr. Nicolò Defenu, Wissenschaftler am Institut für Theoretische Physik der ETH Zürich. Er hatte einen ERC Starting Grant eingeworben, den er nächstes Jahr im April antreten müsste. Dafür müsste er jedoch die ETH Zürich verlassen. Parallel dazu hat er aber die Zusage des schweizerischen Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SFBI) in der Tasche, dass diese das für den ERC eingereichte Projekt fördern würde, sollte er an der ETH Zürich bleiben. „Der Standort Schweiz und insbesondere die ETH Zürich bieten viele Vorteile: Die Forschungsinfrastruktur ist super, die Karriereaussichten sind gut und die Gehälter sind attraktiv“, sagt er. Zudem sei er in seiner Forschungsrichtung unabhängig und müsse weniger Verwaltung übernehmen. Dagegen spreche, dass der ERC die Möglichkeit biete, sich ein gutes Netzwerk aufzubauen. Dass der ERC prestigeträchtig ist, sieht er auch. Allerdings: „Das Prestige ist nicht so relevant für mich, ich will einfach nur meine Forschung machen“, sagt er. 

Wählen können die ERC-Preisträger, weil sich das SFBI sehr schnell bereit erklärt hatte, Mittel für die Übergangs- und Ergänzungsmaßnahmen bereitzustellen. So können beispielsweise ERC-Preisträger schweizerischer Einrichtungen, die in der Schweiz bleiben wollen, beim SBFI die Mittel in gleicher Höhe beantragen. Für das Jahr 2023 hatte der Bundesrat als Ausgleich für Horizon Europe, Euratom-Programm, ITER und das Programm „Digitales Europa“ umgerechnet rund 625 Millionen Euro bereitgestellt. Darüber sind die Hochschulakteure in der Schweiz froh. Der Rektor der Universität Bern, Prof. Dr. Christian Leumann, sagt: „Das SBFI hat sehr gut reagiert, weil es schnell Übergangs- und Ergänzungsmaßnahmen aufgebaut und geplant hat. Dadurch entsteht uns bei den ERCs kein finanzieller Verlust.“ Dann folgt mit Blick auf das Binnenklima an seiner Universität das große Aber: „Die Wissenschaftler wissen, dass es nicht dasselbe ist, denn die SFBI-Gelder sind letztlich nur eine Ersatzmaßnahme für den entgangenen ERC. Viele fühlen sich deswegen ausgeschlossen von der Spitzenförderung“, schildert er. Der Berner Rektor bringt dafür einen Vergleich aus dem Fußball: „Wir spielen nicht mehr in der Champions League oder der Europa League, sondern nur noch in der nationalen Liga. Deswegen sind wir als Universität weniger attraktiv für exzellente internationale Wissenschaftler.“ Etablierte Forschende seien beispielsweise frustriert, weil sie sich nicht mehr für ERC Advanced Grants bewerben können. Sie überlegten deswegen, die Uni zu wechseln.

In Zürich leitet Sofia Karakostas gemeinsam mit Agatha Keller „EU Grants Access“, eine gemeinsame Beratungsstelle der ETH Zürich und der Universität Zürich. Sie beraten Forschende dabei, Drittmittel aus internationalen Förderprogrammen einzuwerben. Dass sich so manch Forscher künftig gegen die Schweiz aussprechen könnte, sei aus deren Sicht plausibel: „Die ERC Grants spielen in einer anderen Liga: Das Panel, das über die Vergabe entscheidet, ist international und breit organisiert. Das hat einen anderen Stellenwert als die national organisierten Panels“, sagt Karakostas. Hinzu kommt: Bei den ERC Starting Grants gibt es eine Altersgrenze, sie liegt bei maximal sieben Jahren nach der Promotion. „Irgendwann ist der Zeitpunkt verstrichen, ein solches Stipendium zu bekommen. Deswegen trifft die Nicht-Assoziierung zwar alle Wissenschaftler, den wissenschaftlichen Nachwuchs aber noch härter als arrivierte Wissenschaftler“, urteilt sie. 

Der fehlende Zugang zum ERC ist ein gravierender Nachteil, der den Wissenschaftsstandort Schweiz empfindlich trifft. Ein anderer: Weil Schweizer Forschende keine Koordinationsfunktion mehr bei Forschungsprojekten von Horizont Europa übernehmen dürfen, werden sie von internationalen Netzwerken ausgeschlossen. Das zeigt sich nicht nur an den Zahlen der EPF in Lausanne, sondern auch in Bern. Dort mussten offenbar frustrierte Wissenschaftler die Leitung von vier Verbundprojekten abgeben. Im Züricher Beratungsbüro kann Karakostas den Unmut der Wissenschaftler verstehen, den auch sie in Gesprächen vernimmt: „Natürlich ist es ein Problem, wenn exzellente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Idee entwickelt haben, die sie dann auch als Koordinator in dem Projekt umsetzen möchten. Das möchte verständlicherweise niemand so einfach anderen überlassen“, sagt sie. 

Schweizer Hochschulen kämpfen gegen Misere an

Die Schweizer Hochschulen versuchen, gegen die Misere anzusteuern. „Wir glauben an den europäischen Forschungs- und Bildungsraum und wollen Teil dessen sein, denn die europäischen Netzwerke können durch nichts ersetzt werden“, sagt die Präsidentin von swissuniversities Dr. Luciana Vaccaro, Rektorin der Fachhochschule Westschweiz HES-SO. Sie weist darauf hin, dass sich derzeit zehn Schweizer Hochschulen an den Europäischen Hochschulallianzen beteiligen. Die Universität Bern ist zum Beispiel seit Kurzem Teil der Hochschulallianz Enlight, mit der Diversität und Inklusion gestärkt werden sollen. Zudem setzen die Berner auf die Mitgliedschaft im europäischen Hochschulnetzwerk „The Guild of European Research-Intensive Universities“. In Zürich versuchen Karakostas und Keller durch die Beratung, unter den Wissenschaftlern Informationsdefizite und Missverständnisse zu beseitigen. „Die Teilnahme an den EU-Projekten ist für Forschende in der Schweiz ja weiterhin möglich, sie dürfen eben nur nicht mehr Projekte koordinieren“, sagt Karakostas. Denkbar sei zum Beispiel, dass die Forschenden wichtige oder große Work Packages übernehmen. „Die derzeitige Unsicherheit führt dazu, dass die Forschenden zurückhaltend sind und sich generell weniger an EU-Programmen beteiligen“, sagt sie.

Letztlich ist die Wissenschaft aber abhängig von der Politik. „Die Wissenschaft ist Teil eines größeren Spiels“, sagt swissuniversities-Präsidentin Vaccaro. Eine Vollassoziierung, wie es Anfang September nun Großbritannien gelang, ist für die Hochschulen aus ihrer Sicht zu jedem Zeitpunkt wichtig, also auch gegen Ende der laufenden Programme. „Damit könnte eine weitere Schwächung des Bildungs-, Forschungs- und Innovationsstandorts Schweiz vermieden werden.“ Allerdings, so urteilt der Berner Rektor Leumann, spüre er bislang „sehr wenig Bewegung“ auf dem politischen Parkett. Doch die Zeit drängt, denn nächstes Jahr ist bereits Halbzeit bei Horizont Europa. „Brüssel redet mit Neuseeland, mit Kanada und anderen Staaten außerhalb Europas, aber nicht mit uns. Mit anderen Staaten gibt es durchaus Bewegung in den Verhandlungen, obwohl wir im Zentrum von Europa liegen und eine sehr gute Forschungsinfrastruktur haben.“ Der Blick der Schweizer Hochschulchefs richtet sich nun aber erst einmal auf den 22. Oktober, dann stehen in der Schweiz die Parlamentswahlen an. „Wir hoffen sehr, dass die Politik bald Verhandlungslösungen findet, denn es sind mit Brüssel auch noch andere Abkommen neu zu regeln“, sagt Vaccaro. Sie weist auch auf die EU-Parlamentswahlen im Juni nächsten Jahres hin. „Unsere Sorge ist deswegen, dass dieses Thema bis dann keine Priorität genießt.“ In Brüssel gibt man sich derzeit recht wortkarg: „Die derzeitigen Sondierungsgespräche über die Zukunft unserer Beziehungen beinhalten einen Korb von Vorzeigeprogrammen der EU im Bereich der Forschung und darüber hinaus“, sagte ein Kommissionsprecher. Er sei Teil eines umfassenderen Pakets, über das die EU hoffentlich in den kommenden Monaten eine politische Einigung erzielen werde. Ein positiver Ausgang der Sondierungsgespräche könnte die Tür für die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit in Forschung und Innovation öffnen.

Die Innovationskraft der Wirtschaft leidet

Doch es ist nicht nur die Wissenschaft, die leidet. Auch die Wirtschaft könnte die Folgen zu spüren bekommen. „Unsere Industrien sind ganz besonders auf Exzellenz in Forschung, auf Kooperationen von akademischer und industrieller Forschung sowie auf die Förderung von Start-ups angewiesen. Die fehlende Vollassoziierung an Horizon Europe kostet Innovationskraft und schmälert damit das Potenzial für künftige Produktinnovationen und wirtschaftliches Wachstum“, erklärt zum Beispiel Dr. Stephan Mumenthaler, Direktor von scienceindustries. Der Wirtschaftsverband bringt Unternehmen der chemischen Industrie, der Pharmaindustrie und der Biotechnologie in der Schweiz zusammen. Die Zusammenarbeit in den Netzwerken zwischen Wirtschaft und Wissenschaft ist laut Mumenthaler zentral für Forschung und Entwicklung. „Die Gründung neuer hochinnovativer Unternehmen und Start-ups würde vermehrt außerhalb der Schweiz stattfinden“, sagt er. Der Schweizer Standort könne nur an der Weltspitze mithalten, wenn es gelinge, die Attraktivität, Innovationskraft und Reputation als Forschungsplatz zu halten. Der Schlüssel dazu: Der Zugang zu den europäischen Forschungsprogrammen. //

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