Unter europäischer Flagge
Den Friedensnobelpreis bekommt die Europäische Union in diesem Jahr dafür, dass Europa sich nicht mehr in Kriegen zerreißt. Die politische Einigung hat auch die Wissenschaftsnationen des Kontinents zusammengebracht. Mit milliardenschweren Rahmenprogrammen will Brüssel die Forscher des Kontinents an der Weltspitze halten. In gut einem Jahr soll das neue Forschungsprogramm an den Start gehen. Sein Name: Horizont 2020. Über das Budget und über die exakte Ausgestaltung wird derzeit in Brüssel heftig gefeilscht. Vor allem die geplanten Förderquoten sind dabei zum Zankapfel geworden.
Die EU will ihr neues Forschungsrahmenprogramm Horizont 2020 attraktiver machen. Wenn es Anfang 2014 startet, soll es mehr Geld für Europas Forscher geben, die Beantragung von Fördermillionen soll deutlich einfacher sein und Forschungsergebnisse sollen schneller in Form von Produkten auf den Markt kommen. Stand das laufende siebte Programm (FP7) noch in der Kritik, zu bürokratisch zu sein und die Teilnehmer administrativ zu überlasten, will Europa sich künftig besser für den weltweiten Wettbewerb aufstellen. Doch die Medizin, mit der die EU-Kommission aufwartet, verärgert derzeit so manchen Vertreter deutscher Wissenschaft.
Einer von ihnen ist Dr. Sigurd Weinreich, Dezernatsleiter für Forschung und Projektmanagement an der Universität Heidelberg. Sechs Jahre hat er gebraucht, um einer Forderung der EU-Kommission nachzukommen. Sie hat im Laufe des FP7 (2007 bis 2013) die Hochschulen gedrängt, die tatsächlichen Kosten von Forschungsprojekten zu ermitteln. Einige deutsche Unis sind dem Druck gefolgt und haben eine sogenannte Vollkostenrechnung eingeführt. Wenn sich die EU-Kommission nun mit ihrem Vorschlag für die Beteiligungsregeln für Horizont 2020 durchsetzt, muss Weinreich die aufwendige Vollkostenrechnung wieder rückabwickeln. Denn künftig soll es keine Option mehr auf diese Rechnungsweise geben. Stattdessen ist lediglich eine einheitliche Kostenpauschale für die indirekten Projektkosten geplant.
Weniger Geld für den Overhead
Über das Hin und Her regen sich Hochschulvertreter derzeit auf. Der Vorschlag der EU-Kommission vom November letzten Jahres bereitet ihnen aber auch aus einem weiteren Grund Sorgen: Die anvisierte Kostenpauschale für die indirekten Projektkosten sollte zunächst 20 Prozent statt wie bisher 60 Prozent betragen. Das hielten viele für zu gering, der EU-Berater einer Technischen Universität nannte sie „lächerlich“. Anfang Oktober trafen sich dann die EU-Forschungsminister in Luxemburg. Nach Angaben des Bundesforschungsministeriums einigten sie sich dabei unter anderem auf eine Erstattungspauschale von 25 Prozent für die indirekten Kosten anstelle einer Vollkostenabrechnung (s. Interview S. 12). Damit dürften die schlimmsten Befürchtungen der Forscher nicht eintreten. Wie weit eine solche 25-prozentige Erstattung jedoch die grundlegenden Probleme der neuen Förderregeln beseitigt, müssen die Beteiligten nun in den kommenden Wochen erst einmal durchrechnen. Bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe war noch keine Stellungnahme zu erhalten.
Und darum geht‘s bei den Förderregeln: Neben Personal-, Sach- und Reisekosten, den direkten Kosten also, fallen bei Forschungsprojekten Kosten für Raummiete, Strom, Computer, Verwaltung und ähnliches an. Bei der Universität Heidelberg betragen diese indirekten Kosten, auch „Overhead“ genannt, 71 Prozent der projektbezogenen Personalkosten bei den theoretischen Naturwissenschaften und 101 Prozent bei den experimentellen Naturwissenschaften. Am teuersten sind mit 107 Prozent Overhead Projekte in den Buchwissenschaften. Die Universität gibt also für jeden Euro Personalkosten, den sie für ein Forschungsprojekt erhält, zwischen 71 Cent und 1,07 Euro für indirekte Kosten aus. Unter Horizont 2020 würde sie nach jetzigem Stand nur 20 bis 25 Cent davon erstattet bekommen.
Auch die Uni Mainz hat tatsächliche Projektkosten ermittelt. Ein typisches Projekt aus den Geistes- und Sozialwissenschaften verursacht dort 80 Prozent Overhead-Kosten, bezogen auf die gesamten direkten Kosten. Ein typisches Projekt in den Naturwissenschaften erzeugt einen Overhead von etwa 90 Prozent. Allgemeine Schätzungen sehen den Overhead durchschnittlich bei etwa 70 Prozent der direkten Projektkosten. Disziplinen mit teurer Infrastruktur wie etwa Teilchenbeschleuniger erzeugen besonders hohe indirekte Kosten.
Die Finanzlücke würde mit den von der EU-Kommission geplanten Änderungen für infrastrukturintensive Universitäten wachsen, hat die Vereinigung Europäischer Universitäten (EUA) ausgerechnet. Vor allem der Verlust der Vollkosten-Option nimmt ihnen die Möglichkeit, ihre Projektkosten erstattet zu bekommen. Die EUA fordert, die Kostenpauschale auf 40 Prozent zu erhöhen sowie die Option auf die Vollkostenrechnung aufrechtzuerhalten.
Das Europäische Parlament sprang ihnen teilweise bei. Vor dem Ministergipfel wollte der CDU-Europaabgeordnete Dr. Christian Ehler, der Berichterstatter, beispielsweise die Option zur Vollkostenrechnung aufrechterhalten. Allerdings sollten die Vollkosten nur zu 70 Prozent erstattet werden. Eine Finanzierungslücke bliebe also bestehen. „Die 70 Prozent bereiten uns Sorgen“, sagt Thomas Estermann von der EUA. „Das ist kein Anreiz, die Vollkosten-Option heranzuziehen.“
Mehr Geld für direkte Kosten
Die Hochschulen kämen mittelfristig ohnehin nicht um die Vollkostenrechnung herum, sagt der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Prof. Dr. Horst Hippler. Denn bei der direkten Zusammenarbeit mit der Wirtschaft verlangt der EU-Beihilferahmen eine Trennungsrechnung für den Nachweis, dass die Wirtschaft nicht mit öffentlichen Mitteln subventioniert wird. Dies setzt eine Vollkostenrechnung voraus. Zudem schaffe diese Rechnungsweise Transparenz über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben von Hochschulen.
Der Vorschlag der EU-Kommission sieht aber nicht nur eine Kürzung der indirekten Kosten vor. Er ist gleichzeitig mit einer 100-prozentigen Deckung der direkten Projektkosten verbunden – egal, ob die Forschung von Unis, Forschungsinstituten, Industrie oder kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) durchgeführt wird. Im FP7 gab es eine 50- bis 100-prozentige Erstattung der direkten Kosten, je nach Typ des Empfängers.
Manche EU-Berater von Hochschulen begrüßen die geplanten Änderungen und die damit einhergehenden Vereinfachungen. „Ich hoffe, dass sich der Kommissions-Vorschlag durchsetzt“, sagt Regina Gerber von der Universität Potsdam. Die Forscher seien damit eher in der Lage, selbst die Kosten für EU-Projekte zu beantragen. „Das derzeitige System der differenzierten Kostenerstattung haben bei uns vielleicht zwei oder drei Forscher verstanden“, sagt sie.
„Die Erstattung der tatsächlichen indirekten Kosten hingegen würde zu einer Kostenexplosion für alle Projekte führen“, meint Gerber. Die Anzahl von EU-Projekten würde dann abnehmen. Ähnlich argumentiert Wolfgang Burtscher von der Generaldirektion Forschung der EU-Kommission: „Wir wollen mit den beschränkten Mitteln, die wir haben, sicherstellen, dass gleich viel Forschung wie in der Vergangenheit gefördert werden kann.“
Den Kritikern aus der Hochschullandschaft springen die außeruniversitären Forschungseinrichtungen bei. Für sie sind die geplanten Vereinfachungen eine zu starke Simplifizierung. Die Fraunhofer-Institute etwa sind auf die Vollkostenrechnung eingespielt und fordern deren Beibehaltung. Der Overhead bewegt sich bei Fraunhofer je nach Forschungsgebiet zwischen 40 Prozent und 160 Prozent der Personalkosten, der Durchschnitt liegt bei 97 Prozent. Bliebe es beim Kommissionsentwurf, würde nach Berechnungen der Fraunhofer-Gesellschaft die Förderquote bei EU-Projekten von 75 Prozent in FP7 auf durchschnittlich 65 Prozent in Horizont 2020 fallen.
Anfang Oktober zeichnete sich auch für sie ein Kompromiss ab. Wie die Nachrichtenagentur dpa berichtet, sollen auch Forschungseinrichtungen wie die Fraunhofer-Gesellschaft künftig mehr Kosten erstattet bekommen als noch von der Kommission vorgeschlagen. Darauf hätten sich die EU-Forschungsminister geeinigt. Die Kommission solle nun entsprechende Leitlinien für ein separates Erstattungsmodell erarbeiten, hieß es bei dpa. Zudem solle die Kommission 2017 prüfen, ob sich die verschiedenen Abrechnungsmodelle in der Praxis bewährt haben.
Finanziell attraktiver würden die Projekte unter den von der Kommission geplanten Beteiligungsregeln hingegen vor allem für große Industrieunternehmen, die von der 100-prozentigen Erstattung der direkten Kosten am meisten profitieren, so ein inoffizielles Diskussionspapier. Bislang erhielten sie meist nur die Hälfte. Aber gerade global agierende Industrieunternehmen hätten eigentlich mehr Möglichkeiten der Co-Finanzierung als Universitäten oder gemeinnützige Forschungseinrichtungen, kritisiert Christian Ehler. Daher sollte ihre Erstattungsquote geringer sein als die der anderen Teilnehmer. Eine Vereinfachung dürfe die Unterschiede im Finanzierungsbedarf der Forschungsakteure nicht ignorieren.
Innovation fördern
Unterschiedliche Forschungsakteure – Universitäten, Forschungseinrichtungen, Industrie und KMU – sind unter Horizont 2020 gewünscht. Das Forschungsrahmenprogramm soll nicht nur Forschung, sondern gleichzeitig Innovation fördern (siehe Infokasten rechts). Es ist quasi ein forschungsgestütztes Konjunkturprogramm, das ein zentrales Defizit in der europäischen Innovationsfähigkeit überwinden will: Die mangelnde Zusammenarbeit von akademischer und industrieller Forschung. Hier liege Europas größter Wettbewerbsnachteil im internationalen Vergleich, sagt Christian Ehler. Doch die breite Kritik an den Plänen der Kommission lässt Zweifel aufkommen, ob diese Mischung von Forschungsakteuren erreicht wird.
Dieses Ziel sehen Vertreter von Hochschulen und außeruniversitären Einrichtungen auch durch die von der Kommission geplante Erstattungsquote für marktnahe Forschungsprojekte gefährdet. Sie soll für die direkten Kosten nur 70 Prozent betragen. Weithin wird befürchtet, dass viele Hochschulen nicht mehr bei solchen Projekten mitforschen werden. Bislang ist allerdings unklar, für wie viele Projekte diese verminderte Erstattungsquote zum Einsatz kommen soll.
EU-Parlament will 100 Milliarden
Kritik gibt es auch am geplanten Gesamtbudget von Horizont 2020. Zwar soll das Budget nach dem Kommissions-Vorschlag von 50 Milliarden Euro in FP7 auf 80 Milliarden Euro in Horizont 2020 erhöht werden. Doch de facto handele es sich nur um eine Budgeterhöhung von gut sechs Prozent, sagt Christian Ehler. Der Grund: Das Rahmenprogramm Horizont 2020 umfasst bislang anderweitig finanzierte Programme und schließt Demonstrationsprojekte ein, die laut Ehler „mehr Geld verschlingen werden als die meisten der bislang in FP7 geförderten Projekte“.
Vertreter der Unis und Forschungseinrichtungen hoffen daher, dass sich der Vorschlag des EU-Parlaments, das Budget für Horizont 2020 auf 100 Milliarden Euro zu erhöhen, durchsetzt. Wie Horizont 2020 letztendlich ausgestattet sein wird, hängt jedoch auch vom Gesamt-Budget der EU für die Jahre 2014 bis 2020 ab – und hier fordern einige Länder Einsparungen. Die EU-Regierungschefs sprechen im November voraussichtlich über das EU-Gesamtbudget. Mitte 2013 soll Horizont 2020 verabschiedet sein. Bis dahin ist noch so manche Verhandlungsrunde zu bewältigen.
Es gibt aber auch Lob für das neue Forschungsrahmen-
programm, etwa für die geplante Erhöhung des Budgets für den Europäischen Forschungsrat, der Grundlagenforschung fördert (s. Kasten rechts). Der Förderungsausbau auf knapp zwei Milliarden Euro für die Geistes- und Sozialwissenschaften wird ebenfalls gutgeheißen. „Wir freuen uns, dass diese Wissenschaften nun auch für die Herausforderung ‚Europa in einer sich ändernden Welt‘ ihren Beitrag leisten dürfen“, sagt Charlotte Fiala von der Freien Universität Berlin.
DUZ Magazin 11/2012 vom 19.10.2012