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„Nicht den Status quo preisgeben“

Die Corona-Pandemie hat der Nutzung digitaler Medien für die Lehre einen Schub gegeben. André Bleicher und Gabi Rolland zur Studie „Entwicklungspfade für Hochschule und Lehre nach der Corona-Pandemie“

Herr Prof. Bleicher, wie kam es zu der Studie?

Prof. Dr. André Bleicher: Die Studie hat sich in gewisser Weise aufgedrängt, weil das Sommersemester des Jahres 2020 aufgrund der Corona-Pandemie unerwartet zu einer Entscheidungsgelegenheit geworden ist. Wir haben ja schon seit Langem über Digitalisierung der Lehre gesprochen, über den Einbau digitaler Elemente. In hochschuldidaktischen Formaten und in der Weiterbildung ist es uns auch ein Stück weit gelungen. Aber in der traditionellen grundständigen Lehre wurden die Möglichkeiten nicht realisiert. Und dann tat sich plötzlich diese Entscheidungsgelegenheit auf. Man musste innerhalb von 14 Tagen, ohne den Rechtsrahmen zu kennen, ohne zu wissen, ob die Technik elektronische Lehre zulässt, die Hochschulen in einen digitalen Modus überführen. Deswegen haben wir gesagt: Lasst uns jetzt mit den baden-württembergischen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAWs) eine qualitative Studie durchführen, die einerseits die Entwicklung innerhalb der Pandemie deskriptiv nachzeichnet und andererseits versucht, mögliche Entwicklungspfade zu synthetisieren, die Hochschullehre nach der Pandemie nehmen könnte. Dabei wurden elf Hochschulleitungen zu den Rahmenbedingungen befragt; es fanden 15 Befragungen in Fokusgruppen statt, die einerseits die Perspektiven der Studierenden und andererseits die der Lehrenden widerspiegeln, und es wurden acht innovative Lehrende, die besondere Formate appliziert hatten, als Expertinnen und Experten interviewt.

Was sind die wichtigsten Ergebnisse?

Bleicher: Es konnten verschiedene gute Praxen isoliert werden, etwa die der virtuellen Projektarbeit, der Durchführung digitaler Prüfungen oder des inverted classrooms, der mit Videounterstützung sehr gute Lehrergebnisse erbracht hat. In der Summe wollen die Hochschulen daran arbeiten, digitale Elemente der Lehre mit dem Präsenzbetrieb zu verbinden; diesbezüglich konnten erste Anfänge von Pfadentwicklungen identifiziert werden. Aber es wurde auch über digitale Erschöpfung und zunehmende Isolation gesprochen, was zeigt, dass die Prozesse sich ein Stück weit als Überforderung der Studierenden und auch Lehrenden erwiesen haben.

Was sind die zentralen Lehren aus der Pandemie für Ihre Tätigkeitsbereiche?

Gabi Rolland: Die große Lehre ist: Die Hochschulen in Baden-Württemberg müssen sich besser aufstellen können, was die digitale Infrastruktur angeht. Das hat mit der technischen Ausstattung und der Software zu tun. Es hat aber auch mit Datensicherheit zu tun und wie die Lehrenden weiter- und fortgebildet werden können. Ein weiterer Punkt ist: Mit den Studentinnen und Studenten haben die allerwenigsten gesprochen. Die waren außen vor. Die müssen besser einbezogen werden, da braucht man eine neue Struktur. Dann müssen wir dafür Sorge tragen, dass die Frauen nicht hinten runterfallen. Die Frauen, die im Forschungsbereich unterwegs waren, haben fast ihre Arbeit eingestellt, denn den Haushalt zu führen, mit Familie und Kindern, und dann noch digitale Forschung zu betreiben, das war nicht mehr möglich. Und schließlich die finanzielle und psycho-soziale Situation der Studentinnen und Studenten. Dass es die ganzen Sozialisationsprozesse, die in Präsenz stattfinden, nicht gab, machte den jungen Leuten sehr schwer zu schaffen. Und manche wissen nach dem dritten digitalen Semester eigentlich noch gar nicht, ob sie fachlich den richtigen Weg eingeschlagen haben.

Wie wirkte sich aus, dass die direkte persönliche Kommunikation mit den Lehrenden und Kommilitonen weitgehend ausfiel?

Bleicher: Ich erinnere mich noch, dass ich im Sommer 2020 an einem Sommerabend während der Prüfungsphase über die Campus schlenderte und einige Studierende im Gespräch und mit Bierflaschen in der Hand angetroffen habe. Ich habe sie gefragt: „Sagt mal, die Prüfungen gehen doch erst los, warum feiert ihr schon?“ Sie haben geantwortet – und da sind mir fast die Tränen gekommen: „Ja, wir feiern, dass wir uns endlich mal kennenlernen, weil wir uns doch noch nie gesehen haben.“ Da merkt man, unter welchen Erschwernissen diese Kohorten ihr Studium aufgenommen haben. Im Rahmen der Studie wurde immer wieder berichtet, wie die Studierenden in die Rolle von Einzelkämpfern geraten sind, dass Peer-to-Peer-Lernen deutlich an Bedeutung verloren und dass der Workload deutlich zugenommen hat.

Und was folgt für Sie daraus?

Bleicher: Hochschule als konkreter Ort hat einen unschätzbaren Wert und dennoch gilt, auch das ist ein Ergebnis der Studie: Der Ort Hochschule wird sich in Zukunft verändern. Hochschulen werden nicht zu vollständiger Präsenz zurückkehren. Es gilt also, diese Pfadendwicklung zu gestalten und die digitalen Erfahrungen sorgsam zu evaluieren und weiterzuentwickeln. Das bedeutet in Konsequenz: Wir müssen ein sehr kluges und verbindliches Arrangement treffen, welches Hochschule in physischer Präsenz und in digitalen Formen kombiniert, und zwar so, dass wieder ein Sozialisationsraum entsteht. Und das geht – das haben uns die Studierenden deutlich gesagt – nur im Dialog mit ihnen, da gebe ich Gabi Rolland recht.

Die Zukunft wird auch ohne Pandemie so aussehen, dass die Mischung aus Digitalem und Präsenz anders sein wird als heute. Die Frage ist: Wie wirkt sich das auf die Forschungsleistung aus und wie auf die Lern- und Studienleistung?

Rolland: Alle Beteiligten, mit denen ich gesprochen habe, sind der Auffassung, dass sich Forschung und Lehre verändern werden. Labortätigkeiten lassen sich natürlich nicht ins Digitale versetzen. Aber ich glaube auch, dass es wichtig wird, dass wieder mehr Gestaltungsräume, Freiräume in der Hochschule entstehen. Vor allem in Universitäten, die durch Bologna doch sehr stark eingeschnürt worden sind. Und wir müssen uns mit der Hochschul-Governance auseinandersetzen, vor allem an den Universitäten. Wir brauchen zumindest auf der Ebene der Lehrstühle flachere Hierarchien und mehr Entscheidungsfreiheit.

Wo ist also der dringendste Handlungsbedarf? Was müssten die Hochschulen und die Politik jetzt in Angriff nehmen?

Rolland: Die Politik muss die Aufgabe annehmen und merken, dass wir Handlungsbedarf haben. Veränderungsprozesse – Change Management – kann man erst in Angriff nehmen, wenn man begriffen hat, dass man was zu ändern hat. Für die Politik in meinem Bundesland heißt das: Der Landtag von Baden-Württemberg, Ministerium und Ministerin müssen verstehen, was wir jetzt aus dieser Pandemie gelernt haben oder lernen könnten, und müssen den Prozess aufsetzen. Wie das inhaltlich aussieht, könnte jetzt Herr Bleicher sagen.

Bleicher: Was Lehre betrifft, brauchen wir eine sehr gute Evaluation dessen, was sich jetzt ereignet hat. Ich denke, wir müssen im Hinblick auf die gerade abgelaufenen Prozesse eine Hubschrauberperspektive einnehmen und überlegen: Wie könnten wir jetzt aus den Erfahrungen und Gegebenheiten Hochschulen der Zukunft entwickeln? Die Ergebnisse unserer Studie genügen an dieser Stelle noch nicht ganz, um potenzielle Pfadentwicklungen vollständig zu skizzieren. Denn die Varianz der Hochschulen wird zunehmen, was übrigens eine große Chance für das System als Ganzes darstellt.

Wo sehen Sie sich als Hochschulrektor besonders gefordert?

Bleicher: Ich kämpfe zurzeit darum, dass wir nicht aus Nostalgie den erreichten Status quo preisgeben und versuchen, die Situation von 2019 wiederherzustellen. Vielmehr gilt es, die erreichten Ergebnisse weiterzuentwickeln, nicht mehr so sehr getrieben von Pandemiebedingungen, sondern im Hinblick auf die Transformationsagenden des Bundes und des Landes. Was die Forschung und den Transfer betrifft, so werden diese Bereiche für HAWs immer wichtiger, auch weil sie Einfluss auf die Lehre haben. Unsere Studierenden müssen zukünftig in der Lage sein, auf Basis von Analysen und Evaluationen Zukunftsbilder zu entwickeln und Werte, Prinzipien und Ziele zu diskutieren und reflektieren, um Transformationsprozesse gestalten zu können.
Gibt es etwas, was der Bund dafür tun könnte oder müsste?

Rolland: Ein Punkt im Koalitionsvertrag ist, dass wir das Kooperationsverbot in ein Kooperationsgebot ändern wollen, also der berühmte Artikel 91b Grundgesetz. Das wiederum heißt, dass es eine gute Grundlage geben wird für die digitale Hochschule, dafür wird es Geld geben, richtig viel Geld. Ein zweiter guter Punkt ist, dass es mit 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes mehr Geld für die Forschung gibt. Und davon werden vor allem jetzt auch mal die HAWs profitieren. Und auch ein gutes Signal ist, dass man über das BAföG doppelt so viele Studierende in den Genuss von wirtschaftlicher Hilfe kommen lassen will als bisher.

Bleicher: Die Erhöhung des BAföG halte auch ich für sehr wichtig. Vor allem aber kommt es darauf an, dass die Bundesregierung die Transformationsstrategie so formuliert, dass die Hochschulen sie aufnehmen können. Die im Koalitionsvertrag vorgesehene Gründung der Deutschen Agentur für Transfer und Innovation könnte sich als von unschätzbarem Wert erweisen, weil endlich der Übergang von Forschung in die Umsetzung in den Fokus genommen wird. Die in der Corona-Krise erzwungene Transformation der Lehre hat doch gezeigt, wozu Hochschulen fähig sind. Wenn diese Fähigkeit zum Wandel nun aufgegriffen und im Hinblick auf Reduzierung des Ressourcenverbrauches oder den Aufbau zirkulärer Werteketten umgemünzt wird, dann könnten die HAWs ein Beitrag zur sozial-ökologischen Transformation erbringen.

Und was sollten die Hochschulen machen?

Rolland: Überlegen, wie sie die Studierenden besser in Entscheidungen einbeziehen. Wie wäre es denn mit einem Prorektorat für Studierende? Und wie werden Frauen so unterstützt, dass sie auch während einer Pandemie oder mit stärkeren digitalen Formaten ihren Aufgaben gerecht werden können, die sie erledigen wollen? Unsere Ministerin sagt mir: Für Kinderbetreuung sind die Kommunen zuständig. Ich finde, ein Arbeitgeber kann sich dafür auch zuständig und verantwortlich fühlen. Ich glaube auch, es wäre gut, wenn das Land eine eigene Hochschuldidaktikstruktur hätte

Herr Prof. Bleicher, was sagen Sie dazu?

Bleicher: Ich will mit der schon stattfindenden, aber sich wohl noch steigernden Entgrenzung der Hochschulen beginnen. Die HAWs waren schon immer mit ihrem regionalen Umfeld, insbesondere mit den Unternehmen, sehr stark verwoben. Da wurde immer sehr genau darauf geachtet, was die regionale Ökonomie benötigt, und dann auch versucht, diese Bedarfe aufzunehmen und in die Curricula einzubeziehen. Ich nehme nun wahr, dass diese Entgrenzung weitere Dimensionen beinhaltet. Zum einen erweist sich die Gruppe unserer Studierenden als immer heterogener und Hochschulen müssen sich wesentlich spezifischer mit dem je individuellen Bildungsweg auseinandersetzen.

Und das beginnt bereits mit der Gewinnung von Studienbewerbern. Dazu kommt: Individuelle Betreuung und Mentoring werden immer wichtiger. Bis hin zu der Frage, ob die im Bologna-Prozess enthaltene und immer zeitpunktbezogene Herstellung einer Employability überhaupt ein sinnvolles Studienziel unter Transformationsbedingungen darstellen kann. Zum anderen entwickelt sich eine stärkere Konkurrenz im gesamten hochschulischen Feld: Die wettbewerblichen Elemente nehmen zu.

Das bedeutet zum einen Zuwachs an Autonomie und gleichzeitig zum anderen auch eine stärkere Verantwortung für die strategischen Entscheidungen in der Hochschule. Hochschulen achten mittlerweile sehr genau darauf, ihr Studienangebot nach den Gesichtspunkten der Auslastung zu steuern, was nicht ohne Tücke ist. Wenn mit einem Prorektorat für Studierende gemeint ist, dass diesen drei Entgrenzungen in geeigneter Weise Rechnung getragen wird, indem die Bedarfe der Studierenden, der Industrie oder der potenziellen Arbeitgeber und die der zunehmenden Konkurrenz vermittelt werden, halte ich das für eine sinnvolle Weiterentwicklung und nicht nur für die Umbenennung einer Funktion. //


STUDIE

Die 2021 erschienene Studie „Entwicklungspfade für Hochschule und Lehre nach der Corona-Pandemie“ wurde vom Institut für Bildungstransfer der Hochschule Biberach in Zusammenarbeit mit der Geschäftsstelle der Studienkommission für Hochschuldidaktik an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in Baden-Württemberg erstellt.
Download unter: www.tectum-elibrary.de/10.5771/9783828877351/entwicklungspfade-fuer-hochschule-und-lehre-nach-der-corona-pandemie


Gabi Rolland

Gabi Rolland ist als Abgeordnete des Landtags Baden-Württemberg Sprecherin der SPD-Fraktion für Umwelt- und Naturschutzpolitik sowie für Hochschulpolitik und Belange der Studierenden.

Foto: Hannah Bichay / SPD-Fraktion Baden-Württemberg

Prof. Dr. rer. pol. André Bleicher

 
Prof. Dr. André Bleicher ist Rektor der Hochschule Biberach und Mitautor der Studie „­Entwicklungspfade für Hochschule und Lehre nach der Corona-Pandemie“.

Foto: Stefan Sättele / Hochschule Biberach

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