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Über Bibliotheken

Wer sich regelmäßig in einer Bibliothek oder gar in mehreren Bibliotheken aufhält, kennt das Phänomen des Lieblingsplatzes. Für den einen ist es in der Mitte des Lesesaals, für den anderen ein Ort ...

... der von Büchern umgeben die beste Konzentration ermöglicht. Wieder andere schätzen den Überblick und begehren insbesondere jene Plätze, die sich auf einer Galerie aneinanderreihen. Jede Bibliotheksarchitektur lädt offenbar dazu ein, ihr etwas hinzuzufügen, das sie als naheliegende oder eher entfernte Option ermöglicht oder gestattet. In Anlehnung an die von Umberto Eco gewählte Gegenüberstellung von „Verbergen“ und „Finden“ gilt dieses Prinzip nicht nur für die Objekte der Bibliothek, sondern auch für ihre Nutzerinnen und Nutzer. Das Geheimnis einer Bibliothek liegt also nicht nur in, sondern auch zwischen den Regalen.

Ähnlich verhält es sich mit den Techniken wissenschaftlichen Arbeitens. Sie stehen am Anfang vieler Curricula, und doch sind sie allenfalls ein erster Kompass. Wer nach einer ersten systematischen Suche tatsächlich noch den Weg zwischen die gut gefüllten Regale wählt, entwickelt rasch ein Gefühl für das Bewusste und das Zufällige. Die Nachbarschaft des Treffers nach Katalogsuche kommt einem plötzlich auch interessant vor. Und manche mögen sich an dieser Stelle an die faszinierende Idee von Jorge Luis Borges erinnern, wonach „sämtliche Bücher, wie verschieden sie auch seien, aus den gleichen Elementen bestehen: dem Abstand, dem Punkt, dem Komma, den zweiundzwanzig Lettern des Alphabets.“ Und nicht zuletzt die Vorstellung der totalen Bibliothek, die alles enthält, „was sich irgend ausdrücken läßt“.

Nun haben viele Bibliotheken auch beeindruckende Sprünge in die Welt des Digitalen unternommen und damit die Vorstellung eines Universums beflügelt, das nichts Übereinstimmendes mehr kennt und neue Abenteuer eröffnet. Unendliche Wege scheint der Patchwork-Gedanke zu nehmen, auch die Wertschätzung von Quellen, die der wissenschaftlichen Arbeit offenstehen, gerät angesichts wiederkehrender Formen von Fahrlässigkeit auf den Dauerprüfstand. Zugleich wird evident, auf wie vielen Ebenen die Werkzeuge der Wissenschaft falsch oder ungeeignet Verwendung finden. In der „Xerozivilisation“ (Eco) war es die Kopie, die eigentlich dem Lesen dienen sollte, aber auch Stapelbildungen begünstigte. Nun wird häufig schneller gelesen und damit etwas beschrieben, was einer Ungeduld gegenüber dem Text entspricht. Dazu passt das Ergebnis einer Studie von Andrew Abbott, der eine Tendenz zu allgemeineren Quellenhinweisen nachweisen konnte. Wurde also früher exakt auf eine bestimmte Textstelle verwiesen, begnügt man sich heute gerne mit dem Hinweis auf Autor und Jahreszahl.

Die Konsultation des Buchs im Lesesaal steht für die klassische Tradition der Bibliothek. Eco verwandte diese Formulierung im Rahmen seiner neunzehn Merkmale einer schlechten Bibliothek. In dieser „Regelanstalt“ gibt es für jeden immer nur ein Buch, denn: „Die Bibliothek muß das kreuzweise Lesen mehrerer Bücher erschweren, da es zum Schielen führt.“ Dennoch steht das gleichzeitige Bearbeiten mehrerer Quellen doch immer noch für einen Arbeitsmodus, der aus einem nach außen Unordnung vermittelnden Papierberg einen lesbaren Text mit Struktur werden lässt. Hier vereint sich ein Pflichtprogramm mit der Neugier des Nutzers, aus einem vorgegebenen Thema soll mehr werden als die Wiederholung von bereits Bekanntem. Auch so wird nachvollziehbar, warum es so viele verschiedene Texte gibt.

Ebenso sind die Pausen wichtig. Selten nur darf sich die Tasse zwischen der Literatur verbergen. Die gelegentlich als trocken bezeichnete Materie darf nicht versehentlich befleckt werden. Alles, was dem Narrativ der Bibliothek zuwiderläuft, muss einen gesonderten Platz finden. In Borges‘ „Die Bibliothek von Babel“ etwa gibt es „zwei winzige Kabinette. Im einen kann man im Stehen schlafen, im anderen seine Notdurft verrichten.“ Solange das erste geräuschlos bleibt, wird es als Erschöpfungszustand allenthalben akzeptiert. Es zeigt ja auch, dass Ruhe nach wie vor das oberste Gebot ist. Die Bibliothek des 21. Jahrhunderts weiß diese Voraussetzung sehr zu schätzen. Sie bietet beispielsweise schalldichte Einzelkabinen, die das Eintauchen in den Text oder die zu bearbeitende Quelle unterstützt. So tief kann man gelegentlich eindringen, dass eine kleine Pause im Stehen ohne Sturzgefahr ausgehen könnte. Eco beschrieb noch sogenannte Boxen, also Rückzugsflächen, die der Konzentration dienlich sein sollen. Jetzt schauen wir mehr auf „intelligente Terminals“, die Lyotard bereits Ende der 1970er Jahre als neue Assistenten der akademischen Welt beschrieben hatte.

Es vermischen sich also Zonen der Offenheit mit Zonen des Rückzugs. Der „Third Space“-Gedanke vollzieht sich durch die Einbindung von Großzügigkeit im Bereich der architektonischen Gestaltung. Bereits 1981 fiel doch tatsächlich der Begriff der „lustvollen Bibliothek“ (Eco), der den vertrauten Gedanken, dass Universitäten immer auch Heiratsmärkte sind, auf den Alltag zwischen Buchregalen übertrug: die Möglichkeit der Begegnung, der Plausch im Café oder auf dem Sofa der Lounge, das dem Umfeld angemessene leise Gespräch in einer Bücherschlucht. Das vermeintlich Systemfremde scheint die Attraktivität des Ortes zu steigern. Auch „Starbucks“-Effekte wurden in der jüngeren Vergangenheit beschrieben, verbunden mit der Frage, ob das bereits der neue Schlüssel zum Erfolg sein könne. Die Empirie weist in diese Richtung.

Alles in allem erlebt die Bibliothek im Kleinen, was die Universität im Großen noch stärker leben muss: ein Ort der Begegnung zu sein, in dem der eigentliche Zweck nicht immer auf direktem Weg eingefordert werden muss. Lernräume wandeln sich, Sitzordnungen werden variabel, Ecken und Nischen werden integriert: Flächenmanagement einmal anders. Die Verweildauer bemisst sich dann nicht mehr alleine am Curriculum oder dem Abgabetermin, sondern an der Sympathie, die von der Institution als Ganzes ausgeht. Nebenbei ergänzen sich dabei das Analoge und das Digitale.

Anmerkung: Dieser Essay entstand nach dem Wiederlesen von
● Jorge Luis Borges: Fiktionen. Erzählungen 1939-1944 (hier: Die Bibliothek von Babel). Frankfurt am Main 1992
● Umberto Eco: Die Bibliothek. München, Wien 1987 [zuerst 1981].

Prof. Dr. Michael Jäckel

ist Soziologe. 2002 wurde er als Professor für Konsum- und Kommunikationsforschung an die Universität Trier berufen. Seit 2011 ist er ihr Präsident.

Foto: Uni Trier

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