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Synthese von Erkenntnissen

Georg Schütte über die Wissenschaft in der Post-Corona-Zeit – ein Plädoyer für Experimentierräume für inter- und transdisziplinäre Wissenschaft

Krisen sind Wendepunkte. Sie fordern ein Umdenken und Umsteuern, das hat uns die Corona-Pandemie schmerzlich vor Augen geführt. Jetzt, wo sich der Nebel der unmittelbaren Krisenbewältigung lichtet, wird der Blick frei für die Frage, wie wir uns auf neue Krisen, deren Art und Weise wir nur bedingt vorhersehen können, vorbereiten und wie wir sie bewältigen können. Hier ist die Wissenschaft gefordert. In den Hochschulen und Forschungseinrichtungen wird das Wissen zum Verständnis unserer Welt zusammengetragen. Hier sind die Expertinnen und Experten, die Modelle der Zukunft entwerfen und die die Krisenfähigkeit und Krisenfestigkeit unseres Gemeinwohls stärken können. Doch sind die Verfahren und Strukturen der Wissenschaft dieser Aufgabe angemessen? Die Corona-Pandemie zeigt sehr deutlich, dass Antworten zur Krisenbewältigung nicht nur in einzelnen Disziplinen, nicht innerhalb eines Fachgebiets gefunden werden können. Und die Antworten werden auch nur dann relevant, wenn die Schnittstelle zwischen der Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen funktioniert. Hier gibt es Nachholbedarf in Deutschland – und Entwicklungschancen zugleich.

Die Forderung nach Interdisziplinarität fehlte auch bisher schon in kaum einer wissenschaftspolitischen Stellungnahme. Wenn sie nicht gefordert wird, so bekennt man sich zu ihr. Dabei gilt grundsätzlich: Fachdisziplinen sind der Ort, an dem die Standards für Forschung und Lehre gesetzt werden. Hier wird der Forschungsgegenstand inhaltlich bestimmt und eingegrenzt. Wer hier forscht und lehrt, kennt die einschlägigen Methoden und weiß, wie man sich wissenschaftlich im jeweiligen Fachgebiet weiterqualifiziert. Disziplinäre Breite und Tiefe sind eine Grundvoraussetzung für interdisziplinäres Arbeiten.

Interdisziplinäre Forschung und Lehre integrieren Erkenntnisse, Methoden und Begriffe aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Hier geht es um die Übertragung von Methoden und Konzepten von einem Fachgebiet auf ein anderes. Interdisziplinäre wissenschaftliche Arbeit leistet Zusammenschau und die Synthese von Erkenntnissen.

Die Förderpraxis der Wissenschaft in Deutschland, Europa und darüber hinaus scheint auf den ersten Blick diesem Anspruch gerecht zu werden: Rund 60 Prozent aller Fördermittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), so hat es der Wissenschaftsrat (WR) im vergangenen Jahr für sein Positionspapier „Wissenschaft im Spannungsverhältnis zwischen Disziplinarität und Interdisziplinarität“ erhoben, gehen in die zumeist fächerübergreifende Verbundforschung. Auch die Fördermittel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) fließen zu 90 bis 95 Prozent in interdisziplinäre Verbundvorhaben. Und die „Missionen“ des neuen EU-Forschungsrahmenprogramms Horizon Europe werden nur im Zusammenwirken verschiedener Disziplinen zu bearbeiten sein.

Bisherige Aktivitäten und Investitionen sind unzureichend

Diese Investitionen sind wichtig und richtig. Doch reichen sie aus, um langfristig dem Anspruch gerecht zu werden, auf neue Krisen vorbereitet zu sein? Reichen sie aus, um gestärkt aus ihnen hervorzugehen? Wohl kaum. Oft genug finden sich etwa noch immer „forced marriages“, Partnerschaften, die sich unter dem Druck einer Ausschreibung zusammenschließen, in denen sich die Partner aber fremd bleiben. Wir brauchen deshalb den Mut zu neuen Wegen, den Mut, Curricula weiterzuentwickeln und insbesondere Experimentierräume zu schaffen, in denen wir das Zusammenwirken der Disziplinen und auch das Zusammenspiel zwischen dem akademischen und dem außerakademischen Bereich neu erkunden und neu gestalten.

Megatrends der globalen Entwicklung spannen den Problemhorizont heute weit auf. So hat die Hochwasserkatastrophe in Deutschland im Sommer dieses Jahres und die Häufung von Extremwetterereignissen auch in anderen Teilen der Welt den Blick sehr schnell wieder auf die langfristigen globalen Umweltveränderungen gerichtet. Klimawandel und Biodiversitätsverlust, Ressourcenverbrauch und Rohstoffversorgung etwa sind Themen, derer sich die Wissenschaft nur mit disziplinären Tiefenbohrungen und interdisziplinärer Zusammenschau zugleich annehmen kann und muss. Gleiches gilt für den globalen demografischen Wandel, für Fragen der Migration und Integration, von Bildung und Teilhabe, von Krankheit und Vorsorge.

Digitale Technologien treiben einen Strukturwandel der Wissenschaft voran, der ebenfalls die Zusammenarbeit über Disziplinengrenzen hinweg erfordert. Die Corona-Pandemie hat mit der digitalen Lehre einen Trend beschleunigt, der sich bereits seit vielen Jahren und grundsätzlicher abgezeichnet hat. „Digitalität“ ist längst zu einem bestimmenden Wesensmerkmal der Wissenschaft geworden. Künstliche-Intelligenz-Technologien und digitale Vernetzung rücken neue wissenschaftliche Fragestellungen ins Zentrum der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatte. Es entwickeln sich neue Methoden und neue kommunikative Praktiken – in der Lehre wie in der Forschung und darüber hinaus. Forschungsdaten sind zum „Rohstoff“ des wissenschaftlichen Alltags geworden, der ortsunabhängig genutzt und (wieder)verwertet werden kann – und der dafür standardisiert und kuratiert werden muss. In jedem Fachgebiet, aber auch zur Nutzung über Fachgebietsgrenzen hinaus. „Datenwissenschaften“ etablieren sich längst als neues Feld, quer zu den vertrauten Disziplinen.

Der Arbeitsmarkt erfordert den Blick über die eigenen Fachgrenzen

Zudem gilt von der grundständigen Ausbildung in Bachelor-Studiengängen bis zur Promotion: Der größte Teil der so Qualifizierten verlässt nach Erlangung des akademischen Grades die Hochschule. Im dann folgenden beruflichen Alltag müssen die Absolventinnen und Absolventen oft genug mit dem Wissen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen und beruflichen Sektoren umgehen. Gefordert sind Neugier und das Verständnis von grundlegenden Zusammenhängen. Gefragt sind Beurteilungskompetenz und Synthesefähigkeit. Zudem verlangen neue Berufsfelder nach neuen akademischen Ausbildungsformen. Ingenieurinnen und Ingenieure müssen als Unternehmensgründer auch betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse mitbringen. Paramedizinische Spezialisten sind auf medizinische und sozialwissenschaftliche Kenntnisse angewiesen, ebenso diejenigen, die akademisch qualifiziert in Heil- und Pflegeberufen tätig sein wollen. Auch die Aus- und Weiterbildung in technischen oder sozialen Berufen erfordert ein Zusammenwirken von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen innerhalb der Hochschulen, in der Forschung und der Lehre.

Schließlich konkurrieren Hochschulen und Forschungseinrichtungen heute mit großen Tech-Unternehmen, die gewinnorientiert, flexibel und schnell neue Verbindungen zwischen Fächern und Disziplinen, zwischen Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung herstellen, um junge Talente und erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Noch sind diese Unternehmen vielfach dadurch geprägt, dass sie keinen Konventionen, keinen Pfadabhängigkeiten, auch nicht denen wissenschaftlicher Disziplinen, folgen. Und sehr viele sind damit wirtschaftlich äußerst erfolgreich.

Spannungsverhältnis von Disziplinarität und Interdisziplinarität (neu) gestalten

Damit müssen sich Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen heute die Frage stellen, ob sie für diese Herausforderungen und für diese neue Konkurrenzsituation passend aufgestellt sind. Jenseits des aktuellen Krisenmanagements in der Corona-Pandemie, jenseits der unbedingt wichtigen Frage, wann wer unter welchen Bedingungen wieder Zugang zu Präsenzveranstaltungen bekommen kann und darf, steht die Frage im Raum, wie Hochschulen und Forschungseinrichtungen künftig das Spannungsverhältnis von Disziplinarität und Interdisziplinarität gestalten wollen. Die Weiterentwicklung in der Eigenlogik der Disziplinen ist dabei die lange eingeübte und professionalisierte Routine. Nicht selten aber führt sie zu noch weiterer Spezialisierung – sowohl in der Forschung als auch in neuen Studiengängen. Neue Denk- und Handlungsräume für das Zusammenspiel der Disziplinen in der Forschung, aber insbesondere auch in der Lehre zu schaffen, bleibt weiterhin ein Desiderat, das mit vielen Herausforderungen verknüpft ist, sowohl für einzelne Forschende und Lehrende als auch für die Institution Hochschule als Ganzes. Oftmals nur unter der Hand, aber noch immer gilt Interdisziplinarität beispielsweise als Karrierekiller für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Zu oft noch bleibt es bei wohlfeilen Absichtserklärungen, die schon im nächsten Berufungsverfahren wieder vergessen sind. Fakultäts- und Universitätsleitungen sind gefordert, Strukturen für die disziplinenübergreifende Zusammenarbeit zu schaffen, Qualitätsstandards zu etablieren und Anreizsysteme zu erproben.

Doch damit nicht genug. Auch im Außenverhältnis stehen Hochschulen und Forschungseinrichtungen unter Druck. Patientengruppen etwa fordern Korrektive zur rein neugiergetriebenen medizinischen und molekularbiologischen Forschung. Nichtregierungsorganisationen fordern für die Klima-, die Energie- oder die Mobilitätswende auch eine Forschungswende. Und politische Parteien formulieren Forschungsförderziele und setzen sie im ministerialen Alltag durch. Im Kern steht der Anspruch, „dass Wissenschaft bzw. Forschung sich aus ihren fachlichen, disziplinären Grenzen löst und ihre Probleme mit Blick auf außerwissenschaftliche, gesellschaftliche Entwicklungen definiert, um diese Probleme disziplin- und fachunabhängig zu lösen“, sagt der Wissenschaftsphilosoph Prof. Dr. Jürgen Mittelstraß und definiert damit „Transdisziplinarität“. Diese Außenperspektive fordert die Wissenschaft mit neuen Fragen heraus: Wer setzt die Forschungsagenda, wer entscheidet, was künftig geforscht wird? Und wie geforscht wird, etwa in der Pflanzenzüchtungs- oder der Arzneimittelforschung? Und wer forscht, wenn doch auch Bürger-Wissenschaft zur Erkenntnis beitragen kann? Auch hierauf müssen Hochschulen eine Antwort finden – inhaltlich und organisatorisch.

Wenn die Krisenwahrnehmung der Pandemie auch eine Chance für die Zukunft bieten soll, dann reicht es deshalb nicht, wenn die Wissenschaft voller Stolz auf die zweifelsohne herausragende Leistung verweist, in kürzester Zeit einen Covid-19-Impfstoff entwickelt zu haben. Und es ist nicht genug, auf das exemplarische Zusammenspiel von hoch spezialisierter Grundlagenforschung und unternehmerischer Weiterentwicklung bei der Entwicklung dieses Impfstoffes zu verweisen. All das ist richtig. Aber für die Zukunft müssen Hochschulen und Forschungseinrichtungen neu bestimmen, wie weit sie der Eigenlogik wissenschaftlicher Spezialisierung folgen und wo sie dem gesellschaftlichen Bedarf an Integrations-, Synthese- und Dialogfähigkeit gerecht werden wollen. Denn nur wenn das Verhältnis zwischen diesen Polen ausgewogen ist, lässt sich rechtfertigen, dass wir auch künftig das knappe öffentliche Geld als beste Form der Zukunftsvorsorge in die Wissenschaft investieren.

Inter- und Transdisziplinarität bilden den Kern der Förderstrategie der VolkswagenStiftung

Die VolkswagenStiftung macht sich mit ihrer neuen Förderstrategie auf den Weg, diesen Prozess zu begleiten. „Transnationale, inter- und transdisziplinäre Projekte zählen zu den Kernmerkmalen ihres Förderhandelns“, heißt es dort. Die Ansätze sind vielfältig.

In dem ersten von drei Profilbereichen fördert die Stiftung unter dem Titel „Exploration“ die neugiergetriebene Forschung, die sich den großen wissenschaftlichen Herausforderungen stellt. Hier bestimmt die Wissenschaft die Agenda. Hier entscheidet das Erkenntnis­interesse über die Methode und den fachlichen Fokus. Zugleich bietet sich hier auch ein Freiraum, um die Erkenntnischancen neuer Methodiken zu erkunden. Im Förderprogramm „Mixed Methods“ etwa haben Forschende der Geistes- und Kulturwissenschaften bereits vor einiger Zeit das klassische Methodenrepertoire dieser Disziplinen um neue digitale Forschungstechniken ergänzt, um innovative Erkenntnischancen zu heben.

Im Profilbereich „Gesellschaftliche Transformationen“ bietet die Stiftung Raum für Beiträge, die die Wissenschaft erbringen kann, um die vielfältigen Veränderungsprozesse des 21. Jahrhunderts zu verstehen und mitzugestalten. Hier werden die Fragestellungen vielfach nahelegen, über die Grenzen etablierter Disziplinen hinweg zusammenzuwirken. Dann gilt es auszuloten, ob verschiedene Disziplinen symmetrisch zusammenarbeiten können, wie es der Wissenschaftsrat problematisiert, oder ob in asymmetrischen Strukturen die Rolle und das Gewicht der beteiligten Fächer immer wieder neu zu verhandeln sind, um im produktiven Zusammenspiel Neues zu erarbeiten. So kann auch die Art der interdisziplinären Kooperation zum eigentlichen Experiment werden. Im Programm „Künstliche Intelligenz und Gesellschaft“ etwa arbeiten Forschende der Informatik mit Forschenden der Gesellschafts-, Geistes- und Kulturwissenschaften – synergetisch und produktiv – zusammen.

Für die Wissenschaftsförderung bedeutet dies, Beurteilungs- und Bewertungsverfahren sowie Entscheidungsprozesse zu entwickeln, die den Ansprüchen und Standards der Wissenschaft gerecht werden und zugleich die Interessen nicht wissenschaftlicher Akteure, die Faktor dieser großen Transformationen sind, berücksichtigen. Transdisziplinarität in Aktion heißt auch: Mut zu entwickeln, neue Verfahren zu erproben, dabei auch zu scheitern und Kritik auf sich zu ziehen.

Doch es darf und soll nicht beim Ausprobieren bleiben. Der Profilbereich „Wissen über Wissen“ bietet im Förderportfolio der VolkswagenStiftung den Reflexionsraum, um nicht zuletzt auch neue Ansätze inter- und transdisziplinärer Wissenschaft zu erforschen und zu evaluieren. Hier kann gefragt werden, wie sich die Anreiz- und Belohnungssysteme für disziplinäre und interdisziplinäre Forschung entwickeln. Hier kann erkundet werden, welche gewollten und ungewollten Einflüsse sie auf die Karriere junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gewinnen und welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, damit inter- und transdisziplinäres wissenschaftliches Arbeiten gelingt. Hier kann international verglichen werden, welche Strukturen sich für ein neues Zusammenwirken der Disziplinen und den Austausch zwischen Academia und anderen gesellschaftlichen Bereichen entwickeln.

In ihrem Querschnittsbereich „Wissenschaft in der Gesellschaft“ bietet die Stiftung Debattenräume für diese Fragestellungen. Und sie schafft Experimentierräume, „Reallabore“ wie etwa die neuen Zentren für Wissenschaftskommunikationsforschung. Hier kommen Akteure aus der disziplinären Wissenschaft, in erster Linie der Kommunikationsforschung, mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Fachdisziplinen und Fächerverbünde zusammen, um die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu reflektieren. Dies geschieht mit Kommunikationspraktikerinnen und -praktikern, Schnittstellenakteuren also, die zwischen Wissenschaft und nicht akademischer Öffentlichkeit vermitteln. Inter- und Transdisziplinarität finden hier einen gemeinsamen Ort.

Schürft damit auch die Stiftung das „Katzengold“ der Inter- und Transdisziplinarität, das golden in der Rhetorik der Strategiepapiere glänzt, im Alltag aber doch nichts wert ist? Weit gefehlt! Wenn Inter- und Transdisziplinarität mehr sein sollen als wohlfeile wissenschaftspolitische Forderungen, dann benötigt die Wissenschaft genau solche Experimentierräume, etwa um neue methodische Ansätze zu erproben, um sie von einem Fach auf das nächste zu übertragen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Dann gilt es, Austauschverhältnisse zu erkunden, die Wissenschaft in einen intensiveren Dialog mit anderen gesellschaftlichen Akteuren bringen. Dies gelingt nicht von jetzt auf gleich. Es aber beständig zu probieren und risikobewährtes Erkunden zu unterstützen, ist für Wissenschaftsförderer Herausforderung und Bereicherung gleichermaßen. //

​Georg Schütte

Dr. Georg Schütte ist Medien- und Kommunikationswissenschaftler und seit Januar 2020 Generalsekretär der VolkswagenStiftung. Von Dezember 2009 bis August 2019 war er Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung.​

Foto: Philip Bartz​

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