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Entmündigung im Namen der Zeit

Starre Fristen behindern Forschung und Karrieren. Denn manche Forschungsprozesse dauern einfach länger, als es etwa die Regelungen beim Tenure Track vorsehen. Bürokratische Standardisierung wird epistemischer Vielfalt nicht gerecht: Eine Kritik

Vor einigen Jahren berichtete uns in einer interviewbasierten Studie zur Entstehung individueller Forschungsprogramme bei Postdocs ein deutscher Postdoc von Ergebnissen bei Experimenten mit kalten Quantengasen, die völlig neue Wege in der Forschung zu eröffnen versprachen. Um diesen Wegen zu folgen, musste er mehr als zwei Jahre in einen umfassenden Umbau des Experiments in seiner Gruppe investieren. Er integrierte Technologien in das Experiment, die in dieser Kombination noch nicht verwendet worden waren. Dies war riskant: „Es gab gewisse Anhaltspunkte, dass es funktionieren kann, aber das war schon ein größeres Abenteuer […] Es hätte auch sein können, dass mein Postdoc komplett in die Hose geht.“ Nach drei Jahren gelang mit diesem Experiment jedoch etwas, das seine Fachgemeinschaft als „einen der größten Durchbrüche“ auf diesem Gebiet bezeichnete. Nach fünf Jahren als Postdoc erhielt der Physiker eine Festanstellung an einem renommierten Physikinstitut im Ausland.

Keine Chance beim Tenure Track

Trotz dieses wissenschaftlichen Erfolges hätte unser Postdoc keine der neuen deutschen Tenure-Track-Stellen erhalten können, da diesen Stellen nur eine auf vier Jahre begrenzte Postdoc-Phase vorausgehen darf. Das jüngste Förderprogramm des Bundes für 1000 zusätzliche Tenure-Track-Professuren in Deutschland basierte ursprünglich auf der Empfehlung des Wissenschaftsrates, dass „die Postdoc-Phase in der Regel vier Jahre nicht überschreiten sollte ..., um eine möglichst frühe wissenschaftliche Unabhängigkeit an den Universitäten zu gewährleisten“. Diese Empfehlung wird derzeit in eine nicht verhandelbare Grenze umgewandelt, da die Bundesregierung sich weigert, Tenure-Track-Professuren zu finanzieren, wenn die eingestellten Professoren zum Zeitpunkt ihrer Bewerbung eine Postdoc-Phase von mehr als vier Jahren hatten.

Diese bürokratische Standardisierung soll ein reales Problem lösen: In vielen Ländern weisen akademische Karrieren lange und sich weiter ausdehnende Beschäftigungszeiten mit befristeten Verträgen auf. Um diesem Trend entgegenzuwirken, wurden nicht nur in Deutschland formale Befristungen der Postdoc-Phase vorgeschlagen und teils auch umgesetzt. So haben mehrere US-Universitäten eine Befristung der Beschäftigungsdauer von Postdocs auf fünf Jahre implementiert. In Spanien legte die Regierung einen Entwurf zur Reform des Wissenschaftsgesetzes vor, mit dem ein neuer Typ von Tenure-Track-Stellen mit einer fixen Evaluationsperiode von vier Jahren eingeführt werden sollte. Dieser Plan stieß allerdings in der spanischen Wissenschaft auf starke Kritik und wird gegenwärtig erneut diskutiert.

Versuch, das System zu zwingen

Die Einführung starrer Zeitgrenzen für frühe Karrierephasen ist ein Versuch, ein veränderungsresistentes nationales Karrieresystem zu Veränderungen zu ‚zwingen‘. Die bürokratische Standardisierung würde aber dem Wissenschaftssystem nur dann nicht schaden, wenn alle Forschungsprozesse und alle darauf basierenden Karriereverläufe gleich wären. Da dies offensichtlich nicht der Fall ist, muss eine Seite des Missverhältnisses – die Forschung – nachgeben, wenn die andere Seite – Fristen für die Erlangung der nächsten Karrierestufe – unbeweglich ist. Wir sehen zwei Situationen, in denen Postdocs unabhängig von ihrer wissenschaftlichen Leistung an bürokratisch gesetzten Fristen scheitern können. 

Erstens können einheitliche, nicht verhandelbare Fristen der Vielfalt der Forschungsprozesse nicht gerecht werden. Die Dauer von Forschungsprozessen unterscheidet sich zwischen und sogar innerhalb von Fachgebieten. Ein Postdoc in der Pflanzenbiologie, der heute Gruppenleiter ist, beschrieb das Scheitern seiner ersten Idee für einen langfristigen Forschungsplan: „Das hat überhaupt nicht funktioniert, weil die Konstrukte, die ich machen wollte, die haben in Arabidopsis einfach nicht funktioniert. Wir wissen immer noch nicht, warum nicht, aber es war nicht mehr zu reparieren.“ Auf die Frage der Interviewerin, wann er das gemerkt habe, sagte er: „Ungefähr ein Jahr nach meinem Postdoc-Stipendium.“ Ähnliche Misserfolge erlebten Experimentalphysiker, die Jahre damit verbrachten, komplexe Experimente aufzubauen oder umzubauen, bevor sie überhaupt irgendwelche Daten erhielten. Historiker erlebten, dass ihr ursprünglicher Plan nicht funktionierte, weil das ­Archivmaterial nicht ergiebig genug war. Solche Postdocs müssten ihre Laufbahn aus Gründen beenden, die nichts mit der Qualität ihrer Forschung zu tun haben.

Zweitens können Postdocs, die in Forschungsgruppen langfristig als Spezialistinnen und Spezialisten gebraucht werden und arbeiten wollen, länger als durch bürokratische Standards vorgesehen in befristeten Beschäftigungsverhältnissen bleiben. In der Forschung entstehen Arbeitsrollen, für die bislang keine angemessenen Stellentypen existieren. Manche hochspezialisierten Postdocs erfüllen wichtige Funktionen in Forschungsgruppen, ohne sich auf die Leitung einer Gruppe vorzubereiten. Manche von ihnen wollen das auch gar nicht. Sie könnten in Forschungsgruppen anderer kontinuierlich beschäftigt werden, weil ihre Beiträge für den Erfolg der Gruppe wesentlich sind. Starr begrenzte Befristungen würden nicht nur die Karriere der Spezialisten beenden, sondern auch notwendiges Wissen aus den Forschungsgruppen entfernen.

Die bürokratische Standardisierung von Höchstbefristungen ignoriert die aus der epistemischen Vielfalt der Forschung entstehende Varianz in der Dauer von Postdoc-Phasen. Sie zwingt die wissenschaftlichen Gemeinschaften dazu, ihr Urteil über Bewerberinnen und Bewerber auf die Frage zu reduzieren, ob sie das in dem festgelegten Zeitrahmen erreichbare Leistungsniveau erreicht haben – unabhängig davon, ob an diesem Leistungsniveau ihr Potenzial abgelesen werden kann. In nationalen Karrieresystemen mit einer geringen Zahl von Dauerstellen wie in Spanien und Deutschland erhöht die bürokratische Standardisierung und die damit einhergehende Verlagerung der Entscheidung auf ein früheres akademisches Alter das Risiko, die wenigen und damit besonders wichtigen Dauerstellen nicht an die am besten geeigneten Kandidaten zu vergeben.

Riskante Forschung? Unmöglich

Zugleich erhöht die bürokratische Standardisierung den Druck auf Postdocs, ‚auf Nummer sicher zu gehen‘ und die ihnen zur Verfügung stehenden vier Jahre auf die Erfüllung der Leistungserwartungen für die Dauerstelle zuzuschneiden. Riskante Forschung wird damit unmöglich. Man könnte natürlich argumentieren, dass die erzwungene sehr frühe Festanstellung denjenigen, die es schaffen, unkonventionelle und riskante Forschung in einem viel früheren Alter ermöglicht. Leider ist dies aber genau die Art von Forschung, die ihnen als Postdocs zuvor abgewöhnt wurde.

Starre, nicht an die spezifischen Forschungsinhalte einer Karriere anpassbare Zeitgrenzen entmündigen also sowohl die Postdocs als auch ihre wissenschaftlichen Gemeinschaften. Sie sind zwar eine verständliche Reaktion auf ein komplexes Karrieresystem, das sich dem politischen Willen nicht so leicht beugt, haben aber wahrscheinlich unangenehme Nebenwirkungen.

Das gravierende Problem der langen Phase unsicherer Beschäftigungsverhältnisse von Postdocs existiert aber und muss unbedingt gelöst werden. Gibt es alternative Lösungen? Wir schlagen vor, drei Maßnahmen in Erwägung zu ziehen, die zwar unpopulär und teurer sind, im Gegensatz zur bürokratischen Standardisierung aber die Ursachen und nicht die Symptome des Problems bekämpfen. Erstens muss sich die Wissenschaftspolitik die Frage stellen, wie sie zu dem Problem beiträgt, das sie nun mit ungeeigneten Mitteln zu lösen versucht. Eine der Hauptursachen für das Problem der verzögerten Festanstellung ist die wachsende Kluft zwischen der Zahl der Postdocs und der Zahl unbefristeter Beschäftigungsverhältnisse. Beide Arten von Beschäftigungsverhältnissen werden von denjenigen finanziert, die nun versuchen, das Problem sich verlängernder Postdoc-Phasen mit bürokratischen Lösungen zu beheben. Eine ausgewogene Verteilung dieser Stellen durch die Schaffung von mehr Dauerstellen wäre der erste logische Schritt.

Zweitens sind Befristungsgrenzen nicht per se falsch, müssen aber an die spezifische Situation von Fachgemeinschaften und Postdocs angepasst werden können. Daher sollten alle Grenzen befristeter Beschäftigung Ausnahmen von der Regel zulassen. Solche Ausnahmen müssten sehr gut begründet werden, denn Ausnahmeregelungen können immer missbraucht werden. Der Fokus für neue Regelungen sollte aber auf der Zweckmäßigkeit des Gebrauchs und nicht auf der Vermeidung von Missbrauch liegen.

Schließlich sollte die Forschungspolitik dem Entstehen neuer Arbeitsrollen in der Forschung Rechnung tragen, indem sie eine entsprechende Vielfalt von Beschäftigungsverhältnissen schafft. Dazu gehören Dauerstellen für Spezialistinnen und Spezialisten unterhalb der Ebene der Leitung einer Forschungsgruppe.

Weniger Entscheidungsfreiheit

Unsere Diskussion eines spezifischen Widerspruchs zwischen epistemischer Vielfalt und bürokratischer Standardisierung weist auch auf ein grundsätzlicheres Problem hin, das sich zumindest im deutschen Wissenschaftssystem aufbaut. Die fortschreitende Formalisierung derjenigen wissenschaftlichen Entscheidungen, die zugleich Verwaltungsentscheidungen sind, schränkt die Entscheidungsfreiheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und damit ihre Möglichkeiten, Entscheidungen an Forschungsinhalte anzupassen, immer weiter ein. Hieraus kann auch eine nichtintendierte Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit entstehen. //

Dr. Grit Laudel

Dr. Grit Laudel ist Wissenschaftssoziologin an der TU Berlin und erforscht wissenschaftliche Karrieren.

Foto: privat

Carolina Cañibano

Carolina Cañibano forscht beim Spanischen Nationalen Forschungsrat (CSIC) zum wissenschaftlichen Humankapital und wissenschaftlichen Karrieren.

Foto: privat

Prof. Dr. Jochen Gläser ​

Prof. Dr. Jochen Gläser ist Wissenschaftssoziologe an der TU Berlin und forscht zu fachgebietsspezifischen Praktiken der Wissensproduktion.

Foto: privat

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