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Ist das noch Wissenschaft?

Nicht überall, wo Partizipation drauf steht, ist sie auch drin. Oft verbirgt sich hinter vermeintlich partizipativen Formaten herkömmliche Top-down-Kommunikation. Wenn aber Laien und Forschende wirklich auf Augenhöhe zusammenarbeiten sollen, müssen die Rollen neu verteilt werden

Plötzlich tauchten auch noch Spinnen auf. Erst waren Fliegen und Bienen gekommen, gefolgt von Schmetterlingen und Käfern. Und dann eben noch die Spinnen. „Schmetterlinge und Käfer zählen eigentlich auch nicht dazu, die sind aber von Anfang an dabei gewesen. Bei den Spinnen gab es wohl Bedenken und es hat eine Weile gedauert, bis sie sich dazu entschlossen haben, sie mit aufzunehmen“, sagt Prof. Dr. Romain Julliard, Professor für Ökologie am Naturkundemuseum in Paris.

Mit „sie“ meint er eine feste Gemeinschaft von 300 bis 500 Ehrenamtlichen, die ihn in seiner Forschung unterstützen. Sie alle arbeiten bei „Spipoll“ mit, einem Forschungsprojekt, mit dem sich das Wissenschaftler-Team um Julliard einen Überblick über die blütenbestäubenden Insekten verschaffen möchte. Die Aufgabe der Ehrenamtlichen: 20 Minuten lang alle bestäubenden Insekten fotografieren, die die Blüten einer Pflanzenart um sie herum besuchen, dann ein Foto pro Insektenart auswählen und zuschneiden, die Insekten bestimmen und diese Daten auf einer Plattform bereitstellen. Schmetterlinge, Käfer und Spinnen sind nun Teil dieser Bilderkollektionen, obwohl sie eigentlich nicht zu den Bestäubern zählen. „Das hat die Community so entschieden und da greifen wir nicht ein“, sagt Julliard.

Laien schenken Wissenschaftlern Zeit

Spipoll ist ein Citizen-Science-Projekt, zu Deutsch „Bürgerwissenschaften“. Das Prinzip: Laien schenken der Forschung Zeit. Sie sammeln Daten oder sie analysieren Daten für die Wissenschaft. Auch wenn Citizen Science seit einigen Jahren en vogue ist, ist die Methode nicht neu. Ein Grund für ihre aktuelle Popularität ist sicherlich auch die Digitalisierung. Sie macht es deutlich einfacher, an Wissenschaft interessierte Menschen zu erreichen, Daten zu verteilen und einzusammeln. Eine nicht unwesentliche Rolle könnte aber auch ein Trend in der Wissenschaft gespielt haben: „Der derzeitige Hype um die Citizen-Science-Projekte kam zeitgleich mit der Open-Science-Bewegung, die ja vor allem Forschungsdaten und Wissen für alle zugänglich machen will. Citizen Science könnte ein Teil  dieses Trends sein“, sagt Dr. Susanne Tönsmann. Sie leitete bis Ende 2021 die Partizipative Wissenschaftsakademie, eine gemeinsame Einrichtung der Universität Zürich und der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich, die von der Stiftung Mercator gefördert wird und selber Forschungsprojekte auswählt und unterstützt, an denen Bürgerinnen und Bürger beteiligt sind. 

Tönsmanns Mutmaßung passt zumindest zu dem Spirit, der in dieser Zeit auch forschungspolitisch regierte: Es war die Anfangszeit der großen Offensiven für mehr Wissenschaftskommunikation, die von Wissenschaftsverbänden und Ministerien massiv gefördert wurden. Es ging um Aufklärung, aber auch darum, sich bei den Steuerzahlern die Legitimation für Forschungsausgaben und neue Technologien zu holen. Tönsmann sieht diese Entwicklung etwas kritisch: „Gegen die Projekte an sich ist nichts einzuwenden. Allerdings hat man manchmal den Eindruck, dass schon in den Ausschreibungen die Erwartung geäußert wird, dass Projekte so ‚shiny‘ sein müssen, dass sie auch mediale Aufmerksamkeit bekommen.“

Das Sammeln von Daten ist nur ein kleiner Teil

Ihre Glanzzeit hatten die Citizen-Science-Projekte in den 2000er-Jahren. Seit ein paar Jahren hat sich ein neues Buzz-Word dazugesellt und das lautet Partizipation. Verwirrend ist, dass es nicht selten mit den Citizen-Science-Projekten gleichgesetzt wird, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass die Definition noch sehr vage ist: Im Kern hat man sich in der Wissenschaftsgemeinschaft nur darauf einigen können, dass partizipative Projekte solche sind, die ein freiwilliges und aktives Engagement verschiedener Akteure der Gesellschaft in der Forschung beinhalten. Tönsmann: „Ich lese das als eine Weiterentwicklung. Das Sammeln von Daten, wie es bei Citizen Science passiert, ist ja nur ein kleiner Teil eines Forschungsprojektes und zwar der, bei dem es am einfachsten ist, Akteure aus der nicht wissenschaftlichen Gemeinschaft einzubinden. Spannend wird es, wenn man zur Formulierung der Forschungsfrage oder zur Interpretation der Ergebnisse Laien hinzuzieht. Und da bewegt sich etwas. Es scheint so, dass zunehmend die Erkenntnis wächst, dass man auch an anderen Stellen im Forschungsprozess die Gesellschaft einbeziehen sollte.“ 

Für diese These spricht auch das 2016 veröffentlichte Grundsatzpapier des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zum Thema Partizipation. Dem folgte 2020 ein Grünbuch, das den Anspruch erhebt, eine Partizipationsstrategie für die Forschung zu entwickeln. Die Begründung für diese Entscheidung wird im Vorwort formuliert: „Gerade wenn – wie aktuell – die Demokratie weltweit unter Druck gerät und Gesellschaften sich in tiefgreifenden Transformationsprozessen befinden, gewinnen partizipative Formate an zusätzlicher Bedeutung.“ Ziele der Partizipation seien, die soziale Robustheit von Forschungspolitik und Forschung zu erhöhen, das Wissen der vielen zu nutzen, Interesse zu wecken, Vertrauen zu schaffen und Wissenschaftsmündigkeit zu fördern. Erstaunlich dabei ist, dass das BMBF vor allem die Rolle der Wissenschaftskommunikation in diesem Prozess hervorhebt und weniger die Forschung an sich ins Visier nimmt. Die Wissenschaftskommunikation habe sich in den letzten Jahren von rein wissensvermittelnden hin zu dialogischen und partizipativen Formaten entwickelt und greife so das Bedürfnis von Bürgerinnen und Bürgern zur Mitwirkung auf, heißt es unter anderem in dem Buch. 

Anwenden tradierter Formeln

Nicht von ungefähr kommt also, dass das „Jahr der Wissenschaft“ (siehe Kasten links) ebenfalls im Zeichen von partizipativer Forschung steht. Das Jahr der Wissenschaft ist die alljährliche Marketingkampagne des BMBF. Auf einer Internetseite werden Bürgerinnen und Bürger aufgefordert, ihre persönliche Frage über einen Chatbot an die Wissenschaft zu stellen. Mit den Fragen wolle man Impulse für potenzielle Zukunftsfelder und zukünftige Forschungsvorhaben geben, heißt es. Die Bürgerinnen und Bürger tun sich offensichtlich noch etwas schwer mit dem Format, zumindest halten sich die meisten Kommentare eher an die lange geübte Formel „Bürger stellt eine Frage, Wissenschaftler antwortet“. 

Vielleicht hätten es die Macher der Kampagne leichter, wenn die Impulse weniger vom Geldgeber und stärker aus der Wissenschaft kämen. Ansätze dafür gibt es durchaus: Es gibt partizipative Projekte wie zum Beispiel die Reallabore, Geschichtswerkstätten, Patienteninitiativen und Projekte von Geografen und Stadtplanern, die sich gemeinsam mit Anwohnern um die Entwicklung ihrer Quartiere kümmern. Was es aber auch gibt: Forscherinnen und Forscher, die die Partizipation zum Grundprinzip ihrer Forschung erheben. Eine der prominentesten Vertreterinnen dieses Ansatzes ist Prof. Dr. Hella von Unger von der Ludwig-Maximilians-Universität München, Sozialwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Qualitative Sozialforschung. Sie hat eines der wenigen Bücher über partizipative Forschung verfasst. Ihr Ansatz geht deutlich weiter als die wachsweichen Formulierungen, die man sonst liest: „Partizipative Forschung ist eine engagierte Forschung, die die Möglichkeiten der partnerschaftlichen Zusammenarbeit und empirischen Forschung nutzt, um die sozialen, politischen und organisationalen Kontexte, in die sie eingebettet ist, kritisch zu reflektieren und aktiv zu beeinflussen“, schreibt sie. 

Vorläufer ist die Aktionsforschung

Von Unger beruft sich gerne auf die „Aktionsforschung“, einen Begriff, den, so von Unger, der deutsch-jüdische Wissenschaftler Kurt Lewin geprägt habe. Lewin, der nach Einführung der rassistischen Beamtengesetze durch die Nationalsozialisten 1933 aus Deutschland in die USA emigrierte, entwickelte dort den Ansatz, sozialwissenschaftliche Forschung für sozialemanzipatorische und demokratiefördernde Zwecke nutzbar zu machen. In Deutschland hat dieser Ansatz erst viel später, in den 1970er-Jahren, Aufmerksamkeit bekommen, beeinflusst durch die Studentenbewegung. In der gleichen Zeit machten sich Behindertenvertretungen und Patientenverbände, allen voran die Aids-Hilfe, stark dafür, in die Erforschung ihrer Behinderung und ihrer Erkrankung mit einbezogen zu werden. Laut von Unger ist die Aktionsforschung, die sie als die Vorläuferin der partizipativen Forschung sieht, in Deutschland ziemlich schnell wieder im Keim erstickt, was vor allem einer konservativen Forschungspolitik geschuldet gewesen sei. Hinzu komme, dass die qualitative Forschung in Deutschland sich in den 1980er-Jahren als politisch enthaltsame Forschung akademisch salonfähig gemacht habe, so die Forscherin in einen Vortrag, den sie auf der Tagung „Berliner Methodentreff“ 2017 hielt und der auf YouTube abrufbar ist. „Das ist einerseits gut, andererseits haben wir in gewisser Hinsicht damit das Kind mit dem Bade ausgeschüttet“, sagte sie und führte aus: „Die meisten qualitativen Forscherinnen und Forscher nutzen die Chancen der kreativen und interpretativen Zusammenarbeit mit unseren Teilnehmenden überwiegend in der Phase der Datenerhebung, aber weniger bei der Themenfindung und Zielsetzung und noch weniger in der Auswertung und Verwertung unserer Ergebnisse.“ Der Grund: Bei vielen Wissenschaftlerinnen bestehe die Sorge, in den Bann der Handlungszwänge der Praxis gezogen und eingespannt zu werden, so von Unger.

Sich auch was sagen lassen 

Von Unger sieht diese Problematik nicht und nutzt für ihre Forschung häufig den partizipativen Ansatz. Zentral dabei sei die Forschungsbeziehung, bei der Rollen und Beziehungen ausgehandelt werden: „‚Wir hören nicht nur zu, sondern wir lassen uns auch was sagen‘ heißt, ‚wir teilen die Definitions- und Deutungshoheit‘“, sagt sie. Das werfe Konflikte auf, nicht zuletzt, weil die Voraussetzungen ungleich verteilt seien. Die Frage, die man sich angesichts dieser Verschiebung der Rollen unweigerlich stellen muss, lautet: Ist das noch Wissenschaft? Von Unger beantwortet diese Frage ganz klar mit einem Ja: „Das ist eine Forschung, die an der Schnittfläche zwischen Systemen angesiedelt ist und daher auch nicht rein akademischen Kriterien des wissenschaftlichen Arbeitens entspricht, sondern Kompromisse macht.“

Kompromisse machen, das mag in den Sozialwissenschaften noch gehen. Aber wie sieht es mit rein naturwissenschaftlichen Experimenten aus? Oder in der Gesundheitsforschung, in der es am Ende meist um die Entwicklung von Therapien und Medikamenten geht? Auch in diesen Disziplinen gibt es partizipative Ansätze. Hierzulande stecken sie in den Kinderschuhen, in Großbritannien hingegen haben sie schon das Forschungssystem durchdrungen. Prof. Andrew George, PhD, ist einer der Akteure, der die Partizipation in der Forschung mit Patienten, auf Englisch: Public and Patient Involvement, kurz PPI, vorantreibt. George hat als Immunologe lange am Imperial College London geforscht, war Mitglied des nationalen Ethikrats und ist nun im Vorstand der nationalen Gesundheitsbehörde Health Research Authority. Ähnlich wie Tönsmann ist er davon überzeugt, dass die Open-Science-Bewegung Ursprung für den Aufschwung der partizipativen Forschung ist: „Das ist ein und dasselbe Mindset – man macht Forschung nicht nur für die eigene Veröffentlichung, nicht nur für die eigene Karriere, sondern für die Gesellschaft.“

Großbritannien ist Vorreiter 

Beim Thema Citizen Science winkt George ab: „Das ist eher eine Nische“, sagt er. „Dafür interessieren sich Menschen oder sie interessieren sich nicht dafür. Partizipation in der Gesundheitsforschung geht aber alle in der Gesellschaft an.“ In Großbritannien gebe es mittlerweile kein medizinisches Forschungsprojekt mehr, in dem Patienten oder Probanden nicht in den Prozess involviert werden, so George. Etabliert habe sich das vor allem, weil es politisch gewollt gewesen sei und weil die größten Förderorganisationen es infolgedessen eingefordert haben, so George. „Wer vom Wellcome Trust oder dem National Institute for Health Research Förderung für Gesundheitsforschung haben möchte, kommt nicht darum herum, sich zu überlegen, wie er die Öffentlichkeit und die Patienten einbezieht. Heute gibt es keinen Forscher in der Biomedizin mehr, der den Begriff PPI nicht kennt.“ 

Dabei geht es nicht nur um Teilhabe. Es gebe viel Evidenz dafür, dass Forschungsprojekte, in denen die Patientinnen mit involviert werden, deutlich bessere Ergebnisse erzielten, sagt George und erklärt warum: „Wenn man forscht, dann macht man seine Pläne und sagt: An dem Tag und an dem Tag und an dem Tag brauche ich Blutproben, an diesen und jenen Tagen muss ich den Patienten sehen. Der Patient aber sagt: ‚Du bestellst mich so häufig ins Labor. Es wäre schön, wenn du deinen Plan hier und da ändern würdest, dann wäre das für mich viel einfacher zu realisieren.‘“ So stiegen Probanden seltener aus Studien aus und entschieden sich eher dazu, wieder an einem Forschungsprojekt teilzunehmen, sagt George. Er sieht kein Problem darin, die Partizipation auf die Entwicklung der Forschungsfrage auszudehnen: „Als Forscher habe ich häufig genaue Vorstellungen davon, was ich gerne herausfinden möchte. Manchmal verliert man mit dieser Neugierde ein bisschen den Blick dafür, welche Erkenntnisse für die Patienten relevant sind. Durch den unmittelbaren Austausch verändert sich diese Wahrnehmung.“ //

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