„Campus als Reallabor“
Strahlkraft für Nachhaltigkeit und Klimaschutz aus der Hochschule, bessere Arbeitsbedingungen und Begehrlichkeiten Richtung Bundesministerium: Kai Gehring über die Wahlziele der Grünen
Ein Top-Wahlkampfthema erreichte alle Parteien vor der Sommerpause: Unter #IchBinHanna protestieren hunderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gegen die wiederkehrende Befristung ihrer Arbeitsverträge. Wie wollen die Grünen dem begegnen?
Ich bin sehr froh, wie deutlich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als zivilgesellschaftliche Gruppe ihre Lage adressieren, das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sitzt die Misere seit Jahren aus. Als Grüne machen wir darauf seit Langem aufmerksam und bieten Lösungsvorschläge.
Eine Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) ist in Arbeit ...
... ja, und zwar so spät, dass sie erst nach den Koalitionsverhandlungen vorliegen wird.
Was fordern Sie: das Gesetz reformieren oder abschaffen?
Reformieren, und zwar gründlich. Dazu, was es für sichere Arbeitsbedingungen und planbare Berufswege braucht, haben wir einen ganzen Katalog von Forderungen aufgestellt. Unter anderem gehören dazu Dauerstellen für Daueraufgaben, frühzeitig nach der Promotion unbefristete Berufswege neben der Professur, ein Ausbau des Tenure-Track-Programms sowie eine Besserstellung der Lehre, also der Lehrenden.
Soll es so etwas wie einen Lecturer geben?
In die Richtung könnte es gehen; jedenfalls müssen wir weg von dem unsicheren und schlecht bezahlten Lehrauftragsmodell. Wichtig ist uns auch eine Verbesserung der familienpolitischen Komponente. Dort, wo es Grund zur Befristung gibt, müssen die Verträge verlängert werden, um Familien- wie Carearbeit zu leisten. Was die Förderung von Frauen angeht, wollen wir die Zielvorgaben zur Geschlechtergerechtigkeit verbindlicher ausgestalten und zum Beispiel das Kaskadenmodell – laut dem der Anteil von Frauen auf einer Karrierestufe in Relation zu jenem auf der vorherigen Karrierestufe steht – verbindlich machen.
Die Grünen fordern insgesamt mehr Diversität in der Wissenschaft. Wie soll diese erreicht werden?
Das Ziel ist eine inklusive Hochschule, die von Grund auf fragt, wer mit zusätzlichen Hürden zu kämpfen hat und wie diese abgebaut werden können. Zu den Maßnahmen, die es braucht, gehören barrierefreie Bauten ebenso wie Anlaufstellen im Falle von Rassismus und Diskriminierungen und Anreize für eine diverse Besetzung von Auswahlkommissionen. Wir sind überzeugt: Eine geschlechtergerechte, plurale, internationale Wissenschaft ist in vielerlei Hinsicht die bessere Wissenschaft.
Woher sollen, insbesondere mit Blick auf die erhebliche Corona-bedingte Schuldenaufnahme, die zusätzlichen Gelder für all das kommen?
Tatsächlich bedarf es dringend einer verlässlicheren Grundfinanzierung, ebenso einer längeren Laufzeit öffentlicher Drittmittel, einer stärkeren Berücksichtigung der oft unzureichend abgedeckten Overhead-Kosten. Aus unserer Sicht wäre es bizarr, an Bildung und Wissenschaft zu sparen, um aufgenommene Schulden zu refinanzieren: Es braucht nicht weniger, sondern mehr Geld, um mehr Chancengleichheit für die jungen Generationen zu erreichen. Deswegen wollen wir der Schuldenbremse eine Regelung hinzufügen, die greift, wo Investitionen unabdingbar sind; an Hochschulen etwa waren Investitionsmängel schon vor Corona ein großes Problem. Und eine weitere Herausforderung ist, Hochschulen und Forschungseinrichtungen zu klimagerechten Institutionen zu machen.
Was bedeutet das?
Viele Campusse sind wie kleine Städte, entsprechend ist auch ihr C02-Ausstoß. Unser Ziel ist, sie, unterstützt durch Förderprogramme des Bundes, zu Reallaboren des Wandels zu machen: von den Studieninhalten bis zum Hochschulbau. Eine klimagerechte Gebäudesanierung, etwa verknüpft mit einer „Solaroffensive Uni-Dächer“ oder der Abwärmenutzung von Rechenzentren, könnte einen grünen Akzent für Nachhaltigkeit und Klimaschutz setzen, der über den Campus hinaus Strahlkraft entfaltet.
Mit wem wollen Sie das umsetzen? Die Ähnlichkeit Ihres Wahlprogramms mit denen von der SPD und der Linken ist augenfällig.
Gewählt wird am 26. September, bis dahin ist das Rennen ja nun in jeder Hinsicht offen. Ansonsten gilt: Wir sind der festen Überzeugung, ein ausgeklügeltes Programm zu haben. Das würden wir gern als starke Grüne mit anderen gemeinsam umsetzen. Die SPD hat in den vergangenen Jahren von programmatischen Zielen, die unseren ähneln, zumindest wenig umgesetzt. Die GroKo-Jahre haben in vielerlei Hinsicht Stillstand bedeutet. Und sehr viele Menschen sehnen einen Wechsel an der Spitze des BMBF geradezu herbei. //
Kai Gehring
Kai Gehring, MdB (Bündnis 90/Die Grünen), Diplom-Sozialwissenschaftler, ist Sprecher für Forschung, Wissenschaft und Hochschule der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag.
Foto: Mirko Raatz
DUZ Magazin 09/2021 vom 17.09.2021