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Wissenschaft dem Krieg zum Trotz

Der eine Wissenschaftler hat den Laptop gegen die Kalaschnikow getauscht, der andere unterrichtet online weiter: Lehre und Forschung in der Ukraine

Artilleriebeschuss und Raketeneinschläge machen Menschen vor allem in ostukrainischen Städten wie Mariupol und Charkiw das Leben zur Hölle. Die Option zum Überleben ist dort die Flucht vor der Apokalypse. Aber auch in den von Kriegshandlungen weniger extrem betroffenen Städten weiter westlich hat der russische Angriffskrieg das Leben vieler Ukrainer und Ukrainerinnen von den Füßen auf den Kopf gestellt. „Seit dem 24. Februar habe ich meinen Laptop nicht mehr aufgeklappt“, erzählt im Telefongespräch Dr. Oleksandr Polivodskyy, Rechtswissenschaftler aus Kiew und Mitarbeiter der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine.

Statt in seinem Spezialgebiet, dem Vertragsrecht in der digitalen Ära, zu forschen, hat Polivodskyy zur Kalaschnikow gegriffen. Als Mitglied der 112. Brigade der Freiwilligen Territorialverteidigung besetzt er nun Kontrollpunkte, soll Sabotageakte feindlicher Agenten verhindern und Hilfe leisten, wo sie gebraucht wird. In direkte Kampfhandlungen mit russischen Soldaten ist er bisher nicht verwickelt worden, verharrt die russische Armee doch am nordwestlichen Stadtrand. „Im Zentrum Kiews ist es vergleichsweise ruhig, aber keineswegs ungefährlich“, sagt er und erzählt, an diesem Morgen sei in der Nähe der Wohnung seines Kollegen eine Bombe explodiert, die zwei Menschen ihr Leben gekostet habe.

„Ich verteidige auch Wissenschaft und Recht“

Viele Geschäfte in der Stadt seien geschlossen, doch einen Mangel an Wasser und anderen Lebensmitteln gebe es noch nicht, eher an Medikamenten. Viele Kiewer hätten die Stadt verlassen. „Auch meine Familie ist in Sicherheit, doch ich möchte bleiben“, sagt Oleksandr Polivodskyy bestimmt. „Zunächst kämpfe ich zwar ums Überleben, doch indem ich meinen Staat verteidige und seine Werte, verteidige ich auch die Wissenschaft und das Recht. Wenn wir unseren Staat verlieren, haben wir auch kein Recht mehr. Wir werden diesen Krieg gewinnen.“ „Es ist für die Ukraine ein existenzieller Krieg, den wir gewinnen müssen“: Das sagt auch Prof. Dr. Oleksiy Kresin, ebenfalls Jurist, am Telefon.

Er ist ein Kollege Polivodskyys an der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Kiew und hat die Stadt verlassen. „Weil meine betagte Mutter nicht alleine gehen wollte, habe ich sie nach Lwiw begleitet. Wir sind hier bei Bekannten untergekommen“, berichtet er. „Lwiw ist überfüllt. Fast alle Einheimischen beherbergen Vertriebene aus den östlichen Regionen.“ Zwar sei es im ukrainischen Westen ruhiger als in Kiew und das Leben einfacher, auch was die Versorgung mit Nahrungsmitteln angehe. Ungefährlich sei es aber nicht unbedingt, könnten doch die Russen auch hier jederzeit Ziele beschießen.

Die Geschichte der Rechtswissenschaften war eigentlich Kresins bevorzugtes Spezialgebiet, doch beschäftigt er sich schon seit Jahren mit Fragen des Kriegsrechts, zusammen mit seinem Forschungsteam an dem der Nationalen Wissenschaftsakademie angegliederten Institut für Staat und Recht V. M. Koretsky. „Der Krieg hat nicht vor einem Monat begonnen, sondern vor acht Jahren, militärisch, wirtschaftlich und informationell. Darauf musste ich in meiner wissenschaftlichen Arbeit reagieren“, sagt er.

Lehren und Lernen im Luftschutzkeller

Dem Krieg zum Trotz setzt er in Lwiw seine wissenschaftliche Tätigkeit fort. „Ich habe hier Internet und kann arbeiten. Ich fühle mich dadurch privilegiert; zwar getrennt von meiner Bibliothek, doch immerhin in einem Haus weit weg von der Front - während viele Dozenten und Studenten nun in Kellern und Schutzunterkünften leben. Vor wenigen Tagen haben wir erfolgreich einen virtuellen Runden Tisch mit internationalen Experten durchgeführt. Wir bereiten eine Aufsatzsammlung mit Empfehlungen für Anwälte, Abgeordnete, Institutionen und Regierungen vor.“

Diese sei in Ukrainisch bereits den staatlichen Behörden zugegangen, werde nun ins Englische übersetzt, um auch an ausländische Regierungen, Universitäten und den Internationalen Gerichtshof in Den Haag verteilt zu werden. „Es geht um die internationale Gerechtigkeit und die Konsequenzen für sie aus Russlands Krieg gegen die Ukraine“, erläutert Kresin.

Online-Lehre hat sich etabliert

Er setzt auch seine Lehrtätigkeit an der Kiewer Nationalen Universität für Handel und Wirtschaft online fort. Das in der Coronavirus-Pandemie etablierte Fernstudium werde nun in Kriegszeiten fortgeführt. Obwohl es laut Kresin eine hohe Motivation zur Landesverteidigung gibt, heißt das nicht, dass alle Studierenden in der Armee oder in den Freiwilligenverbänden Dienst an der Waffe leisten. „Es hört sich vielleicht paradox an; aber es gibt genügend Freiwillige. Studenten und Studentinnen, die in die Armee eintreten wollen oder in eine Brigade der Freiwilligen Territorialverteidigung, müssen eine Prozedur der Rekrutierung durchlaufen. Ausgewählt wird nach militärischer Erfahrung und Tauglichkeit.“ So könnten also die meisten Studierenden an Online-Lehrveranstaltungen teilnehmen, selbst wenn sie nicht mehr am Ort ihrer Universität weilten und sogar wie einige der Studentinnen die Ukraine verlassen hätten.

Sorge um Braindrain

Sogar Universitäten in Städten nahe der Frontlinien versuchen den Forschungs- und Lehrbetrieb aufrecht zu erhalten, sagt Kresin. Allerdings werde von Charkiw berichtet, dass dort Universitätsgebäude durch Raketeneinschlag oder Artilleriefeuer zerstört worden seien, darunter das Gebäude der Rechtsfakultät. Dass nun eine Reihe ausländischer Regierungen, Universitäten und Forschungsstiftungen ukrainischen Forschern und graduierten Studierenden Stipendien und Scholarships anbieten, begrüßt er ausdrücklich. Gleichzeitig weist er aber darauf hin, es solle nicht vor allem darum gehen, ukrainische Gelehrte und wissenschaftliche Nachwuchskräfte aus dem Land zu ziehen. „Stattdessen gilt es, die wissenschaftliche Gemeinschaft in der Ukraine zu unterstützen“, sagt Oleksiy Kresin. „Denn es sollten nicht der wissenschaftliche Export und Braindrain gefördert werden. Die eigentliche Frage ist ja das Überleben von Wissenschaft, Bildung und Kultur in der Ukraine.“ //

Nachtrag: Oleksandr Polivodskyy, den unser Autor für diesen Beitrag telefonisch interviewte und von dem die Fotos stammen, ist am 19. April 2023 bei einem Fronteinsatz nahe Bakhmut gefallen. Er war Mitglied der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Kyiv-Mohyla Akademie und Mitarbeiter der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. Er hinterlässt eine Frau und zwei Kinder. (26.04.2023)

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