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Analog, Digital, Pandemie

In der Corona-Zeit haben sich die Grenzen zwischen klassischen Lehrformaten wie Vorlesungen und Seminaren zu verschieben begonnen, so die Beobachtung von Michael Jäckel, Präsident der Universität Trier. Ein Einblick in seine Erfahrungen der letzten 20 Monate

Es gibt immer wieder Momente in dieser Pandemie, die nachdenklich stimmen. Dazu gehört das Spektrum der gesellschaftlichen Reaktionen auf die Beherrschbarkeit dieser Herausforderung, aber auch die Wahrnehmung des eigenen beruflichen Umfelds, in diesem Fall der Universität. Sie ist nicht mehr so leer wie in den ersten Monaten. Es ist, bei aller Kreativität, die in der Pandemie auch Mut gemacht hat, das Eingewöhnen in die Verhältnisse. Es ist die Vorsicht im Umgang mit Rückkehroptionen zu der Zeit, die vorwiegend nur Präsenzlehre kannte. Hier soll der Blick deshalb auf Erfahrungen gelenkt werden, die, so meine Erwartung, von vielen geteilt werden. Es ist kein Aufruf, die Dinge nun kurzfristig zu ändern, eher ein Appell, bestimmte Unterschiede nicht zu vernachlässigen und in der Nachbetrachtung angemessen zu würdigen.

Die Faszination des Digitalen kommt von der gefühlten Selbstbestimmung – ich und das Display, die Technik als Erweiterung des Körpers. In vertrauten Umgebungen kann die Situationsgeografie, die dieser Wahrnehmung zugrunde liegt, als angenehm empfunden werden. Werden die Rahmenbedingungen jedoch offizieller, stößt das selbstbestimmende Element an seine Grenzen. Wenn in der Medienwirkungsforschung von einem „situativen Ansatz“ gesprochen wird, dann steht die Frage im Vordergrund, wie elektronische Medien sich auf das soziale Verhalten auswirken. Es dominiert nicht der Blick auf den Inhalt, sondern auf den Modus des Austauschs, auf die Form der Interaktion. Was also heißt es beispielsweise, Twitter zu nutzen? Welcher Rahmen wird durch eine Videokonferenz geschaffen? Ist das Medium selbst in der Lage, mehr als der Vermittler eines Inhalts zu sein?

In der Diskussion um die Vorzüge der Digitalisierung für die akademische Lehre stand, auch und gerade in der Pandemie-Situation, die technische Dimension häufig im Vordergrund. Die Argumentation lebte von „Macher“-Eigenschaften. Es galt, zunächst ein Problem zu lösen. Die dazugehörige Didaktik, die Möglichkeit, den Alltag der Universität zu simulieren, wurde erst lauter artikuliert, als der Betrieb sozusagen lief und ein technischer Rahmen zum Standard erklärt worden war. Zur Wahrheit gehört auch, dass dabei der Übertechnisierung des Lernumfelds gerne die Romantisierung des Campuslebens gegenübergestellt wurde. Stets wurde dabei auch unterstellt, dass es einen common sense über das „Drehbuch“ der Universität gebe.

Präsenz im Analogen und Digitalen

Als vor einigen Jahren die Universitäten in der Hochschulrektorenkonferenz an einem Papier über ihr Selbstverständnis arbeiteten, war eine Verständigung über die Verwendung des Begriffs „Anwesenheitsinstitution“ als zutreffende Bezeichnung des Kerns der akademischen Lehre (und Forschung selbstverständlich auch) eher schwierig. Nach 18 Monaten Pandemie soll hier einmal systematischer gefragt werden, wie präsent es im Analogen und/oder Digitalen eigentlich sein kann. Die Überlegungen gehen dabei von einer zunächst sehr grundsätzlichen Position aus: Für die Qualität einer Interaktion ist entscheidend, in welcher Form und in welchem Umfeld diese stattfindet. Zur Qualität gehört somit auch, mit einer Aussage spezifischen Inhalts auf Resonanz zu stoßen. Das zumindest könnte ein Konsens sein. Aber es darf auch gefragt werden, ob die Bereitschaft, sich in dieser Weise auf andere einzulassen, noch dem Status quo entspricht. 

Allenthalben werden Aufmerksamkeitsdefizite thematisiert, das allgemeine Um-sich-Greifen von Ablenkungssymptomen, ebenso ist da der Wandel unserer Kommunikationsumwelt, dem ständig Empfehlungen folgen: jeden Tag eine neue IT-Expertise, ein neues Kollaborations-Tool, digitale Helfer in Form von Apps und Wikis. Eine ganz eigene Sprache hat sich etabliert, die eine Semantik des Digitalen verkörpert und sich in moderater Form als Anpassung, häufiger hingegen als unausweichlicher Wandel von Studium und Lehre positioniert. Diese Medienüberlast sorgt alleine bereits für Erschöpfungszustände, fördert also nicht Zustimmung, sondern Reaktanz.

Die Diskussion um die Vorzüge der digitalen Lehre hatte bereits vor der Pandemie eine lange Geschichte und durch viele Initiativen einen Platz auf der Agenda der Hochschulpolitik erobert. Diese Vorgeschichte erweist sich mit Blick auf die Bewältigung der Pandemie im akademischen Bereich als sehr hilfreich. Denn hätte uns die Pandemie in einer Zeit ereilt, die ihre tägliche Kommunikation im Wesentlichen auf das gesprochene Wort und den geschriebenen oder gedruckten Text stützte, wäre die wahrgenommene Differenz zwischen dem vormals Bekannten und dem in der Krise Möglichen weitaus größer gewesen. Wer im März 2020 von Schließung sprach, der hoffte auf eine kurze Unterbrechung. Bald wurde deutlich, dass die Bewältigung einer Pandemie nach Strukturen verlangt, die von langer Dauer sind. Die Dauer ist es auch, die zu einer Veränderung der Beurteilung der pragmatischen digitalen Lösungen führte. Die Alternativlosigkeit hat auch zu einer Neubewertung der Unterscheidung analog/digital beigetragen. 

Es an allen Lehrformaten zu exerzieren, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Der Vergleich konzentriert sich daher prototypisch auf die im Zusammenhang mit Lehre am häufigsten genannten Varianten – die Vorlesung und das Seminar –, ohne damit die vielen anderen Formen – die Übung und das Proseminar, das Tutorium und die praktische Übung sowie Experimental- und Laborkurse – als nachrangig einzustufen.

Die Vorlesung

Die Vorlesung selbst ist ein Lehrmuster, dessen Bild in der Öffentlichkeit häufig noch sehr wortgetreu ausgemalt wird. Ihre herkömmliche Länge (90 Minuten) geht einher mit der anspruchsvollen Erwartung, eine Kommunikationsregel zu akzeptieren: eine oder einer spricht und viele hören zu. Es ist wohl diese Vorlesung, die am stärksten das Bild vom Alltag und vom Besonderen der Universität vermittelt. Historische Darstellungen zeigen gerade diese Situation, häufig verbunden mit der dafür erforderlichen Konzentration. Wenngleich sich die Karrierewege zu Universitäten auszudifferenzieren beginnen, ist der Habilitationsvortrag, die Antrittsvorlesung oder die Probevorlesung im Rahmen eines Berufungsverfahrens nach wie vor ein wesentliches Evaluationsinstrument zur Beantwortung der Frage: Kann dieser Person dauerhaft die akademische Lehre an einer Universität anvertraut werden? Wer diese Prüfung besteht, betritt also auch dauerhaft die akademische Bühne. 

Die Vorlesung galt und gilt als das Aushängeschild der jeweiligen Professur. Hier ist man allein mit dem Publikum und der Zeit, hier gilt es, selbst die Gedanken zu ordnen und so zu systematisieren, dass daraus eine gelungene Stoffdarbietung wird. Denn die Vorlesung, so zumindest findet es sich in vielen Definitionen, muss hervorheben, was wichtig ist. Die Vortragenden müssen in der Lage sein, den ausufernden Stoff zu gliedern, Prioritäten zu setzen, zu fokussieren und den Mut haben, bestimmte Dinge wegzulassen. Das gilt grundsätzlich, entspricht also einer allgemeinen Erwartung. Gerade Vorlesungen, die für sich den einführenden Charakter reklamieren und in der Nachfolge der Bologna-Reform auch zugenommen haben, werden daran gemessen. Das Spezialistische hat ebenso Einzug gehalten. Gerade in der Pandemie drehten sich die Sorgen aber um den gelingenden Einstieg in Fachgebiete unter digitalen Bedingungen.

Mehr als Vorlesen

Nun wird die Vorlesung also in ein technisches Umfeld eingebettet. Und je mehr sie sich als asynchrones Format (Aufzeichnung) darauf konzentriert, den Stoff zusammenzufassen, dabei also beispielsweise Folien ausschließlich mit gesprochenem Text kommentiert, nähert sie sich tatsächlich dem Vorlesen. Je mehr also Elemente der Kopräsenz verschwinden, desto mehr entwickelt sich ein anderer Zusammenhang von Form und Inhalt. Das Publikum beispielsweise erlebt sich im Vergleich zum Hörsaal kaum als solches, weil das Auditorium sich in der Regel ja an vielen unterschiedlichen Orten befindet. Wenn dann nur ein Standbild der Rednerin oder des Redners oder gegebenenfalls nicht einmal das zu sehen ist, gleicht die Vorlesung einer Lerneinheit, die in elektronischer Form auch seit geraumer Zeit den Lehrbüchern hinzugefügt wird. Dieser Art von Vermittlung kann das belebende Element fehlen. Es entsteht ja gerade dadurch, dass die Vorlesung selbst gar nichts von einer solchen hat, sondern mehr ist als Vorlesen. Wer an seinem Manuskript klebt, fordert sein Publikum in anderer Weise heraus als Vortragende, die sich an einem Vortragsgerüst orientiert in der freien Rede üben.

Wo ergänzende Visualisierung sinnvoll ist, zeigen sich auch die Vorzüge der neuen Technologien. Form und Inhalt sind es vor allem, die über die Qualität und die Dauer der Aufmerksamkeit entscheiden. Das gilt für das Analoge ebenso wie für das Digitale. Im Studio aufgenommene Vorlesungen müssen kompensieren, was der direkte Kontakt zwischen Redner und Publikum als ergänzendes Element ermöglicht. Die Suche nach dem direkten Kontakt im Sinne eines bestätigenden oder kritischen Blicks kann nur in Ansätzen gelingen, dafür lassen sich andere Formen der Rückmeldung parallel zum Vortrag integrieren. Hier kann die Technik sogar mehr leisten als die traditionelle Fragerunde im Rahmen einer analogen Vorlesung. Es ist sehr viel möglich, auf die Dosierung kommt es an. Nicht auf alles kann sofort eingegangen werden, aber die Rückmeldungen können ja in spätere Episoden einfließen. So wird hier also zunächst mehr verschriftlicht und visualisiert, aber in einem späteren Schritt kann es dann wiederum Teil des gesprochenen Wortes werden.

Das Seminar

Das gesprochene Wort steht wiederum für die Idee des Seminars. Im Unterschied zur Vorlesung soll hier dem Dialog mehr Raum gegeben werden (allerdings kommt dieses Element häufig zu kurz). Der Austausch über ein wissenschaftliches Thema soll zugleich auch in das wissenschaftliche Arbeiten einführen. Jeder weiß, dass die Qualität eines Seminars sowohl von der Bereitschaft, sich darauf einzulassen, als auch von der Qualität des Inputs abhängt. Das gilt für die Form „Wir haben den Text gelesen und besprechen nun den Inhalt“ ebenso wie für die immer noch ­weitverbreitete „Vortrag-Diskussion-Vortrag-Diskussion-Variante“. Ob es ein Hin und Her der Argumente gibt und ob das Lebhafte der Debatte am Ende die Neugier der Beteiligten steigert, ist nicht notwendigerweise nur dem formalen Rahmen geschuldet. Jedenfalls ist dieser Kommunikationsmodus das Sinnbild des akademischen Gedankens: Frage und Antwort, Dialog, Kommentar – Stärken und Schwächen einer Theorie oder Methode sollen auf diese Weise offengelegt werden. Die Übertragung dieses Formats in ein digitales Umfeld hat nicht unter Beweis gestellt, dass es dort nicht funktioniert. Sie hat eher veranschaulicht, dass es an Grenzen der Beteiligung stößt und eine Beobachterrolle begünstigt. Auch aus den analogen Formaten ist bekannt, dass Beteiligung schon immer ungleich verteilt war. In einer digitalen Umgebung aber nimmt dieses Phänomen offenbar noch zu. 

Verschwinden der Formatgrenzen

Im Analogen wie im Digitalen ist es die Größe des Seminars, also die Zahl der Teilnehmenden, die in der Regel Grenzen setzt. In der Hoffnung auf mehr Belebung und Beteiligung kann in beiden Welten auf Gruppenbildung gesetzt werden. Ein architektonischer Wandel des klassischen Seminarraums steht zwar erst am Anfang, aber das Ziel ist mehr Flexibilität im Dienste der Zusammenarbeit. Sogenannte Kollaborations-Software überträgt diesen Gedanken in die digitale Welt. Immer wieder also wird deutlich, dass es keine wirkliche Wesensfremdheit zwischen analogen und virtuellen Umgebungen gibt. Es mag sein, dass im digitalen Umfeld Diskussionen einen geordneteren Verlauf nehmen, das Prinzip der Warteschlange – sofern man sich auf einen Meldemodus verständigen kann – den Modus von Reden und Zuhören bestimmt. Häufig kann in den Chaträumen ein kontinuierlicher schriftlicher Austausch von Argumenten, Dokumenten, Verweisen auf andere Seiten und dergleichen beobachtet werden. So steigt in der digitalen Umgebung die Wahrscheinlichkeit, dass ergänzend zur Hauptbühne Nebenbühnen entstehen. Aber nicht nur das: Die Digitalisierung sorgt für ein Verschwinden der Formatgrenzen. Konvergenz könnte eine mögliche Beschreibung sein. Aber viel aufschlussreicher ist, dass auch die Unterscheidung von analog und digital eine stets nur vorläufige ist. In dieser neuen Situationsgeografie müssen Lehrende und Lernende ein neues „sensorisches Gleichgewicht“ finden.

Einhelliger Ruf nach Rückkehr zur Präsenzlehre

Der Vergleich analoger und digitaler Lehre ist durch die lang andauernde Pandemie aktuell zu einer Kritik an der Monotonie des Alltags, auch des Studiums, geworden. Wer zunächst meinte, dass vor allem Studierende, die noch nie einen Hörsaal von innen gesehen haben, am deutlichsten mehr oder die Rückkehr zur Präsenzlehre forderten, wurde überrascht. So einhellig war das Urteil, dass eine Differenzierung nach solchen oder anderen, zum Beispiel fachlichen Merkmalen nicht erforderlich war: Zwei Dritteln der Studierenden fehlt die Strukturierung des Tages, noch mehr beklagen die fehlende Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden und die Universitätsatmosphäre, die sich nicht nur im Hörsaal oder Seminarraum zeigt. 

Die Empirie spricht eine deutliche Sprache: Trotz vieler kreativer Lösungen fehlt im rein digitalen „Ersatzbetrieb“ die Abwechslung. Einerseits sind neue Einsatzfelder gefunden worden, die auch nach der Pandemie weiterentwickelt werden, andererseits ist da die Vereinzelung, die durch alle Vorzüge des Digitalen nicht kompensiert werden kann. Die Monotonie rückt die Vorzüge dieser neuen Gelegenheitsstrukturen in den Hintergrund. Der große Auftritt des Digitalen endet mit Applaus und dem Wunsch nach „neuen Bühnenstücken“. Dabei dürfte auch das Zeitkorsett der bisherigen Formate zur Disposition stehen. Muss eine Vorlesung beispielsweise immer 90 Minuten füllen? Bei aller Virtuosität im Umgang mit dem digitalen Set steht für viele bereits jetzt das Ergebnis einer noch zu erstellenden Bilanz fest: Die Mischung macht es. //

Prof. Dr. Michael Jäckel

ist Soziologe und seit 2011 Präsident der Universität Trier, deren Vizepräsident er zuvor seit 2003 war. Er ist dort seit 2002 Inhaber der Professur für Konsum- und Kommunikationsforschung (zurzeit beurlaubt). Zu seinen wissenschaftlichen Schwerpunkten zählen die Themenbereiche Medien- und Konsumsoziologie, neue Kommunikationstechnologien und Arbeitsorganisation sowie die Soziologie der Zeit.

Foto: Universität Trier

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