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Wir sitzen alle in einem Zug

Der Malermeister, die Kosmetikerin, der Ministerialbeamte a.D.: Alle schimpfen auf die Deutsche Bundesbahn. Doch ist das gerecht? Natürlich nicht. Unser Univers-Autor setzt ein Zeichen und sagt: Ja, die Bahn ist mein Leben!

Es muss endlich einmal gesagt sein: Die Bahn ist wunderbar. Sie bringt mich von A nach B, sie ist mein Büro, meine Kontaktbörse, mein Weinlokal. Mit einem Wort: Sie ist mein Leben. Auch wenn sie es öffentlich nicht zugeben. Im Grunde fahren die meisten Professoren gerne Bahn, denn immer gibt es etwas zu korrigieren, zu lesen oder zu schreiben. Im Auto geht das alles nicht so gut und der Flieger lohnt sich nur auf längeren Strecken.

Über die blöde Bimmelbummelbahn herzuziehen, ist ziemlich wohlfeil, tut ja jeder. So wie sich jeder über die katholische Kirche mockiert oder über Guido Westerwelle. Aber was wäre die Welt ohne Weihrauch, rote Kardinalskäppchen und kernige Aussagen über Hartz-V-Empfänger? Sie würde schlecht riechen, die Männermode wäre noch Business-grauer und wir würden im spätrömisch-dekadenten Sozialismus leben, den sich natürlich bald niemand mehr leisten könnte, und dann würde es überall so ausschauen wie in der alten DDR. Das will ja wirklich niemand.

Das Professorenleben wäre ohne die Bundesbahn um vieles ärmer.

Und ohne die Bahn? Wir hätten als Smalltalk-Thema lediglich das miese Wetter und nicht mehr unsere Bahnerlebnisse. Und vor  allem – um zum eigentlichen Thema zu kommen – das Professorenleben wäre ohne die Deutsche Bundesbahn um so vieles ärmer, und die Hochschulen hätten nie den Sprung geschafft von lahmen Quatschbuden zur neuen Bologna-Hochleistungsuniversität.

Sozialisation in der Postdoc-Phase

Kommen wir erst mal zum Wissenschaftler und seiner Bahnsozialisation: Die Promotion ist in der Tasche, der Arbeitsvertrag am Ende und die Stelle steht sowieso zur Streichung an. Also bewirbt sich das aufstrebende Forschertalent an anderen Universitäten. Im günstigen Fall erhält der Nachuchswissenschaftler bald einen neuen – natürlich befristeten – Arbeitsvertrag. Aber ganz so jung ist unser Postdoc auch nicht mehr, er hat eine feste Partnerin und vielleicht schon ein Kind. Die Partnerin hat einen attraktiven Job und der Nachwuchs einen Kindergartenplatz mit Ganztagsbetreuung. Das gibt man nicht gerne auf, zumal für einen Vertrag, der wiederum nur für ein paar Jahre läuft. Folglich entschließt sich der Nachwuchswissenschaftler, zu pendeln – auch wenn der Weg weit ist. Ist ja nicht so schlimm, in der vorlesungsfreien Zeit bleibt er meist zu Hause und schnitzt an seiner Habilitation und sonst fährt er halt mit der Bahn, da kann er die Zeit nutzen.

Die territorialen Mächte im Waggon

Dank des Hochschulrechts und unseres Zeitvertragssystems wird er also zum professionellen Bahnfahrer. Im Zug bastelt er an PowerPoint-Präsentationen, korrigiert Hausarbeiten und liest dicke  Bücher. Ihn halten weder Böschungsbrände im Sommer noch eingefrorene Weichen im Winter auf und er sammelt jede Menge Erfahrungen über das richtige Verhalten in der Bahn: Wagen mit a) Kindern (laut) b) Jugendlichen (noch lauter) und c) Rentnern auf feuchtfröhlichem Ausflug (am lautesten) sind unbedingt zu meiden. Immer einen Vierer-Platz suchen, alles was man hat über die drei leeren Plätze verteilen, am besten etwas mit vielen Zwiebeln essen und böse schauen. So schafft er sich ein komfortables Büro oder – wie man heute so sagt – eignet sich den Raum an.
An seinem mobilen Arbeitsplatz bleibt er trotzdem nicht lange allein. Wie es in einem Werbespot der Bahn einmal so schön hieß, „Wer Bahn fährt, gewinnt Zeit und trifft nette Leute“, lernt der Nachwuchswissenschaftler bald Kollegen kennen, die ebenfalls jeden Tag zur Universität pendeln. Und das eröffnet ihm ganze neue Möglichkeiten. Aufgrund der – siehe oben – zahlreichen Böschungsbrände und eingefrorenen Weichen hat er viel Zeit, sich mit den Kollegen zu unterhalten.

Streckensperrungen, kaputte Züge, Schienenersatz-
verkehr: Selbst Bahnnovizen erleben Abenteuer.

Er erfährt Interessantes vom Innenleben seiner Hochschule, von den Kungelrunden, wer mit wem, wer mit wem gar nicht und so weiter. Viel besser bewegt er sich nun im Dschungel Universität, er weiß die Professoren einzuschätzen und kennt die maßgeblichen Entscheidungszirkel. Auch kann er sich darin üben, selbst zu kungeln und Intrigen zu spinnen, sich also auf die Laufbahn eines erfolgreichen Hochschullehrers vorzubereiten. Beim beliebten Bahn-Bashing muss er jetzt nicht länger abseits stehen. Wiewohl noch Bahnnovize, hat er doch schon einiges mitgemacht: Streckensperrungen, kaputte Züge, stundenlanges Warten auf eiskalten Bahnsteigen und nicht kommender Schienenersatzverkehr. Er weiß, was es heißt, mit hundert betrunkenen Fußballfans von A nach B zu reisen, war mitten drin im Schulwandertag, erlebte Terroristenfahndungen und Anekdotenhöhepunkt: er musste schon mal auf dem Weg zu einem Vortrag in einer Turnhalle übernachten, weil der Zugverkehr wegen eines Orkans komplett eingestellt wurde.

Ist der Nachwuchswissenschaftler erfolgreich habilitiert und bahnsozialisiert, bewirbt er sich auf eine Professur. Wiederum dank des Hochschulrechts kann er nur Professor an einer Universität in einer anderen Stadt werden. Geht alles glatt, ereilt ihn schließlich der Ruf. Soll er jetzt umziehen? Der Job der Partnerin ist mittlerweile noch attraktiver, die Kinder wollen nicht die Schule wechseln, das Eigenheim hat die junge Familie auch schon anbezahlt. Und außerdem: Ein Leben im Zug gibt man nicht so einfach von einem auf den nächsten Tag auf. Also nimmt sich der junge Professor am Hochschulort ein Zimmer und fährt weiter Bahn. Er kennt es ja nicht anders. Entschließt sich seine Familie umzuziehen, bleiben ihm zum Glück immer noch viele schöne Bahnfahrgelegenheiten wie Tagungen, Besprechungen, Lehraufträge und Gastprofessuren.

Längst hat der Wissenschaftler gemerkt, dass er eigentlich nur in der Bahn gut arbeiten kann. In der Universität stören die Studenten und Mitarbeiter, die ständig etwas von ihm wollen. Zu Hause schreien entweder die Kinder oder es ist ihm zu einsam, so ganz allein im stillen Arbeitszimmer. Vorausgesetzt der  ist nicht überfüllt und die Problemgruppen sind nicht allzu stark vertreten, bietet der Zug das ideale Umfeld: Er kann ohne Störung arbeiten und ist doch unter Menschen. Durch Deutschland ratternd schreibt er seine Forschungsanträge, bereitet sich auf den Bologna-Arbeitskreis vor, entwirft einen Plan für die nächste Reakkreditierungsrunde und erledigt all die anderen Dinge, die den stressigen Professorenalltag heutzutage ausmachen. Blickt er sich im Zug um, was sieht er? Andere Professoren, die das Gleiche tun. Und ihm wird klar: Ohne die intensiv arbeitenden Forscher und Hochschullehrer im Zug wäre der Leistungsbetrieb Wissenschaft in Deutschland aufgeschmissen!

Aber natürlich – es kann nicht immer nur gearbeitet werden. Da praktisch in jedem ICE- Professoren sitzen, entfaltet sich dort wie von selbst das, was Wissenschaftspolitiker und -manager an Hochschulen so verzweifelt herzustellen suchen: ein Klima der Interdisziplinarität. Gräben zwischen Natur¬ und Geisteswissenschaftlern? Nicht im Zug! Bemerkenswertes zu interdisziplinären Wissenschaftlerverständigung leistet das ICE-Bistro auf der Rückfahrt von Tagungen. In fidelen Runden wird dort die Tagung kritisch gewürdigt und endlich auch zum Kern der Dinge vorgedrungen: Mein Gott, war der Vortrag von dem Würzig mal wieder mies, Uralt-Theorie und eine Billig-Studie. Quick-und-Dirty-Forschung. Dass der sich mit so was hinstellt! Was ist eigentlich mit dem Bauerschmidt? Hat er den Ruf erhalten? Was, der Mayer hat einen neuen Sonderforschungsbereich? Ausgerechnet der! Zum Schluss noch ein kleiner Tipp und ein großer Vorschlag für die Bildungs- und Wissenschaftsminister. Der Tipp: Bei der Rückreise von Tagungen trinkt man ja gerne mit den Kollegen ein oder zwei Glas Wein. Das Mini-Weinfläschchen kostet bei der Bahn aber so viel wie ein Premier Cru und schmeckt wie Glykolwein. Deshalb lieber den eigenen Wein mitnehmen und sich Reiseweingläser besorgen. Die schauen aus wie normale, nur haben sie keinen Stil. Lassen sich also leicht und ohne Schaden transportieren. Ich habe so etwas schon lange, hat mir eine Kollegin geschenkt, als wir im Zug – wo sonst? – meine Habilitation gefeiert haben.

Und der große Vorschlag: Liebe Frauen und Herren Minister, wenn Sie sparen wollen, dann fördern Sie das Bahnfahren der Wissenschaftler. Mehr und noch kürzere Zeitverträge, keine Residenzpflicht mehr für Professoren am Hochschulort. Stattdessen für jeden kostenlos die Bahncard100. Sie werden sehen: Die Wissenschaftler arbeiten nur noch in der Bahn und brauchen keine teuren Büros mehr in der Universität! Vorausgesetzt, die Netze für Handy und Internet werden besser, ist auch die Betreuung der Studenten kein Problem. In der Pilotphase könnten Seminare und Vorlesungen im Zug veranstaltet werden. Universitätsgebäude würden komplett überflüssig. Willkommen in der Bildungsbahn Deutschland!

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