„Zerfaserte Dateninfrastruktur“
Die jüngste Hochwasserkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz traf die Bevölkerung völlig unvorbereitet, an die 200 Menschen verloren ihr Leben. Das hätte vermieden werden können, wie Katastrophenforscher Andreas M. Schäfer und seine Kollegen vom KIT in einer ersten Analyse der Ereignisse feststellen
Herr Dr. Schäfer, Sie erforschen die Risiken von Naturkatastrophen und entwickeln Lösungen für ein Risikomanagement. Was reizt Sie daran?
Mich faszinieren Naturgewalten. Ich will verstehen, wie die Umwelt um uns herum funktioniert und warum regelmäßig Katastrophen über uns hereinbrechen. Am CEDIM entwickeln wir neue Techniken und Instrumente, um natürliche und anthropogene Risiken erfassen, analysieren, kommunizieren und managen zu können. Hierzu nutzen wir Erkenntnisse anderer nationaler und internationaler wissenschaftlicher Institutionen und Einrichtungen des Katastrophenschutzes. Ein Beispiel dafür ist der von uns am KIT gegründete unabhängige Thinktank „risklayer“, der Katastrophen analysiert und Lösungen für das Risikomanagement im Katastrophenfall erarbeitet, dazu gehört auch die größte Katastrophenschadensdatenbank der Welt „CATDAT“.
Welchen Nutzen ziehen Sie daraus für Ihre Forschung?
Dadurch können wir aktuelle Katastrophen sehr gut mit ähnlichen Ereignissen in der Vergangenheit vergleichen. So erfahren wir, welche Auswirkungen die Katastrophen in den Regionen hatten und mit welchen wir womöglich bei aktuellen Katastrophen zu rechnen haben. Wie jetzt bei der Hochwasserkatastrophe im Juli an der Ahr, die wir mit historischen Hochwasserereignissen von 1804 und 1910 vergleichen konnten.
In Ihrem Bericht über die aktuellen Ereignisse in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz fordern Sie, auch historische Daten einzubeziehen, um Hochwassergefahren besser einschätzen zu können. Warum wurde das bisher nicht getan?
Warum diese Informationen fehlen, weiß ich nicht. Eine Vermutung ist, dass man nur die am Pegel entstehenden Abflusswerte ab 1947 nutzte, um daraus eine Statistik zu extrapolieren. Diese Extrapolation war aber völlig unzureichend. Denn die relevanten Ex-tremwerte haben sich vor 1947 ereignet und sind für Hochwasserkatastrophen wesentlich aussagekräftiger. Zudem helfen uns die Erkenntnisse aus den Hochwasserjahren 1804 und 1910 einzuschätzen, wo man zum Beispiel heute besser nicht mehr bauen sollte. Ich hoffe, dass daraus nach der aktuellen Hochwasserkatastrophe endlich die notwendigen Konsequenzen gezogen werden. Die historischen Erkenntnisse helfen uns auch bei Entscheidungen darüber, wie hoch eine Brücke gebaut werden sollte und wie massiv Pegelmessstellen gebaut sein müssen, damit sie von einem Hochwasser nicht hinweggeschwemmt werden. Notwendig sind zudem Frühwarnsysteme für Starkniederschlag. Denn eine wichtige Komponente der Hochwasserkatastrophe war die Tatsache, dass die Böden in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen gesättigt waren und kaum weiteres Wasser aufnehmen konnten. Ähnlich wie 1804 und 1910 hatte es bereits in den Monaten davor viel geregnet. Der erneut einsetzende Starkniederschlag führte so zu den Überschwemmungen. Wenn solche Erfahrungen vor Ort bekannt sind, könnte man sofort eine Warnung aussprechen oder entscheiden, ob evakuiert werden sollte, weil die Gefahr besteht, dass die Situation sehr extrem werden könnte. Es tut mir als Forscher weh zu wissen, dass solche Ereignisse historisch bekannt sind und die Bevölkerung trotzdem nicht darauf vorbereitet ist.
Sie entwickeln Technologien und Werkzeuge, die auch Einrichtungen des Katastrophenschutzes auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene sowie internationaler Ebene nutzen können. Warum ist das nützlich?
Im Katastrophenfall können wir in Deutschland nur auf eine extrem zerfaserte Dateninfrastruktur zugreifen. Dies gilt für Daten über Pegelstände und Abflüsse bei Hochwasser ebenso wie für Erdbebendaten oder Corona-Daten. Wenig effizient sind auch die Verfügbarkeit, Kommunikation und Transparenz dieser nicht selten lebensrettenden Daten. In einigen Bundesländern sind sie transparent und offen zugänglich, in anderen wiederum muss man umständlich nachfragen oder sie werden überhaupt nicht zur Verfügung gestellt. Eine einheitliche, transparente und verfügbare Dateninfrastruktur ist aber für ein wirksames Krisenmanagement dringend notwendig. Ähnlich wie wir unseren „RisklayerExplorer“ nutzen, um die Bevölkerung über Erdbeben oder die Corona-Pandemie zu informieren. So gibt es für Erdbeben bereits eine internationale transparente Dateninfrastruktur. Problemlos haben wir Zugang zu Daten aus den USA, weil dort vorgeschrieben ist, dass alle Datensätze, die öffentliche Einrichtungen erarbeiten, grundsätzlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müssen. Bei uns gibt es da noch viel Luft nach oben.
Gab es für die aktuelle Hochwasserkatastrophe an Rhein und Ahr also keine oder keine ausreichenden Frühwarnsysteme?
Die gibt es und sie werden weiter entwickelt. Nur wurden für die Berechnung des Hochwassers die viel zu niedrigen Höchstpegelstände (3,71 Meter) und Abflüsse (236 Kubikmeter pro Sekunde) der Nachkriegszeit verwendet und nicht die für Hochwasserkatastrophen relevanten Daten aus den Jahren 1910 und 1804. Wir konnten beobachten, dass das Ereignis von 2021 ein ähnliches Ausmaß hatte wie das Hochwasserereignis von 1910, mit Pegelständen bis zu sieben Metern und einer Abflussgeschwindigkeit von 400 bis 700 Kubikmeter pro Sekunde. Dass es in diesem Juli zu einer extremen Hochwasserlage kommen könnte, war schon relativ früh bekannt und wurde auch schon Tage vorher kommuniziert. Um die Katastrophe zu verhindern, hätte man wahrscheinlich andere Entscheidungen treffen sollen als die, die dann letzten Endes getroffen wurden.
Könnte man schlussfolgern, dass die Systeme zur Früherkennung grundsätzlich gut geeignet sind, es aber an den zuständigen Behörden und nicht funktionierenden Meldeketten in den Kommunen hapert?
Ja. Die Prognosen für die nahende Katastrophe wurden gestellt und kommuniziert. Auch die ungewöhnlich großen Regenmengen waren hinreichend gut prognostiziert. Zudem wurden großflächig Warnungen ausgegeben. Auch die Gefahr, dass sich über große Flächen gewaltige Wassermengen abregnen würden, war frühzeitig erkennbar und auch hierüber wurden Warnungen ausgesprochen. Warum bestimmte Meldeketten nicht funktionierten, kann ich nicht beurteilen. Ein wichtiger Faktor ist auf jeden Fall: Einfache Warnmechanismen, wie etwa Sirenenanlagen, wurden abgebaut, weil Kommunen Geld sparen wollten. Hilfreich wäre zudem eine unkomplizierte Warnung per SMS, wie etwa „In zehn Minuten kommt eine Flut durch das Dorf“. So etwas ist an den Pegelständen flussaufwärts abzulesen. Das funktioniert bei Erdbebenwarnungen sehr gut. Auch wenn nur zwei Minuten Zeit blieben, könnte man so viele Menschenleben retten. Wir benötigen zudem bundeseinheitliche Warnsysteme. Zwar gibt es Warn-Apps wie Katwarn oder Nina. Diese funktionieren aber nur teilweise in bestimmten Bundesländern. Die meisten Menschen aber sind mobil unterwegs und machen sich keine Gedanken darüber, welche App wo im Katastrophenfall informiert. Es wäre viel sinnvoller, mindestens ein bundeseinheitliches System zu haben, ähnlich wie die Corona-Warn-App. Das müsste auf europäischer Ebene ebenfalls möglich sein. Dazu könnte man bereits existierende Systeme bundes- und europaweit ausrollen. Ich würde mich freuen, wenn so etwas nicht an der Politik scheitern würde.
Welche Erkenntnisse zur jüngsten Hochwasserkatastrophe haben Sie besonders überrascht?
Vor allen die Komplexität der verschiedenen Arten von Hochwassern, die sich ereignet haben. Die Sturzflutereignisse in verschiedenen Tälern; die schweren Gewitter, die sich über Stadtzentren wie Hagen abgeregnet haben; die angespannten Situationen an verschiedenen Dämmen; die großflächigen Überflutungen einzelner Landstriche und die Extremfälle wie im Ahrtal. Überrascht haben mich auch der unzureichende Hochwasserschutz sowie die fehlende Information und Kommunikation über die sich anbahnenden Katastrophen. Erschreckend war auch, dass die Hochwasserpegel auf einmal weg waren und nichts mehr gemessen wurde, weil die Bauwerke mitgerissen wurden. Das sollte uns zu denken geben.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus Ihren Beobachtungen, was sollten Politik und Verwaltung unbedingt tun?
Wir brauchen eine zuverlässige Warninfrastruktur und ein größeres Verantwortungsbewusstsein bei den in Politik und Verwaltung für das Katastrophenmanagement Zuständigen. Denn auch die Warn- und Meldekette muss funktionieren. Zudem sollte der Hochwasserschutz auch baulich verbessert werden. Dazu zählt auch die Entscheidung, bestimmte Gebiete nicht mehr zu bebauen. Weder der Katastrophenschutz noch der Bevölkerungsschutz sollte Opfer kurzfristiger Finanzpolitik werden. Wir müssen die Zeiten, in denen nichts passiert, dafür nutzen, uns darauf vorzubereiten, dass etwas passieren kann – etwa durch regelmäßige Katastrophenschutzübungen für alle. Die Bevölkerung sollte wissen, was zu tun ist, wenn es zu einer Katastrophe kommt. //
Die Studie
Hochwasser Mitteleuropa, Juli 2021 (Deutschland). Bericht Nr. 1 „Nordrhein-Westfalen & Rheinland-Pfalz“. CEDIM Forensic Disaster Analysis (FDA) Group. KIT, 2021: www.cedim.kit.edu/download/FDA_HochwasserJuli2021_Bericht1.pdf
Andreas M. Schäfer
Der Geophysiker Dr. Andreas M. Schäfer ist Technischer Leiter des CEDIM – Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Dort forscht er über Naturgefahren und Risiken unter anderem von Tsunami, Erdbeben und Hurricanes. Er ist Mitgründer des am KIT entstandenen unabhängigen Think-tanks „risklayer“, der maßgeschneiderte Lösungen für das Risikomanagement im Katastrophenfall erarbeitet.
Foto: privat
DUZ Magazin 08/2021 vom 20.08.2021