Forschendes Lehren
„Scholarship of Teaching and Learning“ (SoTL) fasst allmählich Fuß in Deutschland. Birgit Szczyrba und Sabine Reisas erläutern, worum es geht
Beim englischen „scholar“ handelt es sich um eine lernende und gleichzeitig gelehrte Person. „Scholars of Teaching and Learning“ sind also Gelehrte ihres Faches sowie der Lehre in ihrem Fach und lebenslang Lernende in der Profession der Lehrenden. Sie setzen sich mit ihrer Lehre ebenso wissenschaftlich geleitet auseinander wie mit ihrer Forschung – mit dem Anspruch an Lehre als Teil der Wissenschaftspraxis an Hochschulen. Um einen wissenschaftlich begründeten Zugang zu ihrer Lehre zu erarbeiten, nutzen sie verschiedene Untersuchungsebenen. Sie ergründen zum Beispiel studentisches Lernen, fundieren ihre Lehrplanung auf einer Datenbasis, analysieren Lehrinnovationen und entwickeln kompetenzorientierte Studiengänge. Voraussetzung ist, dass Lehrende Offenheit für einen Perspektivwechsel mitbringen. Die eigenen Annahmen über studentisches Lernen infrage zu stellen, ermöglicht Lehrenden, ihre Lehrpraxis studierendenzentriert auszurichten und gleichzeitig ihre fachspezifischen Denk- und Handlungsweisen zu explizieren. Folglich fördert die SoTL-Praxis auch die Entwicklung einer reflexiven Lehrhaltung und -persönlichkeit.
In Deutschland auf dem Vormarsch
In diesem Sinne gewinnt der SoTL-Ansatz in Deutschland an Bekanntheit und Beliebtheit. Hochschullehrende erforschen mit zunehmender Verbreitung im SoTL-Modus ihre eigene Lehre und leisten mit ihren Erkenntnissen wichtige Beiträge zum evidenzorientierten wissenschaftlichen Handeln in der Hochschullehre. Durch den SoTL-Ansatz können die Erkenntnisse der fächerübergreifend forschenden Hochschuldidaktik um die fachbezogenen Erkenntnisse der Lehrenden erweitert und bereichert werden. Die Hochschuldidaktik kann so über die Beratung und Qualifizierung von Individuen und Teams hinaus die Strukturentwicklung für gute Lehre begleiten und im Austausch der Expertisen zwischen Hochschuldidaktik und Hochschullehre eine Reflexionsplattform bieten. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse– sofern sie dokumentiert und/oder publiziert sind – lassen sich dann in die Curriculumentwicklung integrieren und mit allen Beteiligten (inklusive der studentischen Sicht) auf ihre Tragfähigkeit hin überprüfen.
Ursprünge
Das Konzept von SoTL geht zurück auf Ernest L. Boyer, Präsident der Carnegy Foundation for the Advancement of Teaching (Boyer 1990). Er plädierte für die umfassende Professionalisierung der Hochschullehrenden in den vier Dimensionen Forschung, Synthese von Wissen und Sinngebung, Interdisziplinarität und Intellektualität sowie Problemlösung in Auseinandersetzung mit der Praxis und der Lehre (Huber 2011, S. 3). Über die Lehre sagte Boyer, sie sei in der Personalentwicklung und -politik systematisch und stärker zu fördern. Lehre müsse nicht nur auf solides Fachwissen, sondern vielmehr auf wissenschaftliche Arbeit über die eigene Lehre und das studentische Lernen gründen.
Im englischsprachigen Ausland erwuchs aus Boyers Idee eine Bewegung, es entstanden große Förderprogramme, Einrichtungen an Hochschulen in den USA, in Großbritannien und Schweden und eine internationale wissenschaftliche Gesellschaft (ISSOTL) mit regelmäßigen Konferenzen und einer Zeitschrift „The International Commons“ (www.issotl.com). Der Dachverband der nationalen hochschuldidaktischen Gesellschaften, das International Consortium for Educational Development (ICED) (https://icedonline.net), nahm SoTL als Sektion in seine internationalen Konferenzen auf.
Nachdem SoTL in Deutschland lange als Sache einzelner interessierter Lehrender galt, mehren sich in jüngerer Zeit Beispiele für die institutionelle Förderung des Ansatzes, wie sie dieser Themenschwerpunkt darstellt. SoTL-Forschende verbinden Erkenntnisse der disziplinären Bildungsforschung und der fächerübergreifenden hochschuldidaktischen Forschung. Sie veröffentlichen ihre lehrbezogenen Erkenntnisse und machen sie über Publikationen anderen Lehrenden zugänglich.
Herausforderungen
Im Kontext von SoTL beforschen nicht etwa Sozial- und Bildungswissenschaftler die Lehre anderer qua wissenschaftlichem Auftrag; vielmehr tun dies Lehrende aus nicht für die Lehr-/Lernforschung zuständigen Disziplinen. Herausforderungen entstehen unter anderem methodologisch im Zugang zur Forschung (Barnat & Szczyrba 2021). Während Forschung, die dem konstruktivistischen Paradigma zuzuordnen ist, davon ausgeht, dass Forscher beziehungsweise Forscherin und Forschungsobjekt in Verbindung stehen, Forschung immer wertbezogen ist, (soziale) Realität vom Beobachterstandpunkt abhängt und damit vielfältig sein kann, geht positivistische Forschung davon aus, dass die Beobachtung unabhängig vom Beobachtenden ist. Sie postuliert Wertfreiheit und beabsichtigt, objektive Realität zu erforschen. Und noch ein Unterschied zeigt sich als erheblich: Konstruktivistische Forschung geht davon aus, dass alle Erkenntnisse zeit- und kontextgebunden sind. Zeit- und kontextfreie Aussagen als Ziel der positivistischen Forschung werden im konstruktivistischen Paradigma als unmöglich betrachtet. SoTL-Projekte finden daher bei positivistisch orientierten Forschenden weniger Akzeptanz, bei konstruktivistisch orientierten Forschenden hingegen mehr. Die Kritik an SoTL-Projekten lautet, dass sie eher zu Erklärungen mittlerer Reichweite beitragen als zu zeit- und kontextfreien All-Aussagen (Spinath & Seifried 2018), die allerdings in Bezug auf Lehren und Lernen als dynamische, interaktionsabhängige Beziehungsarbeit wenig nützlich scheinen.
Eine weitere Herausforderung im SoTL-Format ist die Selbstbezüglichkeit im Zuge der Beforschung der eigenen Lehre, wenn Lehrende also einen Gegenstand beforschen, der durch sie selbst beeinflusst wird. Aus diesem Grund sind die eigenen Rollen im Prozess intensiv zu reflektieren (Kordts-Freudinger & Kenneweg 2021). Fundierte hochschuldidaktische Begleitung, fortlaufende Diskussionen über das solide Gewinnen von theoretischen und empirischen Erkenntnissen sowie Austausch mit Peers sind geboten. //
Dr. Birgit Szczyrba
ist seit 2002 in der Hochschuldidaktik tätig, 2010 übernahm sie die Leitung der Hochschuldidaktik im Zentrum für Lehrentwicklung (ZLE) der Technischen Hochschule Köln. Seit 2007 ist sie Mitglied der Akkreditierungskommission der Deutschen Gesellschaft für Hochschuldidaktik.
Foto: Martin Klein
Sabine Reisas
leitet an der Universitätsbibliothek der Universität zu Kiel die Abteilung Lernen und Lehren. Im Referat Lehrentwicklung des Geschäftsbereichs Qualitätsentwicklung berät sie Lehrende zu Fragen der Lehr- und Curriculumsentwicklung. Sie gehört dem Sprecherteam des deutschsprachigen SoTL-Netzwerks an.
Foto: privat
DUZ Magazin 12/2021 vom 17.12.2021