Zu devot
Finanziell war die deutsche Forschung noch nie so gut ausgestattet wie heute. Doch was folgt auf den Corona-Kassensturz nach der Bundestagswahl?
Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen – ein Zusammenschluss aller Forschungseinrichtungen, der Hochschulrektorenkonferenz bis hin zu den Vermittlern auswärtiger Kulturpolitik wie Deutscher Akademischer Auslandsdienst und Humboldt-Stiftung – hat ein Papier zur Zukunft der Wissenschafts- und Innovationspolitik für die Regierungsperiode 2022 bis 2025 vorgelegt. Gut so! Es enthält wohlüberlegte, unbestreitbar richtige Worte. Deutlich wird aber, dass jeder Satz, jede einzelne Formulierung nicht nur sorgsam geprüft und immer wieder hin und her gewogen wurde, sondern auch abgeschwächt. Viele Akteure waren vermutlich am Werk. Zu viele! Und sie haben sich, so scheint es, gegenseitig gebremst.
Die Sorge, die manche Wissenschaftsfunktionäre wegen der Haushaltspolitik nach der Bundestagswahl umtreibt, ist berechtigt: Einige der künftigen möglichen Regierungsparteien haben in ihren Programmen Steuererhöhungen von vornherein strikt ausgeschlossen, zudem noch Steuererleichterungen in Aussicht gestellt. Auf die elf Milliarden Resteinnahmen aus dem Solidarzuschlag soll verzichtet, an der „Schwarzen Null“ im Bundeshaushalt aber unbedingt festgehalten werden. Zugleich sollen viele neue Milliarden in Klimaschutz, Wärmeisolierung, Verkehr, Infrastruktur investiert werden.
Doch neue Milliarden fallen nicht vom Himmel. Der angekündigte Corona-Kassensturz wird auf jeden Fall kommen – gleich welche Parteien die neue Regierung stellen werden. Neue, harte Verteilungskämpfe um die Zuwendungsanteile im Bundeshaushalt sind unausweichlich – mit Folgen auch für die Länderetats. Darauf sollten sich Forschung wie Hochschulen einstellen. Alles andere wäre naiv.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sieht das ähnlich. In klaren, unmissverständlichen Worten fordert er für die Zeit nach Corona mehr private und öffentliche Investitionen in zukunftsgewandte Projekte – aber bitte von der neuen Bundesregierung doch keine Politik, die sich allzu sehr um „Haushaltsdisziplin“ bemüht. Völlig fatal wäre es aus seiner Sicht, wichtige Zukunftsinvestitionen an einer schwarzen Null im Bundeshaushalt scheitern zu lassen. Von Devotheit findet sich in dem 56-seitigen BDI-Papier keine Spur.
Warum dagegen diese übertriebene Zurückhaltung in Sachen Zukunftsinvestitionen seitens der Wissenschaft und dieser verzagte Blick ihrer Spitzenfunktionäre? Das deutsche Wissenschaftssystem hat doch nach dem eindrucksvollen Erfolg seiner Gesundheitsforschung bei der Bewältigung der Pandemie wahrlich keinen Grund, in Sack und Asche zu gehen. Unbestritten gibt es Schwachstellen und Verbesserungsbedarf in der Forschung – was die Allianz nicht dementiert. Was also soll dieser reflexartige Rückgriff in die Mottenkiste alter Forderungskataloge nach noch mehr Autonomie und Bürokratieabbau? Als ob die deutsche Wissenschaft nicht frei und finanziell wohlfeil ausgestattet wäre! Hat das jüngste Millionen-Desaster um die zweckentfremdeten Steuermittel aus dem Hochschulpakt nicht eindrücklich belegt, dass es ungeachtet der sogenannten Wissenschaftsfreiheitsgesetze ohne Staatsaufsicht und Kontrolle durch den Bundesrechnungshof einfach nicht geht? Auch Wissenschaftler sind nur Menschen.
Man muss nicht gleich den legendären Satz von Karl Marx bemühen, dass sich Geschichte immer zweimal wiederholt: das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Der letzte große politische Kassensturz, den Wissenschaft und Bildung erleiden mussten, liegt knapp vier Jahrzehnte zurück. Gleich bei Amtsantritt empfing der damalige neue Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber (CDU) die Spitzen der deutschen Forschung mit der provokanten Frage: „Ist der Vogel im goldenen Käfig zu fett geworden?“ Es folgte ein bislang beispielsloser Ausgaben-Kahlschlag bei Forschung und Bildung in den Jahren danach. Devot ertrug es die Szene. Dies sollte sich nicht wiederholen. //