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Alle Hebel in Bewegung setzen

Die erneute Machtergreifung der Taliban droht auch das afghanische Hochschulwesen lahmzulegen. Deutschland muss nun sondieren, wie es seine traditionell guten Beziehungen nutzen kann, um bedrohte Studierende und Wissenschaftler zu schützen und das Schlimmste zu verhindern

Afghanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Studierende appellieren eindringlich an die internationale Wissenschaftsgemeinschaft „Bitte vergesst uns nicht und holt uns hier raus“. Ist mit der erneuten Machtergreifung durch die Taliban die mit internationaler Unterstützung erfolgte Aufbauarbeit der letzten zwei Dekaden umsonst gewesen? Wird vor allem auch das Bildungs- und Hochschulwesen, das von den Reformen stark profitiert hat, wieder um Jahrzehnte zurückgeworfen? Das Gros der Experten ist bislang noch verhalten optimistisch und meint Nein, nur sollte man aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. So appelliert Dr. Kambiz Ghawami, Vorsitzender des deutschen World University Service an die Verantwortlichen aus Politik und Wissenschaft: „Jetzt ist es dringend notwendig, diesen verzweifelten Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine Ausreise nach Deutschland zu ermöglichen und ihnen hier Schutz und Aufnahme zu bieten. Viele dieser verzweifelten Studierenden sind die Töchter und Söhne von afghanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die früher in Deutschland studiert und gearbeitet haben und die durch ihre Eltern eine große Verbundenheit mit Deutschland haben und hierauf ihre ganze Hoffnung der Rettung setzen.“

Traditionell recht gute Beziehungen zwischen Kabul und Berlin

Die Beziehungen zwischen Kabul und Berlin reichen bis ins deutsche Kaiserreich zurück. Damals versuchte Berlin, Afghanistan als Verbündeten gegen die Kolonialreiche Großbritannien und Russland zu gewinnen. Es wurden jedoch keine militärischen, sondern wirtschaftliche und gesellschaftliche Kooperationen geschlossen. Bereits 1922 traf eine erste Gruppe von jungen Afghanen zum Studium in Deutschland ein. Während der Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 haben afghanische Studierende und Fachkräfte in Berlin, Bochum, Bonn oder Heidelberg Pläne für eine Re-Demokratisierung und den Aufbau von Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan entwickelt. Ihre Aktivitäten in Deutschland zahlten sich langfristig aus. Mit dem Wiederaufbauplan für Afghanistan startete 2002 das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ein umfangreiches Reintegrationsprogramm, das zurückkehrende afghanische Hochschulabsolventen und Fachkräfte beim Berufseinstieg und der Umsetzung ihrer Pläne für Afghanistan unterstützte.

Kurz nach dem Fall des Taliban-Regimes Ende 2001 konnte sich die deutsche Bundesregierung auf internationalem Parkett als außenpolitisches Schwergewicht auf der durch die Vereinten Nationen koordinierten Peterberger-Afghanistankonferenz präsentieren. Das im Dezember 2001 verabschiedete internationale Petersberger Abkommen bestand aus einem Fünf-Punkte-Plan, der die Entwicklung und Zukunft Afghanistans als demokratischer Staat mit Beteiligung aller bedeutenden Volks- und Interessengruppen zum Ziel hatte. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unterstützte mit der United Nations Assistance Mission for Afghanistan (UNAMA) und der International Security Assistance Force (ISAF) den Wiederaufbau. Militär, Sicherheitskräfte und zivile Aufbauhelfer sollten gemeinsam den Nation-Building-Prozess in Afghanistan vorantreiben.

Akademischer Wiederaufbau als Teil des Entwicklungsprozesses

Beim multilateralen Wiederaufbau übernahm Deutschland Führungsverantwortung und gehörte beim wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes zusammen mit den USA und Japan zu den wichtigsten Geberländern. Dass Deutschland diese führende außenpolitische Rolle zufiel, hing auch mit seinem guten Image und seinen guten Beziehungen zur islamischen Welt zusammen. Mit einer neuen afghanischen Verfassung und den ersten demokratischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen endete der Petersberg-Prozess Ende 2005, nicht jedoch das deutsche und internationale Engagement in Afghanistan.

Das Petersberger Abkommen war nicht nur eine Roadmap für den institutionellen Wiederaufbau Afghanistans, sondern beeinflusste auch ein ressortübergreifendes Afghanistan-Konzept der Bundesregierung. Bereits 2004 bestätigte die Bundesregierung, dass ein fortgesetztes internationales Engagement notwendig sein werde, um Afghanistan in die Lage zu versetzen, wirtschaftlich auf eigenen Füßen zu stehen. Ähnliche Einschätzungen wurden auch für das militärische Engagement getroffen. Denn wichtige Ziele in den Wiederaufbau- und Sicherheitsprogrammen der internationalen Akteure wurden nicht erreicht. Einer der Gründe: Viele der zur Anwendung gekommenen Konzepte waren vom Ansatz her „unafghanisch“ bzw. nahmen zu wenig Rücksicht auf die vorhandenen traditionellen Strukturen. „Offensichtlich übersteigen die Aufgaben des Wiederaufbaus nach westlichen Konzepten – soweit vorhanden – die logistischen, personellen und finanziellen Möglichkeiten vieler der involvierten Akteure“, lautete 2011 das Resümee des Nahostexperten Prof. Dr. Andreas Dittmann über den Wiederaufbau der Verteidigungs- und Sicherheitskräfte. Wesentlich erfolgreicher hingegen sei der Wiederaufbau und Neuaufbau akademischer Strukturen in Afghanistan – so Dittmann. Den Erfolg der Aktivitäten im Hochschulbereich führt der Präsident der 2002 gegründeten Deutsch-Afghanischen Universitätsgesellschaft (DAUG) darauf zurück, dass das Engagement Deutschlands und seiner westeuropäischen Partner wie Großbritannien, Frankreich und Italien auf nachhaltige, breit angelegte, langjährige und auf solide Grundausbildung basierende Programme des Capacity Building vor Ort ausgerichtet sei.

Alle wollen an den Erfolgen der letzten Jahre unbedingt festhalten

Man könne noch gar nicht genau abschätzen, ob der Einsatz in Afghanistan in den vergangenen 20 Jahren völlig umsonst gewesen sei, erklärte Ende August 2021 Dr. Almut Wieland-Karimi im Deutschlandfunk. Die Direktorin des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) verweist auf die Fortschritte: Millionen von Kindern gingen wieder zur Schule. Die Gesundheitsversorgung und der Zugang dazu seien enorm gewachsen. Es gab ein Parlament, Ausschüsse und einen Ansatz von Gewaltenteilung. Ob das jetzt alles kaputt sei mit dem Einmarsch der Taliban in ganz Afghanistan, sei noch nicht klar. Auch die Taliban hätten ein Interesse daran, einen funktionierenden Staat aufzubauen beziehungsweise weiterzuführen. „Wenn sie Anerkennung haben wollen, müssen sie auch dafür sorgen, dass die Grundbedürfnisse der Menschen gedeckt werden.“ Eine erste Lehre könnte sein, Ziele bescheidener zu definieren – und das unbedingt gemeinsam mit den Zielländern und den Partnern vor Ort – so die Islamwissenschaftlerin und Friedensforscherin.

Die erzielten Erfolge der letzten Jahre betonte auch Bundesentwicklungsminister Gerd Müller anlässlich der virtuellen Geberkonferenz für Afghanistan im November 2020: „Gemeinsam haben wir in Afghanistan in den vergangenen zwei Jahrzehnten Fortschritte gemacht: Die Lebenserwartung ist seit 2002 um zwanzig Jahre gestiegen, das Pro-Kopf-Einkommen hat sich vervierfacht und die Zahl der Schulkinder hat sich verneunfacht. Dank der deutschen Unterstützung wurden über eine Million Menschen mit Strom versorgt. Außerdem haben wir gemeinsam mit den afghanischen Partnern ein starkes Berufsbildungssystem aufgebaut. Allein seit 2015 wurden so 285 000 Menschen beruflich weitergebildet. Auf diesen Erfolgen wollen wir aufbauen.“ Die Bundesregierung hatte für 2021 eine Unterstützung in Höhe von bis zu 430 Millionen Euro für Afghanistan in Aussicht gestellt, 250 Millionen Euro davon sollte das Entwicklungsministerium erhalten.

Mit dem neuen Taliban-Regime steht alles wieder auf Anfang

Trotz aller bescheidenen Hoffnungen, dass alles doch nicht so schlimm werden würde: Die ersten Auftritte und Reden des von den Taliban neu installierten Ministers für Hochschulwesen Abdul Baqi Haqqani lassen einen Rückfall in alte Zeiten befürchten: So gab der Minister am 29. August – sprich zwei Wochen nach Einnahme von Afghanistans Hauptstadt Kabul – bekannt, dass die Koedukation an den Universitäten aufgehoben sei. „Auch dürfen Dozenten nicht mehr Studentinnen unterrichten“, berichtet Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network in seinem Blog Afghanistan Zhaghdablai.

Haqqani, der bereits während der ersten Herrschaft der Taliban unter anderem als Vizeminister für Information und Kultur agierte, verkündete diese Maßnahmen im Rahmen einer Konferenz, an der nur Männer teilnehmen durften. Weitere seiner Ankündigungen: Männer und Frauen dürften zwar weiterhin die Universität besuchen, aber in getrennten Klassen. Das gesamte Bildungswesen werde sich am Scharia-Recht orientieren und alles, was bisher islamischen Prinzipien widersprochen habe, reformiert und die „moralische Korruption von den Campussen eliminiert“ – fasst Ruttig zentrale Aussagen Haqqanis zusammen. Zudem warf Haqqani in seiner Ansprache einigen Ländern vor, dass sie nicht wollten, dass Afghanistan sich entwickle und deshalb Akademiker aus dem Land brächten. Sie sollten im Land bleiben. Zudem sollten die privaten Universitäten ihre „Programme standardisieren“. Indes sei ausländische Unterstützung für Afghanistans Universitäten „willkommen“.

Eine afghanische Hochschuldozentin berichtete laut Österreichischem Rundfunk, dass das Taliban-Bildungsministerium lediglich mit männlichen Dozenten und Studenten über die Wiederaufnahme des Lehrbetriebs beraten habe. Das zeige – so die lieber anonym bleibende Dozentin –, dass Frauen unter den Islamisten von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen würden. Und es erinnert sehr stark an die vorangegangene Regierung der Taliban, die fünf Jahre lang alle Frauen vom öffentlichen Leben und der Bildung radikal ausschlossen. Zurzeit steht das gesamte afghanische Hochschulwesen still. Alle Hochschulen wurden in den letzten Wochen geschlossen, Studierende wurden aufgefordert, zu Hause zu bleiben.

Deutsche Wissenschaftsorganisationen versuchen zu Retten, was zu retten ist

Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) unterstützt zurzeit seine Stipendiaten, Hochschul- und Projekt-Partner sowie deren Familien dabei nach Möglichkeit, schnell und sicher auszureisen. Über das Hilde Domin-Programm des DAAD und die Philipp-Schwartz-Initiative der Humboldt-Stiftung sollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schnell und unbürokratisch die Möglichkeit erhalten, in Deutschland Schutz zu finden und ihre akademische Laufbahn fortzusetzen. „Wir dürfen nach 20 Jahren Aufbauarbeit in Afghanistan das Land und seine Menschen nicht aufgeben“, erklärte vor kurzem DAAD-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee. So ist der DAAD gerade dabei, zeitnah Programme und Maßnahmen für Studierende und Forschende aus Afghanistan aufzusetzen. Dies sind konkret: Förderung von Studierenden und Forschenden in den Nachbarländern Afghanistans, Förderung besonders bedrohter afghanischer Studierender und Forschender in Deutschland, „Leadership“-Programme zur Vorbereitung auf eine Post-Taliban-Zeit und der Ausbau bewährter Programme zur Integration von Flüchtlingen an deutschen Hochschulen.

Neben den großen Wissenschaftsorganisationen gibt es zudem Vorstöße einzelner Hochschulen, die seit vielen Jahren in Afghanistan tätig sind. Ein Beispiel ist die Willy Brandt School of Public Policy an der Universität Erfurt, die seit 2006 afghanische Studierende ausbildet. Im Rahmen des Master of Public Policy-Programms erhalten die Studierenden „das politische Handwerkszeug und die Expertise, um beim Aufbau ihres Landes mitzuhelfen“. Laut Angaben der Erfurter gibt es mittlerweile an die 50 Alumni, die „im Dienste der Regierung, als Politiker*innen, Wissenschaftler*innen oder als Mitarbeiter*innen von Nichtregierungsorganisationen tätig sind“. „Tief bestürzt ob der Ereignisse in Afghanistan“ gab das Direktorium bereits am 17. August eine Stellungnahme zur aktuellen Lage und dem Regimewechsel in Afghanistan heraus und fordert unter anderem das Auswärtige Amt dazu auf, „umfassende Unterstützung zu leisten, bevor die neue Regierung in Kabul Fakten schafft“. So stoßen die Erfurter ein „Policy Experts at Risk“ (PExaR) Programm an, das Wissenschaftlern, Politikern und Mitarbeitern von deutschen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen eine temporäre institutionelle Anbindung gibt. „Dies erlaubt ihre für Afghanistan wichtige Expertise weiter verfügbar zu halten, ihnen eine Plattform für ihre Arbeit zu geben und ihnen eine kurzfristige professionelle Perspektive in Deutschland zu eröffnen“ – so die Begründung. „Im Falle Afghanistans wird es mithin darum gehen, den Universitäten des Landes eine Zukunftsperspektive zu eröffnen, die das Taliban-Regime überdauert. Wir fordern daher die deutschen Universitäten auf, ausländischen Partner*innen als ‚Universities in Exile’ eine Plattform zu bieten, um auch aus dem Exil Bildungsangebote zu entwickeln, und Forschung zu betreiben.“ //

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