POLITIK & GESELLSCHAFT

FORSCHUNG & INNOVATION

STUDIUM & LEHRE

KOMMUNIKATION & TRANSPARENZ

ARBEIT & PSYCHOLOGIE

WISSENSCHAFT & MANAGEMENT

75 JAHRE DUZ

 Login

Ein Universum mit zahlreichen Mikrokosmen

Was ist eigentlich eine Hochschule – diese Frage stand am Anfang des Buches „Ethnografie der Hochschule“. Was wie eine Frage aus der „Sendung mit der Maus“ klingt, fördert Erhellendes über das Universum Hochschule zutage. Ein Interview mit Ko-Herausgeberin Julia Reuter

Frau Reuter, Hochschulen sind ein beliebter Forschungsgegenstand. Ob im CHE – Centrum für Hochschulentwicklung, im International Center for Higher Education Research (Incher) oder anderenorts – in den einschlägigen Zentren für Hochschulforschung wird vermessen, analysiert, verglichen und gerankt. Wie passt Ihre „Ethnografie der Hochschule“ da hinein? 

Eigentlich gar nicht. Mit klassischer Hochschulforschung hat das, was wir beobachtet und zusammengetragen haben, wenig zu tun. Die klassische Hochschulforschung ist Survey-Forschung und sucht Antworten auf Fragen wie etwa: Wie wirkt sich diese oder jene Reform aus und wie lassen sich bestimmte Organisations- und Steuerungsprozesse in Hochschulen optimieren? Das ist sehr wichtig für die Hochschulpolitik. Wir dagegen fragen: Wie, wo und in welchen Formen findet Hochschule eigentlich statt? Das heißt: Wir schauen uns die Spezies Hochschule wie einen zunächst fremden Gegenstand an.

Und welchen Blick nehmen Sie dabei ein?

Es ist wie der Blick auf ein Universum mit zahlreichen Mikrokosmen. Es geht zum Beispiel um die Betrachtung von Fächern: deren eigene Spielregeln und soziale wie kulturelle Logiken. Das wird von gewöhnlichen Untersuchungen nicht erfasst. 

Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Die Autorinnen und Autoren unseres Bandes arbeiten vor allem mit der Methode der Beobachtung. Anstelle von groß angelegten Studien, die auf quantitativen Befragungsdaten beruhen, um etwa Vergleiche zwischen verschiedenen Hochschulen zu ziehen, dokumentieren sie Beobachtungen in einzelnen Fächern oder Instituten und auch in außeruniversitären Einrichtungen.

Wie habe ich mir das vorzustellen?

Wir blicken zum Beispiel auf das Arbeiten und das soziale Miteinander – und zwar sehr kleinteilig – und schauen dabei oft auf scheinbare Banalitäten: Wie sitzt ein Wissenschaftler, eine Wissenschaftlerin an ihrem Schreibtisch, was liegt darauf, was benutzt er oder sie zum Arbeiten? Wie laufen soziale Kontakte in einem Fachbereich ab – wie systemrelevant sind die regelmäßigen Begegnungen vor dem Kaffeeautomaten? Was ist eigentlich eine  Prüfung oder ein Seminar– wie werden diese vorbereitet und wie laufen sie ab?

Das war sicherlich für Sie, als Forschende, sehr erhellend. Aber können auch andere Nutzen aus solcher Forschung ziehen? 

Wir haben unser Buch nicht als Gebrauchsanleitung für das Leben an Hochschulen geschrieben, sondern wollten zunächst nur zeigen, was ist. Aber: Selbstverständlich lassen sich daraus Schlüsse ziehen, speziell auch mit Blick auf die Corona-Pandemie, wo Lehre teils komplett neu gedacht werden musste. Dafür sind Beobachtungen zu Prüfungen und Seminaren für viele Lehrende sehr hilfreich. Ein Autoren-/Autorinnen-Kollektiv hat sich beispielsweise mit einem Lehre-Blog beschäftigt, der während der Pandemie für den Austausch untereinander entstanden ist und Aufschluss gibt, welche Gedanken, Sorgen und Fragen Hochschullehrende im Zusammenhang mit ihren Lehrveranstaltungen umtreiben.

Haben Sie auch neue Erkenntnisse über Studierende gewonnen?

Ja. Eine Kollegin hat für unser Buch untersucht, wie Studierende sich auf Facebook bewegen, und dabei festgestellt und beschrieben, wie sie es zum Teil intensiv für die Prüfungsvorbereitung in Gruppen nutzen. Ein Kollege hat sich mit studentischen Vereinigungen und Organisationen beschäftigt und sich das von BWL-Studierenden initiierte Organisationsforum Wirtschaftskongress angesehen, das seit 1984 existiert und jedes Jahr ein großes Treffen organisiert. Dort treffen Studierende auf Wirtschaftsvertreter, tauschen sich aus und üben bereits den Berufshabitus ein, den sie später im ersten Job brauchen werden. Im Hochschulbetrieb haben sie keine Gelegenheit dazu, denn dort geht es vor allem um die Vermittlung von Fachwissen, nicht um einen Berufshabitus – also braucht es diese selbstorganisierte Form, um sich aufs Berufsleben vorzubereiten. 

Lassen sich daraus Schlüsse für die Lehre ziehen? Denn die Beobachtungen von studentischer Selbstorganisation offenbaren ja durchaus Defizite, die die Studierenden auszugleichen versuchen?

Natürlich lassen sich daraus auch Denkanstöße ableiten, Erkenntnisse über Erfolg oder Misserfolg im Studium. In einem Kapitel unseres Buches beschreiben Erziehungswissenschaftlerinnen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, wie sie ihre Studierenden die eigene Studiensituation ethnografisch beforschen lassen. Dabei kam heraus, wo genau es im Studium viele Momente der Überforderung gibt, die für einige Studierende letztlich zum Studienabbruch führen.

Könnten auch andere Hochschulbereiche von Ihrer Ethnografie profitieren?

Ja, durchaus. Denken Sie an ein Thema wie Gendergerechtigkeit oder Vereinbarkeit von Karriere und Familie. Das sind typische Top-down-Themen: Die Hochschulleitung verkündet Leitlinien, die von allen Bereichen umgesetzt werden sollen. Und oft wird dann darüber geklagt, wenn das in bestimmten Fachbereichen nur schleppend passiert. Dabei wird ignoriert, dass sich einige Disziplinen leichter damit tun als andere, die tendenziell eher strukturkonservativ sind. Wie eingangs erwähnt, ermöglicht die ethnografische Beforschung Rückschlüsse auf die sozialen Strukturen und die Kultur eines Faches. Und diese Strukturen wirken wie ein Filter für Vorgaben wie Gendergerechtigkeit und Familienfreundlichkeit. Da verwundert es nicht, dass nicht alle Fachbereiche solche Themen gut und schnell umsetzen. 

Wie sind die Reaktionen von Kollegen auf ihr Buch, auch aus der klassischen Hochschulforschung?

Ehrlich gesagt gibt es darauf noch nicht sehr viele Reaktionen. Das ist einerseits schade. Andererseits entspricht dies aber auch dem ungeschriebenen Gesetz in der Wissenschaft, dass man über sich schweigt – sozial und biografisch. Biografien werden sozial bereinigt, Krisen, Unsicherheiten, Auszeiten, Studienabbrüche werden verschwiegen, wenn man Karriere in der Wissenschaft machen will. 

Vor diesem Hintergrund kommen Beobachtungen unter dem Vergrößerungsglas ethnografischer Untersuchungen nicht gut an, weil sie auch Unangenehmes offenbaren könnten ...

Genau. Sei es, dass das Drittmittelaufkommen eines Instituts eben doch nicht so hoch ist, wie es nach außen kommuniziert wurde, oder dass hinter den Kulissen Mitarbeitende gemobbt werden. Ein Autor unseres Buches hat an der Universität St. Gallen sein eigenes Institut unter ethnografischen Aspekten untersucht. Der Bericht wird am Institut aber sicherlich nie veröffentlicht, eben weil die Ergebnisse nicht zur lupenreinen Außendarstellung einer der renommiertesten Hochschulen Europas passen.

Schade….

Allerdings spüren wir, meine eigene Altersgruppe der jetzt Mitt- bis Endvierziger, dass mit den sogenannten Generationen Y und Z zunehmend jüngere Kolleginnen und Kollegen an die Hochschulen und in die Forschung kommen, die das Schweigen brechen wollen. Denken Sie an die Initiative #IchBinHanna, die sich zu prekären Verhältnissen in der Wissenschaft zu Wort meldet. Es ist gut möglich, dass diese Kolleginnen und Kollegen mehr mit unserem Forschungsansatz anfangen können. //

Prof. Dr. Julia Reuter

ist Sozialwissenschaftlerin und hat gemeinsam mit ihren Kollegen Daniel Meyer und Dr. Oliver Berli das Buch „Ethnografie der Hochschule. Zur Erforschung universitärer Praxis“ herausgebracht. Es versammelt Texte verschiedener Autorinnen und Autoren.

Foto: Privat

Ethnografie der Hochschule. Zur Erforschung universitärer Praxis
transcript Verlag
Bielefeld 2022
318 Seiten
ISBN-13: 9783837657760

Diese Cookie-Richtlinie wurde erstellt und aktualisiert von der Firma CookieFirst.com.

Login

Der Beitragsinhalt ist nur für Abonnenten zugänglich.
Bitte loggen Sie sich ein:
 

Logout

Möchten Sie sich abmelden?

Abo nicht ausreichend

Ihr Abonnement berechtigt Sie nur zum Aufrufen der folgenden Produkt-Inhalte: