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„Es fehlt die kritische Masse“

Die Osteuropaforschung in Deutschland wurde zusammengestrichen und lässt sich nicht so schnell wieder aufbauen. Kooperation mit Journalisten könnte eine Perspektive bieten, meint Osteuropa-Experte Manfred Sapper

Herr Sapper, haben wir genug Russland- und Ukraine-Expertise in der Wissenschaft? Vor zehn Jahren schrieben Sie sinngemäß, die deutsche Russland- und Osteuropaexpertise sei bedrohlich gering, speziell in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften. Hat sich daran etwas geändert?

Nicht viel. In den Gesellschafts- und Sozialwissenschaften gibt es praktisch keine Osteuropaexpertise mehr. Von Know-how über die Ukraine ganz zu schweigen. Nur in der Geschichtswissenschaft gibt es zwei, drei Lehrstühle mit Ukraineprofil. Die historische Osteuropaforschung ist seit jeher auf Russland konzentriert. Das spiegelt sich auch in den Studienangeboten wider. Es gibt eine Fakultät mit einem Ukrainisch-Lektorat – doch das ist die Ausnahme. Dabei ist der Spracherwerb unabdingbar, wenn man sich wissenschaftlich mit einem Land beschäftigen will.

2016 wurde, finanziert vom Auswärtigen Amt, das Zentrum für Osteuropäische und internationale Studien (ZOiS) gegründet. Dessen Direktorin Prof. Dr. Gwendolyn Sasse gilt als Ukraine-Expertin …

Ja, sie ist exzellent. Das ZOiS ist wichtig, aber in seiner Forschung sehr stark kulturwissenschaftlich ausgerichtet. Es gibt dort keine Ökonomen, Juristen und kaum jemanden, der sich mit Geheimdiensten, Sicherheits- und Rüstungspolitik Russlands oder der Ukraine auskennt. Es ist keine Lösung, dafür auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in anderen Ländern, speziell auf amerikanische Forscherinnen und Forscher, zurückzugreifen. Deutschland und die EU haben andere Interessen als die USA. Und pensionierte Bundeswehrgeneräle, denen TV- und Radiosender die Bühne bieten, haben kaum Ahnung von der Binnenlogik Russlands und der Ukraine und ihrer Armeen.

Was braucht es denn statt dessen und darüber hinaus?

Juristinnen und Juristen mit Osteuropaprofil. Permanent geht es um Recht: Denken Sie nur an die Sanktionen, das Thema Genozid, den Urbizid in Mariupol, internationales Völkerstrafrecht. Dasselbe gilt für die Wirtschaftswissenschaften. Wichtige Stichworte sind hier die energiewirtschaftliche Transformation und die Dekarbonisierung, aber auch die politische Ökonomie der Rüstungsindustrien oder der Landwirtschaft.

Dass ein Abschmelzen von Lehrstühlen und Studiengängen kontraproduktiv ist, hätte den Hochschulen seit Jahren klar sein müssen – und erst recht der Bundesregierung und den Ressorts, die Forschungsvorhaben fördern …

Osteuropaforschung war während des Kalten Krieges „Feindforschung“. Sie wurde ausgebaut, um den Kommunismus zu verstehen. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte sich das für viele Verantwortliche in Universitäten und Politik erledigt. Doch das war eine Illusion. Selbst nach dem Ukraine­krieg wird die Konfrontation mit Diktaturen wie Russland, Belarus und China bestehen bleiben.

Wenn nun wieder mit anderen Augen auf Russland und Putin geschaut wird, ist dann wissenschaftspolitisch bei uns eine Trendwende absehbar?

Nicht so bald, denn es dürfte schwierig sein, jetzt auf die Schnelle Expertise an den Hochschulen aufzubauen.

Es fällt auf, dass auch einige Einrichtungen nicht weitergefördert werden – etwa die gemeinsame Graduiertenschule Ost- und ­Südosteuropastudien von der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität Regensburg, die mit Mitteln der Exzellenzinitiative finanziert wurde. Dort werden keine neuen Doktorandenstellen mehr ausgeschrieben. Wäre eine gezielte Förderung nicht von nationalem Interesse?

Selbstverständlich! Grundsätzlich müssen wir den Bildungsföderalismus überdenken und flexibler gestalten. Denn selbst wenn die Bundesregierung findet, es sei von nationalem Interesse, Lehrstühle an den Universitäten X oder Y zu etablieren und Studiengänge oder Graduiertenschulen nicht einzustellen, kann sie sich nicht einmischen und den Bundesländern oder Universitäten Vorgaben machen. 

Unter den ukrainischen Geflüchteten – zumeist Frauen – sind auch Wissenschaftlerinnen. Wie stehen die Chancen, sie als Expertinnen zu rekrutieren?

Es sind nicht nur Menschen aus der Ukraine. Es gibt auch einen starken Brain-drain aus Russland. Das ist ein enormes Potenzial. Aber ich befürchte, die deutschen Unis und Institutionen sind nicht flexibel genug. Es gibt natürlich befristete Lehraufträge. Aber die sind miserabel bezahlt. Und Lehraufträge schaffen keine Nachhaltigkeit. Ähnliches gilt für Cluster: Es ist eine großartige Sache, wenn instituts- oder hochschulübergreifend an wichtigen Osteuropathemen geforscht wird – aber auch Cluster bestehen nur temporär.

Die oben erwähnte ZOiS-Direktorin Gwendolyn Sasse hat einmal geäußert: Es bräuchte die Vernetzung und engere Kooperation ihrer Einrichtung mit Universitäten, am besten, indem an dem Zentrum forschende Habilitierte durch Professuren an Hochschulen angebunden würden. Stimmen Sie dem zu?

Für die Nachwuchsausbildung ja. Für die wissenschaftliche Exzellenz ist die universitäre Anbindung per se kein Qualitätsgarant. An der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gibt es gute Köpfe, die zur Einordnung des Kriegsgeschehens in der Ukraine Substanzielles zu sagen haben, ohne durch eine Professur an Hochschulen gebunden zu sein. 

Genügt deren Expertise, um die Nachfrage der Medien zu befriedigen?

Nein, denn das sind Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer. Es fehlt die kritische Masse.

Woher könnte die kommen?

Es gibt hervorragende Journalistinnen und Journalisten, die seit Jahren als Korrespondenten aus Russland und Polen berichten, die Belarus und die Ukraine sehr gut kennen und oftmals aufgrund ihrer Arbeit vor Ort empirisch fundiertere Kenntnisse als Wissenschaftler haben. Darüber hinaus verfügen sie über Urteilsfähigkeit und können schnell und gut schreiben. Dieses Potenzial sollten wir nutzen.

Vielleicht sollte man Programme auflegen, in denen Forschende und die erwähnten Journalisten und Journalistinnen für gemeinsame Vorhaben, in Lehre und Forschung, zusammengespannt werden?

Ja. Davon könnten alle Seiten profitieren. Wie immer käme es sehr auf die handelnden Personen an. Es braucht vielseitig begabte Köpfe vom Schlage des emeritierten Historikers Andreas Kappeler etwa, dem wir viele Standardwerke zur Ukraine und zu Russland verdanken. Er beherrscht aber auch jedes andere Genre und ist in der Lage, die wichtigsten Erkenntnisse kurz und präzise zusammenzufassen. Daraus ließen sich Funken schlagen! //

Dr. Manfred Sapper

ist seit 2002 Chefredakteur der Zeitschrift „Osteuropa“ der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde. Er hat Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie studiert und über die Auswirkungen des Afghanistankriegs auf die Sowjetgesellschaft promoviert.

Foto: Ole Witt

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