Kriege enden meist am Verhandlungstisch
Das von der Friedensforscherin Thania Paffenholz entwickelte Konzept des „perpetual peacebuilding“ (fortlaufende Friedenserhaltung) mobilisiert gesellschaftliche und politische Kräfte, um eine politische Kultur zu entwickeln, in der Konflikte gewaltfrei ausgetragen werden.
Frau Paffenholz, Sie erforschen, beraten und begleiten Friedensprozesse in der ganzen Welt. Warum haben Sie sich für diese Aufgabe entschieden?
Während meiner vielfältigen Tätigkeiten als Friedens- und Konfliktforscherin musste ich feststellen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eigentlich immer nur für eine kleine Zuhörerschaft in Journals oder In-Gruppen Erkenntnisse veröffentlichen, obwohl diese relevant wären, um die Welt zu verändern. Während meiner UN-Missionen und meiner Arbeit für die Europäische Union und für das Schweizer Außenministerium habe ich erfahren, wie wirkungsvoll eine Zusammenarbeit mit kirchlichen Kreisen und der Zivilgesellschaft sein kann. Wenn es darum geht, wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Friedens- und Konfliktforschung umzusetzen, kann man mit ihnen sehr viel verändern. Darum forschen wir bei Inclusive Peace nicht nur über Friedensprozesse, sondern beschäftigen auch Menschen, mit denen wir unsere Erkenntnisse umsetzen können. Unsere Forschungsteams sind von diesen Prozessen nicht abgekoppelt, sondern eng mit den Akteuren vor Ort verzahnt. Wir schauen dabei genau hin: Was brauchen die Akteure, mit welchen Papieren, Informationen und Wissen können wir sie beratend unterstützen? So war mein Kollege vor Kurzem etwa in Äthiopien und hat dort mit den unterschiedlichen Kirchen und dem Muslim Council diskutiert, welchen Beitrag die Kirchen und religiösen Akteure für den nationalen Dialog leisten können, der gerade auf politischer Ebene entsteht.
Der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in Politik und Gesellschaft ist kein leichtes Unterfangen und scheitert häufig. Warum ist das bei Ihnen offensichtlich anders, was sind Ihre Erfolgsfaktoren?
Ein ausschlaggebendes Element sind die vielen Netzwerke, die uns anfragen. Wir werden angesprochen aufgrund von Empfehlungen, aufgrund der von uns veröffentlichten großen Studie sowie unserer Social-Media-Aktivitäten, mit denen wir in kleinen Portionen unser Wissen zur Verfügung stellen. Wir sind keine Lobbyisten-Organisation und wir möchten niemanden belehren und vorgeben, wie man es „richtig“ macht. Im Gegenteil: Wir versuchen, uns als Experten neutral zu positionieren. Bei bestimmten Themen kooperieren wir mit Lobby-Organisationen, wie etwa beim Themenkomplex Frauen, Frieden und Sicherheit. So untersuchen wir, was Frauen in Friedensprozessen beitragen können und was eine Zivilgesellschaft erreichen kann. Hier arbeiten wir sehr aktiv mit zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen, die unser Wissen auch für ihre Tätigkeiten nutzen. So gibt das UN-Generalsekretariat im Oktober dieses Jahres den UN SG WPS report (Women and peace and security: report of the Secretary-General) heraus, mit dem Schwerpunkt „Partizipation von Frauen in politischen Prozessen“. Da wir zu diesen Themen arbeiten und über unsere Netzwerke diejenigen kennen, die diesen Report verfassen, können wir dem Autorenteam unsere Expertise zur Verfügung stellen. Dadurch werden unsere Papiere dann auch in dem Report zitiert. Wir wiederum nutzen den Report der UNO, um vor Ort die Frauen und zivilgesellschaftlichen Organisationen für ihre Lobbyarbeit und bei ihren eigenen Regierungen zu unterstützen.
Wie haben wir uns dies vorzustellen, wo ist Ihre Unterstützung gefragt?
Etwa, wenn es um Fragen geht wie: Was heißt das für uns, wenn der UN-Generalsekretär sagt, das und das ist wichtig, wenn mein Land diese UN-Resolution unterschrieben hat, sie aber nicht befolgt wird? Wir arbeiten in solchen Fällen immer mit vergleichender Forschung und zeigen den Betroffenen anhand von Beispielen, wie „ihr“ Problem in anderen Ländern gelöst wurde. Beim Erfahrungs- und Meinungsaustausch geht es darum, zu klären: Was haben andere in dieser Situation gemacht? Wie haben sie andere Organisationen beeinflusst? Wie haben sie versucht, dass jetzt die Waffen schweigen? Was hat gekappt, was nicht? Wir vermitteln also nicht nur unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfahrungen, sondern versuchen auch, die Akteure selber zusammenzubringen und miteinander diskutieren zu lassen. Anschließend dokumentieren wir diese Prozesse, was dann wiederum in unseren Erfahrungsschatz einfließt. Das ist ein permanenter Kreislauf, in dem Wissenschaft auf Praxis trifft.
Wie fördern Sie die Friedensprozesse ganz praktisch? Und wäre das auch für den Ukraine-Krieg möglich?
Wir wollen weder Besserwisser sein, noch normativ behaupten: Das muss so sein. Wir stellen ganz pragmatisch unser Wissen und unsere Erfahrungen zur Verfügung. Wir diskutieren gemeinsam mit den Akteuren realitätsbezogen mögliche Ideen und Szenarien. Das wäre auch für den Ukraine-Krieg möglich. Aber es gibt gerade in Deutschland kaum einen Dialog darüber, wie der Krieg beendet werden könnte. Das bevorzugte Szenario sind Waffenlieferungen, um mit mehr Waffen den Krieg entweder zu reduzieren oder anzuhalten. Genau hier fängt schon der Zweifel an der wissenschaftlichen Evidenz dieses Szenarios an: Wie viele militärische und sicherheitspolitische Chancen hat ein kleines Land gegen eine Großmacht wie Russland? Wie viel Geld hat Russland zur Verfügung, um diesen Krieg zu fahren? Wirken die Sanktionen? Wir wissen, dass sie nicht wirklich greifen, weil Russland neue Absatzmärkte gefunden hat. Ein alternatives Szenario wäre: Es wird verhandelt. Was heißt das aber genau? Wer verhandelt mit wem? Was soll verhandelt werden? Für uns geht es bei Verhandlungen um ein Konfliktmanagement, das nachhaltige Wege aufzeigt, wie gesellschaftliche und politische Probleme neu verhandelt werden können, sodass ein friedliches Zusammenleben in einer inklusiven Gesellschaft irgendwann möglich wird.
Warum erachten Sie das für wichtig?
Wenn wir nicht durchspielen, wie ein Konfliktmanagement aussehen könnte und wie in diesem Fall die Ukraine dahin kommen könnte, dann ist sie nicht darauf vorbereitet, wenn es irgendwann Verhandlungen geben wird. Nehmen wir nur an, dass Frankreich, Großbritannien und die USA beschließen, doch die chinesische Initiative zu unterstützen – was durchaus passieren könnte. Politisch professionell zu agieren, heißt, auf jedes dieser Szenarien vorbereitet zu sein. In den Debatten in Deutschland ist jedoch zu beobachten, dass man sich weigert, die Realität zu sehen, und sich wünscht, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Aber selbst wenn das so sein sollte: Was passiert dann? Die Realität ist: Es geht in diesem Konflikt nicht nur um die Ukraine, sondern um die Neuregelung der Beziehungen zwischen Westeuropa, Amerika und Russland. Die Ukraine sitzt dazwischen. Früher saß Deutschland dazwischen. Möchte Deutschland aus der eigenen Vergangenheit nichts lernen? Deutschland befand sich in dieser Situation über 50 Jahre lang und hat deswegen gesagt: Wir können gar nicht anders als eine friedenspolitische Haltung haben und zwischen Ost und West vermitteln, denn sonst bekommen wir in Deutschland ein Problem. Das hat funktioniert und uns Frieden beschert. Jetzt aber werden für die Ukraine andere Regeln gesetzt. Das ist eigentlich nicht logisch.
Was bemängeln Sie daran?
Die Diskussionen sind polarisierend, es fehlen realistische und evidenzbezogene Argumente und es wird zu wenig wissenschaftlich und realitätsbezogen gedacht. Es wird sogar behauptet, Kriege enden immer auf dem Schlachtfeld. Das stimmt nicht und ist statistisch gesehen falsch. Kriege enden in der Mehrheit der Fälle am Verhandlungstisch. Auch die Ukraine macht sich im Moment sehr berechtigte Sorgen, was passiert, wenn es zum Beispiel zu einem Regierungswechsel in den USA käme. Donald Trump hat in einem Interview mit CNN angekündigt, dass er diesen Krieg binnen 24 Stunden beenden würde, Ähnliches haben andere Republikaner wie etwa Ron DeSantis gesagt.
In Ihrem jüngsten Projekt haben Sie untersucht, welchen Einfluss religiöse Akteure bei der Gestaltung von Wegen zu nachhaltigem Frieden haben. Warum?
Das Projekt haben wir gemeinsam mit dem United States Institute of Peace (USIP) und dem International Center for Religion and Diplomacy (ICRD) durchgeführt. Bei den religiösen Akteuren handelt es sich um ein breites Spektrum an Personen, die in ihren Gesellschaften gehört werden, damit Legitimität innerhalb der Gesellschaft haben und Einfluss nehmen können. Dazu gehören religiöse Führer wie der Papst oder der Patriarch einer orthodoxen Kirche, aber auch prominente Figuren wie Desmond Tutu sowie Vertreter von Kirchen und Religionsgemeinschaften, einflussreichen religiösen Entwicklungsorganisationen, aber auch religiös inspirierte politische Parteien. Es geht immer um die Frage: Welcher religiöse Akteur hat den meisten Einfluss auf die Gesellschaft? Das ist in säkulareren Gesellschaften weniger der Fall, aber in vielen Gesellschaften auf der Welt haben religiöse Akteure einen enormen Einfluss auf die Sozialisierung von Menschen. Hinzu kommt, dass religiöse Führer auch auf Politiker großen Einfluss haben können. Im Ukraine-Krieg haben wir auf beiden Seiten unterschiedliche Patriarchen der orthodoxen Kirche, die sehr politisiert sind. Aber auch die internationalen kirchlichen Netzwerke – darunter der World Council of Churches in Genf oder Religions for Peace in New York – können kirchliche Führer für Friedensprozesse gewinnen.
Nennen Sie bitte ein Beispiel.
Wir arbeiten in Afrika mit Religions for Peace zusammen, die versuchen, die religiösen Führer des ganzen Kontinents zu mobilisieren, damit sie in Krisen sowohl mit kirchlichen Würdenträgern als auch mit Politikern reden. Warum das wichtig ist? In keiner Religion gilt der gewaltsame Konflikt als besser als Reden und das Leid von Menschen zu reduzieren. Das bedeutet aber nicht, dass die religiösen Akteure automatisch immer eine Pro-Friedensrolle einnehmen. Im Ukraine-Fall ist das genau umgekehrt. Da segnen die Patriarchen die Panzer. Sehr oft haben die Kirchen, wie dort, fast einen staatskirchlichen Charakter – auch, weil es für sie machtpolitisch schwierig ist und Abhängigkeiten bestehen. Es gab aber auch Beispiele, in denen dieser Automatismus durchbrochen wurde. Ein gutes Beispiel ist Argentinien, als die Junta regierte und die Jesuiten zu unterdrücken versuchte. Diese aber hatten sich dafür entschieden, gegen die Regierung zu kämpfen und den Menschen beizustehen, während die offizielle katholische Kirche pro Junta-Regierung war. Auch in El Salvador und Guatemala hat die Kirche sich dafür eingesetzt, dass es zu einem Frieden kommen konnte.
Inwieweit ist es wichtig, dass sich religiöse Akteure über ihre eigene Organisation hinaus mit anderen religiösen Akteuren vernetzen und für den Frieden einsetzen?
Eine solche Vorgehensweise hat einen erheblich größeren Einfluss. Stellen Sie sich vor, die orthodoxe Kirche in Russland und in der Ukraine würde plötzlich gemeinsam für eine Friedenslösung eintreten. Das hätte einen extremen Einfluss auf die jetzige Situation. Die Frage wäre dann: Wie kommt man dahin? Wir können aufgrund unserer Forschung feststellen: Der Ukraine-Konflikt ist nicht der erste zwischenstaatliche Konflikt dieser Welt. Wir verfügen über belastbare Informationen und Szenarien dazu, wie die Prozesse in anderen zwischenstaatlichen Konflikten funktioniert haben, welche Akteure welche Rollen eingenommen haben und einnehmen könnten. So haben in vergleichbaren Konstellationen auch übergeordnete kirchliche Netzwerke Kontakt zu beiden kirchlichen Seiten aufgenommen und versucht, dort erst einmal einen innerkirchlichen Dialog zu führen. Es geht meist um einen ersten Informationsaustausch. Wir nennen das „Entry Point“.
Was geschieht danach und was ist Ihre Aufgabe?
Wir können die religiösen Akteure mit anderen Netzwerken zusammenbringen und mit Informationen aus unserer Forschung versorgen, sodass sie erst einmal untereinander informell brainstormen. Später entsteht dann oft das, was wir „Begleitung“ nennen. Sprich: Wir begleiten die Akteure auf ihrem Weg und unterstützen sie strategisch, intellektuell und auch netzwerkmäßig. Das kann zwei Wochen dauern, aber auch drei Jahren oder länger – so wie in Äthiopien, wo wir vor vier Jahren damit angefangen haben, ein zivilgesellschaftliches Konsortium zu unterstützen, das einen nationalen Dialogprozess vorbereitet. Jetzt, wo der Prozess formal von der Regierung übernommen wurde und ins Rollen kommt, haben wir das Netzwerk, mit dem wir arbeiten, erweitert und arbeiten auch mit den offiziellen Akteuren zusammen.
Was möchten Sie mit Ihrer Arbeit erreichen?
Dass es auf der ganzen Welt mehr inklusive Gesellschaften gibt, die auch die Umwelt miteinschließen. Damit meine ich nicht nur extreme Gesellschaften, wo die Hälfte der Bevölkerung ausgeschlossen wird vom sozialen, politischen und auch Arbeitsleben, wie etwa in Afghanistan. Exklusion gibt es überall. Auch in Deutschland gibt es Menschen, die nicht in alle Prozesse einbezogen werden und nicht über ihr eigenes Schicksal bestimmen können. In fast jeder Gesellschaft gibt es sehr unterschiedliche Formen dieser „Pockets of Exclusion“. Dabei ist auch statisch längst bewiesen, dass Gesellschaften, die inklusiv sind, ökonomisch, politisch und sozial erfolgreicher sind. //
Dr. Thania Paffenholz
ist Expertin für Internationale Beziehungen und Gründerin und Direktorin von Inclusive Peace, einem Thinktank in Genf, der Friedensprozesse weltweit begleitet. Als Wissenschafts- und Politikberaterin erforscht und begleitet sie nachhaltige Friedensprozesse in der ganzen Welt – darunter für die Vereinten Nationen, die Europäische Union und die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa). Für ihr Engagement im Bereich des Transfers zwischen Forschung und Politik erhielt sie 2015 den renommierten Wihuri International Prize.
Foto: Pauline1991 / Wikimedia Commons
DUZ Magazin 06/2023 vom 23.06.2023