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Es kamen Menschen

Die Kriege und Krisen dieser Welt haben den Internationalisierungsprozess an deutschen Hochschulen beschleunigt, was von den Betroffenen nicht immer selbst gewählt ist. So kommt auch der akademische Sektor unter Druck, Hilfe für Geflüchtete zu leisten. Doch gerade in der Wissenschaft ist das schwierig. 

Wäre er nicht gegangen, dann wäre er heute vielleicht nicht mehr am Leben. Mykyta Kravchenko, 24 Jahre alt, hat zusammen mit seiner Frau Kateryna als Assistenzarzt in einem Krankenhaus im ukrainischen Mariupol gearbeitet. Mariupol, die hart umkämpfte Hafenstadt, in der der Bürgermeister im April die Zahl der Kriegsopfer auf 20 000 Menschen schätzte. Wo russische Truppen im März eine Kinder- und Geburtsklinik in der Stadt angegriffen haben sollen. Das Paar, das im selben Monat ausgereist ist, hat heute eine Wohnung in Offenburg, belegt einen Sprachkurs an der Hochschule, hofft auf einen Neuanfang.

Kateryna und Mykyta Kravchenko sind zwei von rund 15,3 Millionen Menschen, die nach Zahlen des UN-Flüchtlingskommissariats als Folge des Krieges in der Ukraine ihre Heimat verlassen haben. Eine knappe Million von ihnen hat dabei die deutsche Grenze passiert. Manche gehen wieder, aber generell haben sie nach EU-Recht auch ohne Asylantrag eine einjährige Aufenthaltserlaubnis, die auf zwei Jahre verlängert werden kann. Zu dieser akuten Situation kommt der in seiner Stärke schwankende aber doch stetige Strom der Asylbewerber. In den Jahren 2015/16 war er besonders stark zu spüren, damals war die Zahl der Menschen mit Hoffnung auf ein Bleiberecht viermal so hoch wie heute. Aber immer noch gehen hierzulande jedes Jahr mehr als 100 000 Asylanträge ein. Das macht die Bundesrepublik neben Frankreich zu dem am stärksten nachgefragten Aufnahmeland in der Europäischen Union. 

Am akademischen Sektor geht dieser Zustrom aus dem Ausland nicht vorüber. Laut der regelmäßigen Studie „Wissenschaft weltoffen“ des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) waren im Sommersemester 2021/22 rund 350 000 ausländische Studierende an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Bei den Nationalitäten liegen China und Indien an der Spitze, aber schon auf Platz drei folgt mit rund 16 900 Studierenden und einem Anteil von fünf Prozent Syrien. Das arabische Land zählt laut Angaben der UNO zu den weltweiten Top Five der Herkunftsländer von Flüchtlingen und führt auch die Asylstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge an. So ist es nicht überraschend, dass sich die Zahl syrischer Studierender in Deutschland in den letzten drei Jahren nahezu verdoppelt hat.

Ein weiteres Krisengebiet in der Studierenden-Statistik ist der Iran. Drei Prozent aller ausländischen Gäste kommen aus dem Staat, in dem es erst kürzlich wieder zu gewaltsamen Übergriffen an den Hochschulen gekommen ist. Im Zuge der landesweiten Demonstrationen für die Achtung der Menschenrechte gab es im November 2022 an zahlreichen iranischen Universitäten Streiks und Proteste. Polizei und Sicherheitskräfte reagierten, indem sie Hochschulgelände erstürmten und zahlreiche Studierende verhafteten. Ein Grund für die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), offiziell Solidarität zu bekunden: „Wir verurteilen die massive Gewalt, mit der insbesondere auch gegen Hochschulangehörige vorgegangen wird, die sich Gedanken um Gegenwart und Zukunft ihres Landes machen“, sagte HRK-Präsident Prof. Dr. Peter-André Alt.

Am Anfang steht das Deutschlernen

Studierende aus der Ukraine spielen statistisch bisher keine große Rolle. Das liegt daran, dass von der Ankunft der ersten Geflüchteten im März dieses Jahres bis heute noch nicht genügend Zeit vergangen ist. Denn für den Zugang zu einem Studium müssen Deutschkenntnisse auf dem Niveau C1 des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen nachgewiesen werden. Diese in Kursen zu erwerben, dauert ungefähr eineinhalb Jahre – „wenn die Betroffenen dranbleiben“, sagt Vera Vanié, Stellvertretende Leiterin des International Centers der Hochschule Offenburg. Deutschkurse zur Studienvorbereitung gibt es hier seit 2016, finanziert mit Mitteln des DAAD-Programms „Integra“. Kateryna und Mykyta Kravchenko, die seit acht Monaten in Deutschland sind, nehmen hier teil. Aber auch viele deutlich jüngere Menschen. Nach den Zahlen des Bundesministeriums des Inneren sind rund 30 Prozent der Ukraine-Flüchtlinge Kinder und Jugendliche. Dieses Bild spiegelt sich auch hier: Viele Teilnehmer sind 17 Jahre alt, haben ein ukrainisches Abitur. Zu Beginn seien sie oft bedrückend still, einige „mit leerem Blick“, erzählt Vera Vanié, mit der Zeit könnten sie dann aber wieder lächeln. Was vielleicht auch daran liegt, dass sich die Hochschule um soziale Integration bemüht: Ehrenamtliche Helfer, die russisch sprechen und mit den Neuankömmlingen einen Kaffee trinken gehen, picknicken oder einen Stadtbummel machen. Nur die wenigsten Teilnehmer dieser Angebote haben eine Langzeit-Planung, schätzt Vera Vanié: „Die Hoffnung ist sehr groß, dass es nur ein Zwischenspiel ist.“ Für Mykyta Kravchenko ist das anders, er hat ein klares Ziel vor Augen: Acht Semester seines Medizinstudiums in der Ukraine wurden anerkannt. Sobald die Deutschkenntnisse ausreichen, möchte er weitere zwei Jahre studieren und dann als Arzt arbeiten.

Akademische Mobilität unter politischem Druck betrifft natürlich nicht nur die Studierenden. Auch Wissenschaftler verlassen ihre Heimat auf der Suche nach einem sicheren Arbeitsplatz. Für sie haben die Universität zu Köln und die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn in diesem Herbst ein unbürokratisches Hilfsangebot organisiert. Die „Cologne Bonn Academy in Exile“ richtet sich an Forschende aus der Ukraine. Aber auch Wissenschaftler aus der russischen Föderation können sich bewerben, wenn sie sich nachweislich gegen die politische Führung ausgesprochen haben und aus diesem Grund Repressalien hinnehmen müssen. Jeweils acht Kandidaten werden an den beiden Hochschulen aufgenommen, bekommen Büroräume gestellt und erhalten administrative Hilfe, um sich in die lokale wissenschaftliche Gemeinschaft einzugliedern. Die Finanzierung für ein Forschungsprojekt müssen sie jedoch selber mitbringen oder vor Ort akquirieren. Ziel dieses Programms sei eine „kurzfristige Notfallaufnahme“, sagt Dr. Martin Aust, Professor für Geschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bonn. 

Die Zielrichtung ist allerdings nicht nur humanitär: „In der Region ist ein ganzer Wissenschaftszweig zusammengebrochen. Wir Forscher stehen zwar in Konkurrenz zueinander, sind aber auch aufeinander angewiesen.“ Die Academy soll regionalspezifisches Wissen bewahren, vor allem im Bereich der europäischen Geschichte und der vergleichenden Linguistik, Rechts- und Politikwissenschaft. 

Stark Nachgefragte Förderprogramme

Was die beiden rheinischen Universitäten im Kleinen und mit eigenen Mitteln stemmen, leistet bundesweit die Alexander von Humboldt-Stiftung. Aus ihr ging 2016 das erste deutsche Schutzprogramm für gefährdete Forscher, die Philipp Schwartz-Initiative hervor. Außerdem ist sie für die europaweite Auswahl der Kandidaten im Programm „MSCA4Ukraine“ zuständig: Hier fördert die Europäische Union im Rahmen der Marie Skłodowska-Curie Actions (MSCA) mit einem Gesamtbudget von 25 Millionen Euro Hochschulen, die ukrainische Forscherinnen und Forscher aufnehmen wollen. Für beide Programme, sagt Referent Frank Albrecht, läge aktuell bereits eine außerordentlich hohe Zahl von Anfragen vor. Von 160 Anträgen auf Fellowships der Philipp Schwartz-Initiative seien 100 aus der Ukraine eingereicht worden. Und bereits einen Monat nach Öffnung des „MSCA4Ukraine“-Programms Ende Oktober seien die Gelder so gut wie erschöpft. 

Vorher führte die Türkei die Liste der Länder mit den meisten Hilfsanträgen an. Viele Universitätsangehörige hatten dort im Jahr 2016 die Petition „Academics for Peace“ unterzeichnet und damit offiziell das Vorgehen der türkischen Regierung in den kurdischen Regionen kritisiert. Als Folge wurden sie gezwungen, ihre Arbeit aufzugeben, und teilweise der terroristischen Propaganda angeklagt. Über einige Stipendiaten und ihre Herkunftsländer, so Albrecht, bewahrt die Stiftung bewusst Stillschweigen, weil gerade bei politisch Verfolgten auch in Deutschland eine Entdeckung durch ausländische Geheimdienste nicht ausgeschlossen sei. Trotzdem, betont der Referent, dürfe man nicht vergessen, dass die Förderung in erster Linie eine wissenschaftliche sei. Eine gewisse Schwelle der Gefährdung sei zwar Voraussetzung, aber jenseits dieser Schwelle zähle nicht die persönliche Notlage, sondern die wissenschaftliche Qualifikation und die Passung zur aufnehmenden Einrichtung. Die Philipp Schwartz-Initiative knüpft die Vergabe ihrer Gelder daran, dass „ein erfolgversprechender Neustart in eine wissenschaftliche bzw. wissenschaftsnahe Karriere in Deutschland wahrscheinlich erscheint“ – und die aufnehmende Hochschule dafür die entsprechenden Weichen gestellt hat.

Deutschland ist „herausfordernde Umgebung“

Schaut man in die Personalstatistik der Hochschulen, dann zeigt sich, dass dieser Weg kein einfacher ist. Beim internationalen Wissenschaftspersonal liegen auf den ersten Plätzen der außereuropäischen Herkunftsländer Indien, China, die USA, Russland und der Iran. Die Türkei, Syrien, die Ukraine und Afghanistan, laut Alexander von Humboldt-Stiftung die häufigsten Herkunftsländer der Philipp Schwartz-Fellows, sind nicht vertreten. Noch deutlicher wird das Bild beim Blick auf die internationalen Professuren: Bis auf Russland und die USA werden sie überwiegend an Habilitierte aus Europa vergeben.

„Wir wissen, dass Deutschland für exilierte Forschende eine extrem herausfordernde Umgebung darstellt und hinsichtlich Diversität noch großes Potenzial besteht“, formuliert Frank Albrecht sehr vorsichtig. Immerhin 65 Prozent aller Philipp Schwartz-Fellows melden nach seinen Angaben zurück, dass sie eine Anschlussstelle gefunden haben. Wobei auch eine Beschäftigung im wissenschaftsnahen Umfeld zählt. Für manche Länder sei auch gar kein höheres Ziel zu erreichen.

Wissenschaftler aus Afghanistan zum Beispiel hätten teilweise nicht promoviert und müssten sich hier nun dem Wettbewerb mit international erfahrenen europäischen Postdocs stellen. Für sie wurde deshalb extra eine Brückenförderung eingerichtet, die auf Karriereoptionen auch außerhalb der Wissenschaft zielt – allerdings auch nur mit 20 Plätzen, die schnell vergeben waren. 

Studierende mit Fluchthintergrund haben es da leichter. Für sie sind noch viele Wege offen. Mykyta Kravchenko zum Beispiel blickt optimistisch in seine berufliche Zukunft: „Viele Leute sagen, dass es in Deutschland einen Mangel an medizinischem Personal gibt. Also denke ich, dass es kein großes Problem sein wird, eine Stelle zu finden.“ Außerdem hat er für den Notfall auch einen Plan B: Zurzeit jobbt er in einem Altenheim. Falls es mit dem Medizinstudium nicht klappt, kann er sich vorstellen, sich in diesem Bereich weiterzuentwickeln. //


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