
// Editorial: Dialog //
Der jeden Tag verheerendere Folgen zeitigende Überfall Putins auf das Bruderland Ukraine macht die meisten von uns sprachlos, ratlos und zornig. Der Ruf nach Vergeltung ...
... greift wie ein Lauffeuer um sich und stößt auf offene Ohren und Herzen. Und zwar so sehr, dass er uns blind macht für das, was unsere Freiheit und unser Zusammenleben im Innersten bedroht: Anfälligkeit für Manipulation (durch Politiker und Lobbygruppen); abnehmende Bereitschaft, in den Dialog zu treten und andere Positionen zu tolerieren; zunehmendes Schubladendenken und eine wehtuende Feind-Freund-Logik – einhergehend mit der Vorstellung, dass man das Recht hat, seine Weltsicht und Bedürfnisse wenn nötig auch mit Drohgebärden und Gewalt durchzusetzen.
Oder anders gesagt: Wir lassen uns von Despoten und Kriegsherren wie Putin dazu treiben, dass wir wankelmütig werden und unsere liberalen Werte, unsere Spielregeln und Überzeugungen widerspruchlos aufgeben. Oder wie ist es etwa zu erklären, dass die von der Ampelkoalition angekündigte Aufrüstung Deutschlands um sage und schreibe 100 Milliarden Euro (zusätzlich zum aktuellen Haushalt von 50,3 Milliarden Euro) vom Gros der Bevölkerung schon fast mit an Begeisterung grenzender Zustimmung aufgenommen wurde? Damit meine ich nicht nur die ganz „normalen“ Menschen da draußen, sondern eben auch unsere Hochschullehrer und Forscher. Bisher zumindest habe ich nur wenige Stimmen aus der Wissenschaft vernommen, die sich kritisch mit der von der neuen Regierung ausgerufenen „Zeitenwende“ auseinandersetzen und die ihr zugrunde liegende Aufrüstungslogik infrage stellen. Eine Ausnahme ist der Philosoph Daniel Loick von der Uni Amsterdam, der prognostiziert: „Eine Aufrüstung in diesem Umfang würde nicht nur die ökonomische Macht der großen deutschen Rüstungskonzerne extrem vergrößern, sondern auch den Einfluss der Bundeswehr auf die Gesellschaft radikal ausweiten, einer Institution, die schon aufgrund ihrer notwendigerweise hierarchischen und autoritären Strukturen immer wieder rechtsextreme Strukturen herausbildet.“ Und er verweist darauf, dass „eine militarisierte Demokratie nicht das Gegenteil einer Autokratie – sondern deren Keimzelle“ ist, wie nicht zuletzt ein Blick auf die Zustände vor Ausbruch des 1. Weltkrieges zeigen.
Trifft es zu, dass sich der Kern unseres Ichs oder auch unserer Gesellschaft in extremen Situationen zeigt? Falls ja, dann wird mir angst und bange – auch was den Zustand unserer Wissenschaft betrifft. Zwei Beispiele, die mir im Umgang mit der aktuellen Russlandkrise besonders zu denken geben: Wissenschaftsinstitutionen, die seit Jahrzehnten erfolgreich mit Russland kooperieren, wollen Berichte, die das dokumentieren, entfernen, weil sie nun einen Shitstorm befürchten (haben sie uns also die ganze Zeit über belogen, war die Zusammenarbeit gar nicht so gut?). Und Journalisten, die sich nicht vereinnahmen lassen und die Hintergründe des Ukrainekrieges zu erklären versuchen (wohlgemerkt: ihn nicht rechtfertigen), werden als Putinversteher abgekanzelt. Was ist los mit uns? Haben wir verlernt, uns unseres kritischen Verstandes zu bedienen? Setzen wir allen Ernstes nun auch auf Zensur (Putin lässt grüßen), statt auf die Kraft des Dialogs?
Wir haben Russland trotzdem in dieser Ausgabe. Geben Sie uns gerne Ihr Feedback.
DUZ Magazin 03/2022 vom 18.03.2022