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Die Weitermacher

Der russische Angriffskrieg erschwert den Alltag an den ukrainischen Hochschulen. Trotzdem herrscht Aufbruchstimmung. Auch weil es Menschen wie die Rektorin Tetyana Nagornyak gibt, die fest daran glauben, dass in den Hochschulen die Zukunft des Landes liegt.

Kateryna Lapchevska, Anna Raksha und Dariya Kryvonos sitzen in einem kleinen Seminarraum im Hauptgebäude der staatlichen Wassyl-Stus-Universität Donezk. Sie sind spät dran. An diesem Tag haben mal wieder die Alarmsirenen geheult. Vier lange schrille Töne, durch Lautsprecher in der Stadt, geechot von Hunderten Handys, auf denen die App „тривога!“ installiert ist. Fast jeder in der Ukraine hat diese App, die schrillt, wenn die Gefahr vor russischen Bomben- oder Drohnenangriffen besteht. Kateryna Lapchewska war zu Hause, als es losging, Anna Raksha bereits an der Uni und Dariya Kryvonos saß in der Straßenbahn. Kateryna Lapchevska wartete den Alarm zu Hause ab. Dariya Kryvonos und Anna Raksha trafen sich in dem Bunker, den sich die Hochschule mit einem Einkaufszentrum in der Nähe teilt. Nach knapp 40 Minuten erklingen die erlösenden zwei Sirenen-Töne, die das Ende des Alarms kennzeichnen.

Kateryna Lapchevska ist 19 Jahre alt und im vierten Jahr ihres Jura-Studiums, Anna Raksha ist 20 und studiert seit vier Jahren Politikwissenschaften auf Bachelor und Dariya Kryvonos, ebenfalls 20 Jahre alt, hat das zweite Jahr ihres Englisch- und Deutsch-Studiums abgeschlossen. Die drei sind momentan nur selten an der Hochschule. Anna Raksha, die auch Studierendenvertreterin ist, sagt: „Wir Studierende haben drauf gedrängt, dass wir viel online studieren können, zu Hause fühlen wir uns sicherer.“ Obwohl sie sich an die ständigen Alarme ein Stück weit gewöhnt haben, denn eigentlich ist es seit vielen Wochen relativ ruhig gewesen. Kateryna Lapchevska sagt: „Es ist normal geworden. Aber immer dann, wenn etwas passiert, von dem wir damit rechnen müssen, dass es die Russen verärgert, habe ich Angst.“ 

Heute war das der Fall: Es ist der 22. September, am Vortag gab es einen Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine. 200 ukrainische Gefangene sind im Austausch für den prorussischen Politiker und Oligarchen Viktor Medwedtschuk, einen Vertrauten von Kremlchef Wladimir Putin, freigelassen worden. Unter den Freigelassenen sind auch Kommandeure des Asov-Regiments, die monatelang im Asov-Stahlwerk in Mariupol ausharrten und den Russen trotzten. Einer von ihnen kommt aus Winnyzja und ist Kommilitone der drei Studentinnen. „Mit der Freilassung der Gefangenen kommen wir dem Sieg einen Schritt näher und deswegen müssen wir mit der Rache der Russen rechnen“, sagt Kateryna Lapchevska, die seit der Kindheit mit ihm befreundet ist und sich auf seine Rückkehr freut.

Tarnnetze, Verdunklungsfolien 

Die Wassyl-Stus-Universität Donezk, an der die drei studieren, befindet sich, anders als ihr Name es nahelegt, nicht in Donezk, sondern in Winnyzja, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz in der West-Ukraine. In die 400 000 Einwohner-Stadt ist die Hochschule 2014 umgezogen, nachdem Donezk von prorussischen Milizen eingenommen worden war. Winnyzja ist eine ruhige, eher verschlafene Kleinstadt. Hauptsehenswürdigkeit ist ein alter Wasserturm, der am Rande eines kleinen Parks steht. In der Innenstadt gibt es ein paar Gebäude aus der Jahrhundertwende. Doch nach wenigen Gehminuten befindet man sich an großen Ausfahrtstraßen, gesäumt von sozialistischen Betonbauten. An so einer Ausfallstraße befindet sich auch das Hauptgebäude der Universität, ein schmuckloser grauer Betonbau, fünfgeschossig. Das Gebäude war mal eine Fabrik. Bevor es zum Uni-Gebäude umfunktioniert wurde, wurden hier künstliche Diamanten hergestellt. Dass Krieg herrscht, zeigt auch das Gebäude: Der Eingangsbereich ist mit Sandsäcken verbarrikadiert und mit Tarnnetzen kaschiert, die nur zu einer Tür den Zugang offen lassen. An den Fenstern hängt Verdunklungsfolie. In der halbdunklen Eingangshalle hängen die Bilder der Helden: Alumni und Studierende der Universität, die der ukrainischen Armee zu militärischen Erfolgen verholfen haben. Es sind Bilder von bewaffneten Männern, die in Militärkleidung posieren. Unter ihnen ist auch der jetzt freigelassene Kommilitone aus dem Asov-Regiment. Den lebenden Helden gegenüber hängen an einer messingfarbenen Gitterwand die Bilder derjenigen Studierenden, die im Krieg ihr Leben verloren haben. Bisher sind das sechs junge Männer.

Maßgeblich für die Geschicke der Hochschule und das Wohlergehen der Studierenden verantwortlich ist die Vize-Rektorin für Studium und Lehre, Prof. Dr. Tetyana Nagornyak. Die 49-Jährige sitzt an ihrem Schreibtisch in einem großen Büro in der vierten Etage. Sie trägt eine dunkle Bluse mit Spitzenbesatz und knallroten Lippenstift, die dunkel gefärbten Haare sind halblang geschnitten. Nagornyak ist ein herzlicher Mensch. Besuchern schüttelt sie erst die Hand und umarmt sie dann. Über die gefallenen Studierenden ihrer Hochschule sagt sie mit Tränen in den Augen: „Das sind die Verluste, das ist unser Braindrain. Und je länger dieser Krieg andauert, desto mehr Menschen werden ihm zum Opfer fallen.“ Dann atmet sie kurz tief durch und lächelt wieder. Nagornyak, die Mutter einer erwachsenen Tochter ist, hat viel zu tun. Morgen in aller Herrgottsfrühe wird sie zu einer Dienstreise aufbrechen. Sie muss nach Warschau, mit dem Auto. Flüge gibt es nicht, die Bahnen sind meist restlos ausgebucht. Sie wird am Steuer sitzen, ihre Kollegin, die das Dezernat Internationalisierung leitet, auf dem Beifahrersitz. Fast 900 Kilometer müssen die beiden zurücklegen. Sie besuchen Studierende, die ins Nachbarland geflüchtet sind und von der Universität Warschau und der Warsaw School of Economics aufgenommen wurden. „Wenn sie nicht hier sein können, dann gehe ich sie besuchen“, sagt Nagornyak und lacht. Die Studierenden haben eine Tagung organisiert, an der sie teilnehmen wird. Es wird um die Zukunft der Ukraine nach dem Krieg gehen. Und sie will ein Memorandum of Understanding mit der Universität Warschau unterzeichnen, um die Zusammenarbeit der beiden Hochschulen zu festigen. Normalerweise dauert die Fahrt in die Hauptstadt des Nachbarlandes circa zehn Stunden. Morgen werden die beiden Frauen wahrscheinlich deutlich länger brauchen, denn das Passieren der Grenze läuft in Kriegszeiten nicht mal eben so. „Das macht nichts. Ich bin eine gute Autofahrerin“, sagt Nagornyak, tut, als ob sie ein Lenkrad in den Händen hält und lacht wieder. 

Von Donezk nach Winnyzja

Tetyana Nagornyak ist Politikwissenschaftlerin, lehrt auch noch und betreut einige Doktorandinnen. Die Geschichte ihrer Hochschule ist turbulent, verbunden mit Namenswechseln und vor wenigen Jahren einem überstürzten und unfreiwilligen Umzug. Die Universität wurde 1937 als Staatliches Pädagogisches Institut gegründet, in Donezk, einer Stadt im Südosten der Ukraine, die mehr als doppelt so viele Einwohner hatte wie Winnyzja, weit weg von vom heutigen Standort der Hochschule. In den 1960er-Jahren entstanden die Fakultäten Biologie und Physik und aus dem Institut wurde eine Universität, die Staatsuniversität Donezk. In den 1970ern und 1980ern zählte sie zu den Spitzenhochschulen der Sowjetunion, residierte in einem Neubau mit Laborräumen, Büros und Hörsälen, der nach damaligem Standard top war. Bilder aus dieser Hochzeit hängen heute im Keller der Hochschule.  [...]

Den komplette Text lesen Sie in der Printausgabe.

ZUR ENTSTEHUNG DIESER REPORTAGE

Annick Eimer, Jahrgang 1975, ist Journalistin für Wissenschafts- und Hochschulthemen und Pauschalistin bei der DUZ. Sie reiste für diesen Beitrag Ende September nach Kyiv und Winnyzja. Zu diesem Zeitpunkt gab es kaum Luftangriffe in der
Zentral-Ukraine. Sie ist mit der Frage, wie überhaupt im Krieg ein Alltag an den Universitäten möglich ist, angetreten. Sie war beeindruckt von den Menschen, die sie getroffen hat, von ihrem Willen, nicht nur dem Angriff Russlands zu trotzen, sondern ungeachtet des Krieges im Land, die Reformen in der Hochschul- und Forschungslandschaft voranzutreiben.

Lisa Bukreyeva, Jahrgang 1993, ist Fotografin in Kyiv. Sie reiste Ende Oktober nach Winnyzja, um ihre Eindrücke von der Wassyl-Stus-Universität Donezk fotografisch festzuhalten. Als sie die Reise antrat, gab es seit einigen Tagen täglich Angriffe durch die russische Armee. Sie fuhr mit dem Auto nach Winnyzja und vermied den morgendlichen Berufsverkehr, weil der immer wieder Zielscheibe der russischen Drohnen-Angriffe war. Sie sagt: „Ich hatte keine Vorstellung davon, was es bedeutet, ein besetztes Gebiet zu verlassen und eine ganze Universität und ihre Geschichte mitzunehmen und in die Zukunft zu tragen. Aber hier geht es in erster Linie um Menschen, nicht um Gebäude oder Territorien. Ich bin wirklich froh, dass diese Menschen diesen Schritt gewagt haben und die Uni trotz allem noch existiert.“

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