
Sicherheitsdilemma
Sich näher mit den Hintergründen des Ukrainekrieges zu befassen, ist derzeit unpopulär. Doch ohne gründliche Analyse werden nur Stereotype und Schuldzuweisungen reproduziert, warnt Gabriele Krone-Schmalz
Um Gegenwärtiges zu verstehen, sollte man Vergangenes zumindest ansatzweise kennen, denn Realität ist immer ein Prozess und keine Momentaufnahme. Der russische Einmarsch in die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen und Präsident Putin trägt dafür die volle Verantwortung. Das enthebt die westliche Welt nicht ihrer Verpflichtung, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um das Blutvergießen möglichst schnell zu beenden. Dafür muss in sämtliche Richtungen gedacht werden dürfen, inklusive erneuter diplomatischer Vorstöße, und es empfiehlt sich eine schonungslose Analyse der vergangenen dreißig Jahre, um eine politische Strategie für die Zukunft zu entwickeln, die den größten Erfolg verspricht, das heißt die besten Chancen auf friedliches Miteinander.
Die Ausgangslage für den heutigen Zustand war das Ende des Kalten Krieges, gekennzeichnet durch die Deutsche Vereinigung, den Wegfall des östlichen Militärbündnisses Warschauer Vertrag und die Auflösung der Sowjetunion. Vorbereitet durch die Perestroika-Politik Michail Gorbatschows (der nebenbei bemerkt den Bürgern seines Landes damit eine Menge zugemutet hat) war geopolitisch eine Situation entstanden, der das Ost-West-Bedrohungsszenario abhan-dengekommen war. In einer kurzen Phase der Geschichte wurde darüber nachgedacht, das übrig gebliebene Militärbündnis NATO in seiner bisherigen Form abzuschaffen und sich neue Sicherheitsstrukturen zu überlegen, die Russland und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion miteinbeziehen und die den Herausforderungen der Zukunft – nämlich Regionalkonflikten – besser gewachsen sein könnten als das zu anderen Zwecken gegründete Verteidigungsbündnis NATO. Das Vertrauensverhältnis zwischen Ost und West war zu dem Zeitpunkt stabil und die Aufbruchsstimmung, gemeinsam an einem europäischen Haus zu bauen, mit Händen zu greifen.
1999 – erste Welle der Osterweiterung
Begünstigt durch die chaotischen Zustände in Russland wegen der allumfassenden Umstrukturierung des größten Landes der Erde, geführt von einem zunehmend überforderten Präsidenten Jelzin, setzte sich im Westen die Vorstellung durch, man müsse Russland als zusammengekrachte Supermacht mit ihren gigantischen Problemen im Inneren geopolitisch nicht mehr ernst nehmen. Später entwickelte sich das Narrativ des expansiv denkenden und handelnden Aggressors. Jedenfalls war in beiden Szenarien für gemeinsame Überlegungen mit Russland, in denen die Sicherheitsinteressen aller Beteiligten aufeinander hätten abgestimmt werden können, kein Platz. Dabei waren 1999 in Istanbul und 2010 in Astana von den Ländern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Verträge unterzeichnet worden, die den folgenden Gedanken enthielten: Die Sicherheit eines Staates sollte niemals zulasten der Sicherheit eines anderen angestrebt werden.
Dennoch kam es im März 1999 zur ersten Welle der NATO-Osterweiterung und knapp zwei Wochen später in Jugoslawien zum ersten „Out-of-Area-Einsatz“ der NATO, also außerhalb des NATO-Gebietes. Die NATO-Osterweiterung entgegen der Zusicherungen (als Gorbatschow gefragt wurde, ob er die deutsche Vereinigung gestatte, hat ihm, wie deklassifizierte Akten beweisen, der damalige amerikanische Außenminister James Baker gesagt, „NATO will not move one inch eastward“) und der Militäreinsatz im Kosovokrieg ohne UN-Mandat und gegen ausdrücklichen russischen Widerstand – die negative Wirkung dieser beiden Entscheidungen auf Russland kann man gar nicht hoch genug einschätzen.
Wir befinden uns in einem Sicherheitsdilemma und wer nicht erkennt, dass der politische Westen russische Sicherheitsinteressen nie wirklich ernst genommen hat, der wird das Sicherheitsdilemma nicht auflösen können. Der russische Einmarsch in die Ukraine macht es nicht leichter, sich mit russischen Sicherheitsinteressen zu befassen. Dennoch führt kein Weg daran vorbei, denn langfristig ist eine stabile Ordnung nur zu erreichen, wenn ein fairer Interessenausgleich aller Beteiligten gewährleistet werden kann. Der Europäischen Union ist es bisher leider nicht gelungen, sowohl den historisch verständlichen Ängsten Polens, Estlands, Lettlands und Litauens als auch den historisch verständlichen Ängsten Russlands mit einer konstruktiven Politik zu begegnen, die Friedenssicherung auch mit schwierigen Partnern zum Ziel hat.
Beide Seiten drehen an der Eskalationsspirale
In der Ukraine hieß das strategische Ziel noch 2010, eine Brücke zwischen Ost und West sein zu wollen. Das deckte sich mit der Auffassung des amerikanischen Politikers Henry Kissinger, der nicht im Verdacht steht, ein „Russlandversteher“ zu sein. Kissinger hat gesagt, die Ukraine dürfe weder der Vorposten Russlands noch des Westens sein, sie müsse die Funktion einer Brücke haben. Auffällig ist, dass sich Russland nie gegen eine Westorientierung der Ukraine gewandt hat, solange damit nicht das Kappen der Ost-Beziehungen verbunden war, von denen beide Länder profitierten.
Zur Friedenssicherung gehört Perspektivwechsel. Man muss die Positionen seines Gegenübers nicht teilen, aber man muss sie kennen und sich ernsthaft damit auseinandersetzen. Wie stellt sich die Gesamtsituation aus russischer Sicht dar? In unmittelbarer Nähe seiner Grenzen befinden sich abschussbereite Systeme für nukleare Angriffswaffen, die keinerlei Rüstungskontrolle mehr unterliegen. Die ungebremste Entwicklung von Raketenabwehrsystemen gefährdet die Zweitschlagskapazität Russlands. Und da eine ganze Reihe von Staaten (Litauen, Lettland, Estland, Slowenien, Kroatien und Montenegro) den A-KSE-Vertrag, der die konventionelle Rüstung in Europa begrenzt, nicht ratifiziert haben – im Gegensatz zu den Nachfolgestaaten der Sowjetunion (Russland, Belarus, Ukraine und Kasachstan) –, ist beispielsweise in den baltischen Staaten ein potenzielles Aufmarschgebiet der NATO entstanden, das durch keinerlei Verträge beschränkt wird.
Die Eskalationsspirale wird von beiden Seiten weitergedreht: Der Westen nimmt die russischen Sicherheitsinteressen nicht ernst, während umgekehrt die russische Seite das als Bedrohung wahrnimmt, was als Befriedigung baltischer und polnischer Sicherheitsinteressen gedacht ist. Ohne Vertrauen wird sich daran so schnell auch nichts ändern.
Ich bin lange davon ausgegangen, dass der Aufbau dieser gigantischen militärischen Drohkulisse an Russlands Westgrenzen in den letzten Wochen und Monaten – so riskant und überzogen er auch sein mochte – einem einzigen Zweck diente: nämlich ernst zu nehmende Verhandlungen mit dem politischen Westen zu erzwingen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Russland tatsächlich in die Ukraine einmarschiert und es macht für mich bis heute keinen Sinn, denn es widerspricht in mehrfacher Hinsicht russischen Interessen. Russland wird noch die nächsten Jahrzehnte damit beschäftigt sein, verlässliche staatliche Strukturen zu schaffen und seine Wirtschaft zukunftstauglich zu machen. Ein Krieg ist dabei ein ruinöser Störfaktor.
Die nachvollziehbare menschliche Reaktion, mit einem Aggressor nichts mehr zu tun haben zu wollen, kann und darf sich verantwortungsvolle Politik nicht leisten. Das sollte jedem klar sein. Es bedarf der Überwindung, mit einer politischen Elite in Kontakt zu treten, die so dreist gelogen hat. Aber es gibt keine andere Wahl für alle, die nachfolgenden Generationen eine belastbare Basis für Frieden hinterlassen wollen.
Um einen Neuanfang zu schaffen, wird es auf westlicher Seite auch nötig sein, sich von klischeehaften Vorstellungen zu trennen und ständig wiederholte Stereotype auf ihren Wahrheitsgehalt und Sinn zu überprüfen. Ging es der russischen Führung in den letzten Jahrzehnten wirklich darum, die Sowjetunion in der einen oder anderen Weise wiederherzustellen? Oder spielte nicht eher – dem Beispiel der EU folgend - der Gedanke eine Rolle, Formen der engeren Zusammenarbeit zu entwickeln? Einflusssphären verlieren jedenfalls in dem Augenblick ihre Bedeutung, in dem eine funktionierende Sicherheitsarchitektur greift. Davon sind wir allerdings zur Zeit weiter entfernt denn je.
Was intelligente Entspannungspolitik, die man nicht mit Naivität verwechseln darf, leisten kann, zeigt uns das, was vor einem halben Jahrhundert „Neue Ostpolitik“ hieß. Obwohl die Sowjetunion 1968 die Demokratiebewegung in der Tschechoslowakei, den „Prager Frühling“, mit Panzern niedergewalzt hat, haben sich der damalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt und sein Berater Egon Bahr 1970 auf den Weg nach Moskau gemacht. Auf lange Sicht hat diese Politik für alle Beteiligten nur Vorteile gebracht, sowohl humanitär als auch wirtschaftlich.
Willy Brandt hat einmal sinngemäß gesagt: Es gibt Situationen, da muss man sein Herz in beide Hände nehmen und über den Zaun werfen. Ich denke, in dieser Situation sind wir. //
Prof. Dr. Gabriele Krone-Schmalz
war von 1987 bis 1991 Russland-Korrespondentin der ARD und moderierte anschließend bis 1997 den ARD-Kulturweltspiegel. Seit 2011 ist sie Professorin für TV und Journalistik an der Hochschule Iserlohn. Sie ist Mitglied im Petersburger Dialog und eine der führenden Russland-Experten Deutschlands.
Foto: Peter Turnley / Corbis
DUZ Magazin 03/2022 vom 18.03.2022