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Wie die Würfel fallen

Gremienwahlen an einer deutschen Hochschule sind ein Paradebeispiel gelebter Demokratie. Fraktionen, Bündnisse, Wahlkampf, persönlicher Einsatz: So macht die geistige Elite Deutschlands sachgerechte Personalpolitik erst möglich – ein Blick hinter die Kulissen einer Alma Mater.

Vorhang auf (Der Präsident betritt die Bühne):
Willkommen, meine verehrten Damen und Herren, zur heutigen Wahl unseres Pro-Dekans im Fachbereich 5 – Angewandte Sozialwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der Erkenntnisse des Diversity-Managements. Dies ist eine besondere Wahl. Nein, ich möchte sogar sagen, eine ganz besondere Wahl. Es geht heute um eine Richtungswahl, ja sozusagen um eine Grundsatzentscheidung.
Zu bestimmen im demokratischen Prozess ist nichts weniger als die künftige Ausrichtung unseres Fachbereichs im Rahmen des Exzellenzprozesses unserer gesamtuniversitären Verantwortung mit besonderer Berücksichtigung der vielfältigen gesellschaftlichen Verpflichtungen einer multikulturellen und global orientierten Forschungslandschaft – Sie verstehen, worum es geht!
Gefragt sind in diesem Prozess wissenschaftliche Reputation genauso wie organisatorische Fähigkeiten, politisches Geschick genauso wie Weitblick, Können und Mut. Diese Eckpfeiler sachgemäßen Handelns muss der zu wählende Kandidat auf sich vereinigen können. Voraussetzungen für einen gelungenen Wahlprozess sind dementsprechend ein sachgemäßes, rationales und abwägendes Klima des Vertrauens und des gegenseitigen Respekts.“
(Vorhang zu – und wieder auf):

8.45 Uhr: Die Vertreter des akademischen Mittelbaus versammeln sich rechtzeitig vor der Wahlversammlung beim Kollegen Sch. Sein Zimmer ist zwar eng, dafür bietet es den besten Kaffee, seit Kollege Sch. von seiner Patentante zur Promotion eine original italienische Kaffeemaschine geschenkt wurde. Das sollte ihn auf dem Weg zur Habilitation motivieren und ist mittlerweile 15 Jahre her. Sch. ist noch nicht habilitiert, trinkt aber weiterhin gern Kaffee. Dass das Zimmer so klein ist, stört nicht weiter: Seit der letzten Sparrunde der Universität bei den Sozialwissenschaften zugunsten der molekularen Grundlagenforschung bei der Herstellung von Nano-Geschmacksverstärkern für Erdbeereis besteht der Mittelbau sowieso nur noch aus vier Schultern. Kollege Sch. und Kollege Mühlhorn haben mittlerweile zwei Würfel hervorgezogen. Sie sollen ihnen dabei helfen, sich für einen der beiden Kandidaten der heute anstehenden Wahl zu entscheiden.
9.05 Uhr: Es kommt zu ersten inoffiziellen Fraktionsbildungen. Auf der Damentoilette versammelt die Frauenbeauftragte eine Schar bewegter Mitarbeiterinnen und Studentinnen. Dort wollen sie, ungestört durch nichtopportune Geschlechtsvertreter in intimem Kreis die nach ihrer Ansicht unzureichenden Wahlvorschläge sichten – und verhindern. Weiteres Ziel des Treffens: Die Wahlberechtigten durch geschickten Hinweis auf die unterschiedlichen Geschlechter der bislang nominierten Kandidaten in Bezug auf ihr zu vermutendes Engagement für die Themen der Frauenbeauftragten kritisch zu sensibilisieren.
9.18 Uhr: Der Versammlungsansatz auf der Damentoilette droht in Gefahr zu geraten, als ein Mann vor der Tür mit lautem Klopfen Einlass begehrt. Er gibt dabei an, er wolle mit seinem Vorstoß dafür werben, die Belange der sexuellen Minderheiten unter den Beschäftigten und Studierenden der Fakultät besser einzubringen. Mit Hinweis auf die eindeutige Beschilderung sowie Ausstattung des gewählten Versammlungsraums weist die Frauenbeauftragte als Versammlungsleiterin dieses Ansinnen scharf zurück und fordert den Petitenten zum unverzüglichen Rückzug auf. Dieser zieht sich murrend zurück.
9.22 Uhr: Ein studentischer Vertreter des Fachbereichsrats begehrt, in einer Auflage von 500 Exemplaren auf Kosten der Fakultät Wahlkampfbroschüren zu drucken – möglichst bis 10 Uhr. Beworben wird auf den Broschüren, die er vorlegt, als Kandidat – er selbst.
9.28 Uhr: Fünf Professoren verbarrikadieren sich in der Institutsbibliothek und verrammeln den Eingang mit fünf Tischen, elf Stühlen sowie einer Gesamtausgabe der Marx-Engels-Werke. Als endgültige Sicherung dienen Aktenordner der letzen Akkreditierungsverordnung. Damit verschaffen sie sich für die nächste Stunde Ruhe vor den immer dringlicher vorgetragenen Wahlempfehlungen der Mitarbeiter des akademischen Mittelbaus. Sie bedrängen die Professoren seit 48 Stunden, sich in einer Wählergemeinschaft mit ihnen zu vereinigen und dadurch den aktiv formulierten Interessen der anderen Wählergruppen ein klares Profil entgegenzusetzen. Diese Fraktionenbildung scheitert jedoch am entscheidenden Einspruch eines Professors, der sich scharf gegen eine, wie er es nennt, weitere Nivellierung und Verflachung des wissenschaftlichen Standards an der Fakultät wehrt, die seiner Meinung nach durch die Zulassung einer Junior-Professur ohne vorhergehende mindestens neunjährige Habilitationszeit provoziert wird. Originalton des Disputs mit Vertretern des akademischen Mittelbaus, geführt durch die verrammelte Bibliothekstür: „Die sollen erst mal die Ochsentour machen, so wie ich sie machen musste! Eine Wahl-Fraktion zusammen mit dem Mittelbau? Nur über meine Leiche!“
9.34 Uhr: Die Gruppe der nichtwissenschaftlichen Mitarbeiter sammelt eine Geldspende. Ziel ist es, mit dieser Geste die noch wankelmütigen Vertreter der Behinderten in der Wahlversammlung auf ihre Seite zu bringen. Der Leiter der Fraktion der nichtwissenschaftlichen Mitarbeiter ruft dabei zu „entschiedenem Einsatz und zu einem nötigen Anspannen aller gemeinsamen Kräfte in einem solidarischen Akt für die Interessenvertretung der nichtwissenschaftlichen Mitarbeiter in der Wahlversammlung“ auf. Doch sein energischer Appell verhallt. Trotz entschiedener verbaler Unterstützung aus den Reihen der Fraktion ergibt das Sammelergebnis die Summe von 3,85 Euro.
9.58 Uhr: Die Diversity-Management-Beauftragte der Fakultät sucht verzweifelt in der Cafeteria ihre Akten, die sie zum Wahltermin zusammengestellt hat. Dort findet sich nämlich auch der Anerkennungsantrag der Arbeitsgruppe der linkshändigen Windsurfer in der Fakultät. Diese haben zugesagt, den Wahlvorschlag der Diversity-Managerin zu unterstützen, sollte ihrerseits eine positive Anerkennung ihrer Gruppe als zu unterstützende Minorität erfolgen.
10.02 Uhr: Im Sitzungsraum blättert der Wahlleiter mit wachsendem Befremden in den Akten, die er eine Viertelstunde zuvor in der Cafeteria per Zufall auf einem Tisch fand. Der Hinweis auf die Koalitionsbedingungen zwischen Linkshändern und Diversity verunsichert ihn – hatte er doch insgeheim eher die Koalition des Mittelbaus mit der Behindertenvertretung für wahrscheinlich gehalten.
10.15 Uhr: Die Professoren lösen die Blockade der Bibliothekstür auf, umgehen mit einem geschickten geografischen Schachzug die Protestveranstaltung, die die nichtwissenschaftlichen Mitarbeiter auf dem Weg zum Senatsflügel spontan organisiert haben, und begeben sich auf Schleichpfaden via Cafeteria und Putzmittelraum in Richtung Senatssaal, in dem die Versammlung stattfinden soll.
10.30 Uhr: Der Sitzungsleiter eröffnet die Versammlung. Er stellt die beiden Kandidaten vor. Weitere Kandidatenvorschläge kommen aufgrund der zerrütteten Kommunikation der beteiligten Wählergruppen nicht zustande. Gewählt wird schließlich mit einfacher Mehrheit der Hausmeister – mit drei Stimmen Vorsprung vor dem bisherigen Amtsinhaber.
11.15 Uhr: Die Beteiligten der Wählergruppen zeigen sich nach der Wahl gegenüber der universitätsinternen Presse mit dem Ergebnis außerordentlich zufrieden. Die Kommentare der Fraktionsspitzen lauten übereinstimmend: „Wir sind mit dem ausgewogenen Ergebnis absolut einverstanden. Es ist  ein Ergebnis, das wir den bewährten Prozessen einer qualifiziert gelebten Demokratie mit hohem diskursiven Anteil zu verdanken haben – ein Ergebnis, mit dem jeder an unserer exzellenten Universität hervorragend leben kann!“

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