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Der Wissenschaftsrat hatte sich ausführlich dem Thema künstlerische Forschung gewidmet. Ein Raunen ging durch die Community: Endlich tut sich was. Und nun? 

Als Prof. Dr. Florian Dombois 2006 seinen Essay „Kunst als Forschung. Ein Versuch, sich selbst eine Anleitung zu entwerfen“ veröffentlichte, konnte er ahnen, dass sein Text nicht unkommentiert bleiben würde. Schließlich forderte er darin nichts weniger, als den traditionellen Wissenschafts- und Erkenntnisbegriff zu erweitern. Weil die Wissenschaft erfolgreich, aber nicht vollständig die Welt zu erklären vermöge, brauche es eine „Kunst als Forschung“, schrieb der aus Berlin stammende und heute an der Zürcher Hochschule der Künste lehrende Professor damals. Bilder, Kompositionen, Theaterstücke oder Filme sollten gleichrangig als Forschungsergebnisse und Träger von ­Wissen gelten.

Noch heute wird dieser Text von vor 15 Jahren als eine Art Manifest zur künstlerischen Forschung gelesen. Nachdem über „artistic research“ bereits in den 1970er-Jahren in Großbritannien und in den 1990er-Jahren in Skandinavien debattiert wurde, sollte nun die Auseinandersetzung auch im deutschsprachigen Raum geführt werden. In Österreich und der Schweiz näherten sich Hochschulen dem Thema an und entwickelten entsprechende Strukturen. In Deutschland hingegen gab es zwar einige Hochschulen, die begannen, Ideen und kleine Projekte zu entwickeln, strukturell passierte aber wenig. 

Umso größer war die Freude zumindest in Teilen der Community, als sich der Wissenschaftsrat im April vergangenen Jahres der Sache annahm. „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der postgradualen Phase an Kunst- und Musikhochschulen“ heißt sein 128 Seiten starker Bericht. Darin formuliert der Wissenschaftsrat weniger, was man unter künstlerischer Forschung zu verstehen hat, sondern mehr, welche strukturellen Bedingungen eine solche Weiterentwicklung an den Kunst- und Musikhochschulen benötigte.

Die Empfehlungen des Wissenschaftsrats laufen auf drei wesentliche Punkte hinaus. Erstens: Aufbau einer angemessenen Infrastruktur, um die Programme überhaupt umsetzen zu können. Dazu zählt der Wissenschaftsrat unter anderem Räumlichkeiten und technische Ausstattung, ­genügend Zeit für das Lehrpersonal, Kapazitäten in der Verwaltung, mehr Stipendien und Stellen für die Graduierten. Hier treffen die Kunsthochschulen heute an Grenzen. Ein akademischer Mittelbau, wie es ihn an Universitäten gibt, existiert dort so gut wie gar nicht. Zweitens: Der Wissenschaftsrat empfiehlt eine Vereinbarung über vergleichbare Bewertungs- und Qualitätsstandards. Und drittens: Die Einführung bundesweit einheitlicher Abschlussgrade. Wissenschaftliche Promotionen sollen ebenso möglich sein wie rein künstlerische Doktorarbeiten oder interdisziplinäre künstlerisch-wissenschaftliche Promotionen. Letztere könnten demnach mit dem „Dr. artis“ oder einem „Ph.D. in Arts“ abgeschlossen werden. Der Wissenschaftsrat macht aber auch klar, dass nicht jede Kunsthochschule alles anbieten muss, sondern nach ihren Schwerpunkten und Stärken agieren sollte.

Quantensprung für die Debatte

Für Prof. Dr. Susanne Rode-Breymann, Musikwissenschaftlerin und Präsidentin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, sind die Einlassungen des Wissenschaftsrats ein ganz zentraler Schritt auf dem weiteren Weg. „An den meisten deutschen Musikhochschulen liegen wir in diesem Bereich weit hinten. Viele andere europäische Länder sind längst weiter. Insofern ist das, was der Wissenschaftsrat schreibt, für die deutsche Debatte ein Quantensprung“, sagt sie. Seit November ist Rode-Breymann Vizepräsidentin der Hochschulrektorenkonferenz für das neu geschaffene Ressort „Kooperation und Vielfalt innerhalb des Hochschulsystems / Belange der künstlerischen Hochschulen“. Ein weiterer wichtiger Schritt, sagt sie: „Damit ist klar, dass das alles nicht mehr nur ein Thema für die Kunsthochschulen ist, sondern für die gesamte deutsche Hochschullandschaft.“

Es gehe jetzt darum, verbindliche Standards zu schaffen. Auch um zu verhindern, dass eine künstlerische Promotion als eine Promotion zweiter Klasse angesehen werden könnte. „Wir brauchen ein hohes Niveau, ein gutes Qualitätsmanagement und einen guten Austausch miteinander“, sagt die Hochschulpräsidentin. Zur Sicherung der Qualität kann sie sich auch ein konkurrierendes Bund-Länder-Programm vorstellen, in dem eine externe Jury die qualifiziertesten Standorte auswähle. „Wenn am Ende sechs von den 24 Kunst- und Musikhochschulen in Deutschland künstlerische und künstlerisch-wissenschaftliche Promotionen mit entsprechenden Graduiertenschulen anbieten könnten, wäre das ein gutes Ergebnis“, so Rode-Breymann. An ihrer eigenen Hochschule will sie das Thema der künstlerischen Forschung in den nächsten beiden Jahren so fest etablieren, „dass es auch nach dem Ende meiner Amtszeit nicht wieder verschwindet“. Im zweiten Halbjahr 2022 soll der „Masterplan 2030“ für die Fortentwicklung der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover fertig sein – und die künstlerische Forschung soll darin einen festen Platz erhalten.

Arbeitsauftrag für Strukturaufbau

An der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HFMDK) ist man schon etwas weiter. Hier gibt es seit 2014 eine fachbereichsübergreifende Arbeitsgruppe, die sich mit künstlerischer Forschung auseinandersetzt, und seit 2018 läuft ein Sonderprojekt des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, das „auf eine umfassende Verankerung künstlerischer Forschung an der HfMDK durch unterschiedliche Aktivitäten und Strukturen“ zielt, wie es auf der Website der Hochschule heißt. „Innerhalb dieses Projektes haben wir unter dem Label ‚Forschung an einer Kunsthochschule‘ auch eine Förderlinie für Lehrende an der HfMDK eingerichtet: Künstlerisch wie wissenschaftlich Lehrende können bei der Forschungskommission hochschulinterne Forschungsprojekte einreichen“, erklärt Ingo Diehl. Er ist Professor für Zeitgenössische Tanzpädagogik und Vizepräsident für Qualitätssicherung in der Lehre und interdisziplinäre Projekte an der HfMDK; der Forschungskommission, von der er spricht, sitzt er vor. 

„Das ist grundlegende Aufbauarbeit, die wir da seit einigen Jahren betreiben“, sagt Diehl. In Frankfurt liegt der Schwerpunkt derzeit auf wissenschaftlichen und künstlerisch-wissenschaftlichen Vorhaben, bei der Initialisierung von rein künstlerischen Promotionen sei die HfMDK noch nicht so weit. Über die Empfehlungen des Wissenschaftsrats habe er sich sehr gefreut, so Diehl, „vor allem darüber, dass ein Qualitätsanspruch formuliert wurde und über das klare Statement, dass der Aufbau nicht ohne entsprechende Ressourcen geht“. Er sieht die Empfehlungen auch als Arbeitsauftrag an die Kunsthochschulen, den Strukturaufbau voranzutreiben. Danach seien allerdings die Länder in der Pflicht: „Beim nächsten Hochschulpakt 2026 müsste das Land Hessen auf diese Aufbauarbeit reagieren und entsprechende Mittel bereitstellen, um diesen Aufbau mit Leben zu füllen. Ohne akademischen Mittelbau werden wir das nicht schaffen.“

Europaweit Maßstäbe setzen

An der Universität der Künste (UdK) in Berlin – der größten Kunsthochschule Deutschlands – wäre man auch gerne schon ein bisschen weiter. Aber dann kam die Politik oder besser gesagt ein neues Hochschulgesetz dazwischen. Kurz vor der Neuwahl zum Berliner Abgeordnetenhaus Ende September trat eine Gesetzesnovelle in Kraft, in der die UdK das Promotions- und Habilitationsrecht nur für ihre wissenschaftlichen Fächer erhielt. Künstlerische und künstlerisch-wissenschaftliche Promotionen wurden von vorne herein ausgeschlossen. „Gerade nach den Empfehlungen des Wissenschaftsrats haben wir das als sehr sonderbare Übergriffigkeit in universitäre Belange wahrgenommen“, sagt Prof. Dr. Norbert Palz, Präsident der UdK. Inzwischen blickt er wieder etwas optimistischer in die Zukunft. Zum einen stehe im Koalitionsvertrag der neuen rot-rot-grünen Berliner Landesregierung, dass die Einrichtung eines künstlerisch-wissenschaftlichen Promotionsrechts für Kunsthochschulen geprüft werde, zum anderen habe er auf der Arbeitsebene positive Signale vernommen, dass die Kraft des Themas für den Wissenschaftsstandort Berlin in der Politik angekommen sei. „Eine Reparaturnovelle zum Hochschulgesetz ist in Arbeit“, so der UdK-Präsident. 

Abgesehen von den politischen Störfeuern sieht sich die UdK auf gutem Weg. „Seit 2020 sind wir in intensiven Gesprächen dazu, was wir uns unter künstlerischer Forschung vorstellen und wie wir das an der UdK implementieren können“, sagt UdK-Vizepräsidentin Prof. Dr. Ariane Jeßulat. Es gehe nun darum, Qualitätsstandards zu definieren, Promotionsordnungen zu schreiben und ganz grundsätzlich dort Strukturen und Institutionen zu schaffen, wo es Sinn ergebe. „Wir wollen aber auch nicht zu enge institutionelle Grenzen ziehen, nichts zu eng fassen, um der Kunst auch ihren Raum zu lassen“, so die Vizepräsidentin. Präsident Palz rechnet mit einer Entwicklungszeit von drei bis vier Jahren. In dieser Zeit könnte auch das Hochschulgesetz novelliert und der Austausch mit den anderen Kunsthochschulen intensiviert werden, sagt er. Andere Bundesländer seien zwar institutionell derzeit weiter als Berlin, aber mindestens mittelfristig könnte an der UdK, auch dank der Strahlkraft der Hauptstadt Berlin, ein Modell entstehen, das europaweit Maßstäbe setze.

In Österreich ging es schneller

An der Kunstuniversität Graz, etwa 900 Kilometer südlich von Berlin, existiert ein solches Modell mit Vorbildcharakter bereits: Dort wurde 2009 ein künstlerisch-wissenschaftliches Doktorat eingerichtet. Warum ging das in Österreich so viel schneller? „Die Veränderungen, über die wir da reden, sind strukturelle und kulturelle Transformationen, da braucht es eine Offenheit für das Denken zwischen Praxis und Reflexion, zwischen Kunst und Wissenschaft“, sagt Prof. Dr. Deniz Peters. „In Österreich ist dieses interdisziplinäre Potenzial innerhalb der Kunstuniversitäten vorhanden. Mein Eindruck ist, dass sich viele Institutionen in Deutschland damit schwertun, auch wenn es bereits mancherorts gute Bemühungen gibt.“ Der Professor für Künstlerische Forschung in Musik hat den Zweig an der Kunstuniversität Graz mit aufgebaut und leitet die dortige Doktoratsschule für das künstlerisch-wissenschaftliche Doktoratsstudium.

Kunst wird hier als eine Methode des Denkens verstanden. 25 Studierende sind derzeit in das sechssemestrige Studium eingeschrieben. 70 bis 100 Interessentinnen und Interessenten meldeten sich jedes Jahr, sagt Peters. Pro Projekt gebe es zwei interne Betreuerinnen und Betreuer – eine für den künstlerischen, einen für den wissenschaftlichen Bereich. Dazu kommen noch externe Berater, die einen kritischen Blick auf die einzelnen Vorhaben werfen. „Die große Aufgabe in der Betreuung ist es, die künstlerische und die wissenschaftliche Seite zusammenzuhalten“, erklärt Peters. Anders als der Wissenschaftsrat in seinen Empfehlungen würde er das Doktorat aber nicht als hybrid, sondern eher als dialektisch oder dialogisch beschreiben: „Das Studium lebt durch ein fortgehendes Ineinanderwirken von erkenntnisorientierten künstlerischen Handlungen und wissenschaftlicher Reflexion“, so Peters. 

Fragt man ihn nach einem Rat, den er deutschen Kunsthochschulen im Aufbau von künstlerisch-wissenschaftlichen Doktoraten geben würde, nennt er drei Dinge. Erstens, sich Klarheit über den Wissensbegriff verschaffen: „Erkenntnis beinhaltet bei uns nicht nur Wissen, sondern auch Verstehen.“ Zweitens: „Eine Kultur des Dialogs zwischen allen Beteiligten zu schaffen, anstatt fixe Formeln aufzubauen, nach denen künstlerisch-wissenschaftliche Forschung zu funktionieren hat. Sondern man muss offen bleiben, immer wieder neue Horizonte zu ermöglichen.“ Und drittens: Ohne Professur geht es nicht. „Wer einen Aufbau wirklich ernsthaft angehen will, sollte mindestens eine Professur und vielleicht noch eine Post-Doc-Stelle dafür schaffen. Es braucht einfach auf künstlerisch-wissenschaftlichen Erkenntniswegen erfahrene Menschen, die die Lehre und Entwicklung fokussieren und strukturieren“, sagt Peters.

Statt in jahrzehntelangen Debatten zu verharren, solle man auch in Deutschland jetzt Realitäten schaffen und Strukturen aufbauen, etwa mithilfe eines Pilotförderprogramms. Peters meint: „Man sollte den Empfehlungen des Wissenschaftsrats folgen und den hybriden Bereich ambitioniert angehen. Das Risiko des Scheiterns ist angesichts erfolgreicher internationaler Beispiele gering.“ //

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