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Schlecht entlohnt

Jeder vierte Beschäftigte in Deutschland arbeitet in prekären Verhältnissen. Über die „verkannten Leistungsträger:innen“ in der Klassengesellschaft forscht die Göttinger Arbeitssoziologin Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja.

Nicole Mayer-Ahuja war 13, als sie Günter Wallraffs Bericht „Ganz unten“ las. Darin schildert der Journalist, wie er als türkischer Gastarbeiter Ali verkleidet in Betrieben ausgebeutet, ausgegrenzt und missachtet wurde. „Ich fragte mich, unter welchen Bedingungen Menschen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen“, erzählt die Wissenschaftlerin. Bis heute verwendet sie den dazugehörigen Film in der Lehre, zeigt er doch, wie die Konkurrenz zwischen deutschen und migrantischen Beschäftigten gefördert wird und dadurch beide Gruppen geschwächt werden. Dass Mayer-Ahuja heute über prekäre Beschäftigung forscht, hat auch mit „Alis“ Erfahrungen zu tun. 

Erste Akademikerin in der Familie

Selbstverständlich war der Weg zur Uni für sie nicht. Die an der pfälzischen Weinstraße aufgewachsene Wissenschaftlerin war die erste Akademikerin in ihrer Familie. Ihr Vater war Sparkassenangestellter und Sozialdemokrat alter Schule, ihre Mutter ausgebildete Bäckereiverkäuferin, ein Beruf, der nach dem Niedergang der Familienbetriebe durch immer schlechtere Arbeitsbedingungen gekennzeichnet war: miserable Bezahlung, ungünstige Arbeitszeiten, körperlich schwere Arbeit und unsichere Verträge. Doch die Tochter machte das Abitur mit einem Notendurchschnitt von 1,0. Sie studierte mit einem Stipendium Geschichte, Politik und – nach einem Aufenthalt in einem israelischen Kibbuz – Semitistik in Heidelberg und London. Mayer-Ahuja promovierte über die Geschichte prekärer Arbeit. Zumindest damals war das ein vernachlässigtes Thema in der Wissenschaft.

2002 stieg sie in ein Forschungsprojekt am Soziologischen Forschungsinstitut in Göttingen ein – eine unbefristete Stelle: „Sonst hätte ich mir die Wissenschaft wohl nicht zugetraut“, sagt sie im Rückblick. Heute hätten mehr als 80 Prozent der Beschäftigten im akademischen Mittelbau befristete Stellen. Sie habilitierte sich mit einer Arbeit über die internationalen Teams in der deutsch-indischen Software-Programmierung, ging mit ihrer Familie für mehrere Monate nach Bangalore, wo sie Dutzende von Interviews mit Software-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern führte. Im Anschluss forschte sie am Internationalen Zentrum für Arbeit und Lebenslauf in globalhistorischer Perspektive in Berlin, hatte zweimal eine Vertretungsprofessur in Bremen. 2012 wurde sie an die Uni Hamburg berufen. Seit 2014 lehrt sie als Professorin für Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft in Göttingen. Dort ist sie auch für die Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Gewerkschaften zuständig. 

Ein Sachbuch-Bestseller

Zwölf Bücher hat sie seitdem geschrieben. Aber keines hat so eingeschlagen wie der 2021 erschienene, mehr als 500 Seiten starke Sammelband über „Verkannte Leistungsträger:innen“, den sie zusammen mit Prof. Dr. Oliver Nachtwey bei Suhrkamp herausgegeben hat. 2022 landete er auf der Sachbuch-Bestenliste. Kern des Buches sind Porträts etwa von Fahrradkurieren, Erzieherinnen, Altenpflegerinnen oder Erntehelfern mit Hintergründen aus Krankenhäusern, Restaurantküchen, der Fleischindustrie oder der Logistikbranche. „Man muss keinen Doktor gemacht haben, um das Buch zu verstehen“, sagt Mayer-Ahuja. Zugleich habe der provozierende Untertitel „Berichte aus der Klassengesellschaft“ offenbar einen Nerv getroffen.

In der Corona-Pandemie habe es ein zunehmendes Unwohlsein angesichts der schlecht bezahlten, aber systemrelevanten Berufe in Pflege, Reinigung, Logistik, Kitas und im Einzelhandel gegeben, sagt die Arbeitssoziologin: „Sie machen wichtige Arbeit zu teilweise inakzeptablen Bedingungen.“

Aufstiegsversprechen gilt nicht

Der deutsche Niedriglohnsektor ist groß: Nach dem sozioökonomischen Panel des Instituts für Wirtschaftsforschung zählt etwa jeder vierte Beschäftigte dazu. Begonnen hat die Ausweitung dieses Bereichs schon Mitte der 1980er-Jahre, als die Möglichkeiten für Befristungen und Leiharbeit ausgeweitet wurden. Verstärkt wurde die Entwicklung durch die Hartz-Reformen und immer mehr Privatisierungen. Das System werde – etwa durch die vielen Aufstocker – staatlich subventioniert. Sonst wäre der Niedriglohnsektor kaum so groß, sagt Mayer-Ahuja. Auch das Aufstiegsversprechen früherer Jahrzehnte – es durch harte Arbeit und Leistung weiter nach oben zu schaffen – gilt für heute prekär Beschäftigte kaum noch. Sie sind die Ersten, die ihren Job verlieren. Und auch ihre Kinder erwartet meist keine bessere Zukunft. 

Derzeit ist viel vom Fachkräftemangel die Rede. Dennoch ist Mayer-Ahuja nicht davon überzeugt, dass die Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor besser werden. Immerhin gibt es inzwischen den Mindestlohn. Existenzsichernd wird die Arbeit damit aber meist noch nicht, sagt die Wissenschaftlerin. Zudem gebe es viele Umgehungsstrategien, etwa durch mehr Arbeit in kürzerer Zeit. Das führe dazu, dass unbezahlt weitergearbeitet wird. Als Beispiel nennt sie das Reinigungsgewerbe, in dem schon seit den 1970er-Jahren Personal fehlt. Ernsthaft verbessert hat sich die Situation für die Beschäftigten aber nicht. Gehörten sie früher bei Verwaltungen oder in Schulen zur normalen Belegschaft, so wurden sie zunehmend in Subunternehmen ausgegliedert. Bei der Auftragsvergabe bekommt aber der billigste Anbieter den Zuschlag, auch bei den öffentlichen Arbeitgebern. Deswegen halten die Reinigungsfirmen die Lohnkosten niedrig, mit Minijobs und überwiegend migrantischen Mitarbeiterinnen. Zudem wurde ihre Arbeit mit der Privatisierung zunehmend unsichtbar, weil sie nun sehr früh morgens oder am Abend arbeiten. 

Nicht nur für Löhne streiken

Auch bei den Paketzustellern führt die Privatisierung zu sinkenden Löhnen. Zudem handelt es sich um eine sehr zersplitterte Branche mit vielen allein-selbstständigen Fahrern. 

Der Pflegenotstand in den Kliniken hängt mit den schlechten Arbeitsbedingungen zusammen, sagt Mayer-Ahuja: „Viele fliehen, weil sie es körperlich und geistig nicht mehr aushalten.“ Deshalb hält sie es für wichtig, dass nun auch für eine bessere Personalausstattung gestreikt wird. In der Altenpflege sind Streiks als Druckmittel allerdings kaum möglich. Es gibt keine allgemein verbindlichen Tarifverträge. Die Beschäftigten sind nur selten gewerkschaftlich organisiert und wollen die Pflegebedürftigen nicht im Stich lassen. 

Um wirklich etwas an den Löhnen, Gehältern und Arbeitsbedingungen zu ändern, müssten sich die Menschen aber wehren, sagt Mayer-Ahuja. Sie berichtet von einer Uniklinik, die Reinigung, Kantine, Wäscherei und Bettentransport in eine tariflose Tochterfirma ausgelagert hatte. Neue Beschäftigte verdienten nur noch die Hälfte. Doch dann organisierte sich die Belegschaft in der Gewerkschaft, wählte einen Betriebsrat und streikte erfolgreich für einen Haustarifvertrag. Seitdem gibt es dort keine befristeten Arbeitsverhältnisse mehr und höhere Löhne. //

Nicole Mayer-Ahuja: Meine Forschung

Die Herausforderung: 

Die Arbeitswelt verändert sich rasant. Nie haben mehr Menschen in Deutschland Lohnarbeit geleistet. Zugleich wächst der Druck auf diese abhängig Beschäftigten durch die Ausweitung von prekärer Beschäftigung, aber auch durch steigende Anforderungen, lang und flexibel zu arbeiten, die Unternehmensziele zu den eigenen zu machen, das ganze Leben auf die Erwerbsarbeit auszurichten.

Mein Beitrag: 

Möglichst genau zu erforschen, wie sich Arbeit verändert – im Zeitverlauf und in verschiedenen Weltregionen.

Drohende Gefahren: 

In dem Maße, wie die Konkurrenz unter Arbeitenden zunimmt, wird es schwerer, für gemeinsame Interessen einzutreten. Damit droht das Machtgefälle zwischen Unternehmen und Beschäftigten noch größer zu werden, demokratische Mitbestimmung weiter an Bedeutung zu verlieren.

Offene Fragen: 

Wie lassen sich Projekte und Ziele formulieren, die verschiedene Gruppen von Arbeitenden zusammenbringen? Wo liegen im Betrieb, auf dem Arbeitsmarkt Ansatzpunkte dafür?

Mein nächstes Projekt:

Forschung und Lehre zu aktuellen Dynamiken der Klassengesellschaft: Wie hängen soziale Ungleichheit in und außerhalb des Betriebes mit Veränderungen von Arbeitsorganisation und Kontrolle zusammen? 

Foto: Klaus-Peter Wittemann

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