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Wer wagt den großen Sprung?

Wissenschaftsnationen stecken Milliarden in die Forschung – auch Deutschland. Doch oft wollen sie wissen, was sie dafür bekommen. Risikoforschung wird kaum finanziert. Die Volkswagen-Stiftung will das ändern.

Hätte es damals nicht geklappt mit dem Forschungsstipendium, gäbe es heute den Boom um die Tablet-Computer und Smartphones wohl nicht: Sie alle brauchen den berührungsempfindlichen Bildschirm – und die Grundlagen dazu legte eine Forschergruppe in den USA, die mit viel Fördergeld bei ihrem wagemutigen Projekt unterstützt worden ist. „Das ist eine typische Geschichte“, sagt Dr. Bernd Beckert vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe: „Bei vielen Forschungsprojekten ist am Anfang noch überhaupt nicht absehbar, was genau dabei herauskommen wird.“

Die Forschungsförderung steht bei solchen Vorhaben mit unklarem Ausgang vor einem gewaltigen Dilemma: Soll sie Wissenschaftler unterstützen, die gute Ideen haben, aber komplettes Neuland betreten? Soll sie Geld investieren in Arbeit, die vielleicht ganz ohne Ergebnis bleibt, im Erfolgsfall aber einen ungeahnten Durchbruch bedeuten würde? Gerade bei staatlichen Institutionen ist die Hemmschwelle hoch. Schließlich setzen sie das Geld des Steuerzahlers ein – und das nicht zu knapp. Die Bundesregierung hat in den Jahren zwischen 2005 und 2012 die Mittel für Forschung und Innovation von neun auf knapp 14 Milliarden Euro erhöht.

Wie schwer man sich mit dem Thema in Deutschland tut, zeigen allein schon die Begriffe: „Offene Forschung“ nennen manche Experten das Gebiet, andere reden verklausulierend von „Forschung jenseits des fachlichen Mainstreams“. Im englischsprachigen Raum, konstatiert Innovationsforscher Beckert vom Fraunhofer-Institut, habe man eine andere Formel gefunden: „Da spricht man von ‚high risk research’ – wobei das Risiko in dem Zusammenhang positiver besetzt ist als in Deutschland. Es wird automatisch mit ‚high gain’ assoziiert, also einem potenziell hohen Gewinn.“
Die amerikanische National Science Foundation (NSF) rühmt sich damit, in ihrer Geschichte 180 spätere Nobelpreisträger unterstützt zu haben – auf eine so hohe Quote kommt kein anderer Forschungsförderer. Mut zum Risiko, so scheint es, kann sich bei der Auswahl der Stipendiaten auszahlen: Oft sind es gerade die abseitigen Ideen, die am Anfang eines echten Durchbruchs stehen.

Die Volkswagen-Stiftung will die Debatte um diese risikoreiche Förderung nun beleben. „Wir überprüfen jetzt, im 50. Jahr unseres Bestehens, die Förderprogramme besonders sorgfältig auf ihre Zukunftsfähigkeit“, kündigt Generalsekretär Dr. Wilhelm Krull an. Im Herbst wird das Kuratorium in einer zweitägigen Klausur über die künftige Ausrichtung der Stiftung beraten – über die, so der interne Arbeitstitel, „Perspektiven 2022“. Ein Kern der bevorstehenden Änderungen ist das bereits beschlossene Programm Freigeist. Es markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Stiftung: Unterstützt werden Forscher, die ihren Themen abseits der ausgetretenen Pfade nachspüren. Die erste Bewerbungsphase hat gerade begonnen und läuft bis zum Juni 2013.

Dass ein privater Forschungsförderer so stark auf die Risikoforschung setzt, ist in Deutschland ein Novum. Man wolle damit ein starkes Zeichen setzen, sagt Krull mit Blick auf die Förderkultur: „Die Strukturen werden immer risikoaverser. Wir möchten den Forschern Zeit geben, frei von der Nutzen- oder Anwendungsfrage einfach mal zu experimentieren.“ Dass die Arbeit in manchen Fällen möglicherweise zu keinem konkreten Ergebnis führt, gehöre von vornherein mit ins Kalkül: „Wir nehmen das Scheitern von Projekten in Kauf!“

Risiko auch für die Forscher

Bei der offenen Forschung müssen im deutschen Wissenschaftssystem üblicherweise zwei Seiten das Risiko tragen: Die Geldgeber, die eine möglicherweise ergebnislose Forschung unterstützen – und die Wissenschaftler, die beim Schritt auf unsicheres Terrain womöglich ihre Karrierechancen aufs Spiel setzen. „Das ist für alle Seiten ein Dilemma“, sagt Dr. Petra Schaper-Rinkel vom Austrian Institute of Technology: „Die Forschung soll immer besser messbar werden, man zählt Veröffentlichungen, Patente und Konferenzbeiträge. Wer sich aber einer neuen Idee widmet und dabei nicht zu den erhofften Ergebnissen kommt, schafft es damit auch nicht zu Publikationen.“ Die Folge kann gerade für Nachwuchsforscher gravierend sein: Ohne Publikationen keine Verstetigung des Beschäftigungsverhältnisses und oft keine Professur. Viele Forscher bleiben deshalb lieber im Kernbereich ihrer Disziplin. „Dabei sind gerade transdisziplinäre Arbeiten mit ungewissem Ausgang oft der Weg zu radikalen Innovationen“, sagt Schaper-Rinkel.

Das Problem ist inzwischen weithin bekannt. So warnt eine Expertengruppe der Bundesregierung in ihrem aktuellen „Gutachten zu Forschung, Innovation und technischer Leistungsfähigkeit“ vor einer zu starken Drittmittelorientierung: „Damit haben die Forscher den Anreiz, ihre Forschung inhaltlich nach den Fördermöglichkeiten auszurichten. Forschungsprogramme, die eine vergleichsweise geringe Chance auf eine Drittmittelförderung haben, werden dann möglicherweise nicht mehr verfolgt“, heißt es darin. Und: „Dies birgt die Gefahr, dass unkonventionelle Ideen auf der Strecke bleiben und die Hochschulforschung an Breite und Vielfalt verliert.“ Zudem gibt es eine internationale Dimension dieses Problems. „Forschung findet immer stärker in internationalen Konsortien statt. Das treibt die Organisationen zu einer Vereinheitlichung der Kriterien. Damit wächst die Gefahr, dass riskante Forschung unter den Tisch fällt“, sagt Schaper-Rinkel.

Wie groß die Risikobereitschaft der Forschungsförderer ist, zeigen Zahlen. Eine Übersicht findet sich in einer Studie für die EU-Kommission (FET Open: Boosting the exploratory power of open research in Future and Emerging Technologies). Die Innovationsforscher Beckert und Schaper-Rinkel haben federführend daran mitgearbeitet: Etwa zehn Prozent ihres Budgets will die National Science Foundation (NSF) in den USA für unkonventionelle Forschung reservieren. Bei der französischen Agence nationale de le recherche (ANR) sind es zwischen 25 und 35 Prozent. In Deutschland gibt es bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) die Koselleck-Programme – in sie fließen weniger als ein Prozent der gesamten DFG-Mittel. Am anderen Ende der Skala stehen Institutionen in den USA, die aus dem Militärbudget gespeist werden und zu 100 Prozent Hochrisiko-Projekte unterstützen.

„Eine große Herausforderung für die Forschungsförderung ist es, Auswahlkriterien zu finden, mit denen unkonventionelle und vielversprechende Projekte gefördert werden, die aber gleichzeitig nicht so abgehoben sind, dass sie sich in der wissenschaftlichen Community nicht mehr rechtfertigen lassen“, sagt Bernd Beckert. Bisweilen starten die Forscher mit den innovativsten Ideen von einer Außenseiterposition und haben deshalb erst wenig Reputation in der Scientific Community. Wie also lassen sich diese Leute finden?
In der Praxis hängt viel von den Gutachtern ab, die sich mit den Anträgen der Wissenschaftler beschäftigen: Üblicherweise sind sie Koryphäen in ihrem Fach – aber für interdisziplinäre Themen fehlt ihnen bisweilen der richtige Bewertungsmaßstab. Dadurch können bahnbrechende Ideen schlicht übersehen oder falsch eingeschätzt werden.

Zielgruppe sind Nachwuchskräfte

Die Volkswagen-Stiftung hat sich darüber bei ihren neuen Freigeist-Fellowships viele Gedanken gemacht. Zielgruppe sind nicht etwa die arrivierten Wissenschaftler, sondern explizit Nachwuchskräfte. Innerhalb von fünf Jahren nach der Promotion, so ist die Faustregel, sollten sich die Interessenten bewerben. Dass die inhaltliche Offenheit des Programms so groß ist, bedeute keinesfalls eine Abkehr von den strengen Auswahlkriterien, sagt Dr. Henrike Hartmann, die bei der Volkswagen-Stiftung die Personenförderung leitet: „Am Anfang steht eine harte Begutachtung. Eine erfolgreiche bisherige akademische Karriere ist daher essenziell für eine Förderung.“

Damit in der Begutachtungsphase nicht gleich wieder die besonders innovativen, aber eben unkonventionellen Bewerber ausgeschlossen werden, baut die VolkswagenStiftung auf ein neues Format: Die Gutachter sollen auf die spezielle Zielrichtung des Freigeist-Programms ausgiebig vorbereitet werden – und die Diskussion innerhalb der Jury wird aufwendig moderiert. „Wir wollen schließlich keine Vorschläge totdiskutieren“, sagt Hartmann.
Die Freigeist-Fellowships ersetzen zwei bestehende Programme aus den Rechts- und Geisteswissenschaften, die Schumpeter- und die Dilthey-Fellowships. „Das neue Programm wird interdisziplinären Forschungsprojekten besser gerecht“, sagt Henrike Hartmann: „Wenn es zum Beispiel um das große Feld der digital humanities geht, in denen mit großen Datenmengen gearbeitet wird – fällt das noch in den Bereich der Geisteswissenschaften oder ist es schon Informatik? Solche Unterscheidungen müssen wir mit der neuen Struktur künftig nicht mehr treffen.“

Ein Alleinstellungsmerkmal des Freigeist-Programms ist die Dauer der Förderung: Auf fünf Jahre ist die erste Periode festgelegt, anschließend ist eine Verlängerung um weitere drei Jahre möglich. So viel Zeit bekommen Forscher selten, wenn sie an risikoreichen Themen arbeiten. Zehn bis 15 Fellows pro Jahr will die Volkswagen-Stiftung auswählen – in einer möglichst breiten fachlichen Verteilung, aber ohne einen vorgeschriebenen Proporz. Für die erste Phase stehen jeweils bis zu einer Million Euro zur Verfügung, in der zweiten Phase werden bis zu 400.000 Euro ausgeschüttet. „Die Freigeist-Fellowships“, sagt Henrike Hartmann, „werden auf einen Schlag zum größten Programm in der Personenförderung der Volkswagen-Stiftung.“

Die Einrichtung muss sich engagieren

Die geförderten Kandidaten können ihre Projekte an einer Universität oder in einem Forschungsinstitut umsetzen. Dass sie dort ins Abseits geraten, weil ihr Thema nicht in der Mitte der Fachdiszplin liegt, will die Volkswagen-Stiftung mit einem speziellen Procedere verhindern. Eine besondere Rolle spielt dabei die Verlängerung des Stipendiums. Die sei kein Automatismus, betont Hartmann: „Wir führen eine gründliche Evaluation durch – und wichtig ist dabei auch, dass ein Fellow mit seinem Institut eine Perspektive aufzeigt, wie es nach der Förderung weitergeht.“ Das Geld fließt also nur, wenn die Einrichtung auch eigenes Engagement zeigt und nicht nur kurzfristig von den hochdotierten Wissenschaftlern profitieren will. Ergänzt wird diese Klausel durch ein exklusives Seminarprogramm für die Stipendiaten, das sie auf eine Führungsaufgabe in der Wissenschaft vorbereitet. Diese Zusatzkenntnisse außerhalb des rein fachlichen Beritts sollen die Kandidaten für die Forschungsinstitute nochmal interessanter machen.

Das Freigeist-Programm ist so konzipiert, dass die Forscher innerhalb des geförderten Zeitraums ausreichend Spielraum behalten – anders wäre eine Arbeit, die stark auf Unvorhergesehenem beruht, kaum möglich. Dieser Freiraum betrifft nicht nur die inhaltliche Arbeit, sondern auch die finanzielle Unterstützung. „Wer etwa nach zwei Jahren feststellt, dass er einen Doktoranden braucht, kann das Geld dafür zusätzlich beantragen“, sagt Henrike Hartmann von der Volkswagen-Stiftung. „Oder wenn ein Fellow eine Kollegin in San Diego gefunden hat, mit der eine enge Zusammenarbeit sinnvoll ist, können wir die Kooperation bezuschussen.“

Risikogeld für etablierte Forscher

Mit ihrem Freigeist-Programm setzt die Volkswagen-Stiftung auch auf die Außenwirkung. Sie will das Thema Risikoforschung stärker ins Gespräch bringen und ist dazu in einer guten Position: Mit einem Etat von rund 100 Millionen Euro ist sie einer der größten privaten Wissenschaftsförderer in Europa. Im Vergleich zu den Milliarden, die von der EU und den Nationalstaaten in die Forschung gesteckt werden, wirkt zwar auch diese Summe noch überschaubar – aber die Stiftung wird von Experten als einer der entscheidenden Spieler gesehen. Dank Kooperationen wie jener mit der renommierten Mellon Foundation in den USA reicht ihr Einfluss zudem weit über Europa hinaus.

Für junge Forscher könnte damit die Hoffnung auf Risikoförderung steigen. Für sie ist es besonders schwer, sie zu erhalten. „Wenn viel Geld für ein risikoreiches Projekt in die Hand genommen werden muss, bekommen es zumeist etablierte Forscher“, hat Petra Schaper-Rinkel beobachtet: „Wenn Nachwuchskräfte unterstützt werden, die naturgemäß noch nicht viele Referenzen haben, geht es meist um überschaubarere Summen.“

Einen anderen Weg gehen bislang nur die wenigsten Förderinstitutionen – dann aber oft mit verblüffenden Kriterien. Als Beispiel nennt Schaper-Rinkel ein Programm aus China, bei dem ein Teil des Budgets für die kontroversesten Projekte reserviert ist. „Wenn ein Antrag sowohl herausragende als auch vernichtende Kritik von den verschiedenen Gutachtern bekommen hat, kommt er für diesen Topf in Frage“, sagt sie. Der Hintergedanke ist bestechend einfach: Offenbar ist etwas dran an der Idee, wenn sie so gelobt wird – und offenbar räumt sie radikal mit den bisherigen Verfahren auf, wenn sie auf so harsche Ablehnung stößt.

Das Stipendium auf einen Blick

Das Stipendium auf einen Blick

Mit dem Freigeist-Fellowship will die Volkswagen-Stiftung junge Wissenschaftler fördern, die neue Forschungsansätze verfolgen. Vor allem interdisziplinäre Grundlagenforschung jenseits des Mainstream soll so unterstützt werden – bewusst auch Projekte, die experimentell angelegt sind und bei denen anfangs noch nicht feststeht, ob sie konkrete Ergebnisse zeitigen. Die Fellowships sind jetzt zum ersten Mal ausgeschrieben worden. Das ehrgeizige Programm wird auf Anhieb zum größten Projekt in der Personenförderung der Volkswagen-Stiftung.

Pro Jahr sollen zehn bis 15 Post-Docs ausgewählt werden. Die Förderdauer liegt bei fünf Jahren plus Verlängerungsoption um drei Jahre. Die Wissenschaftler können in der ersten Phase bis zu einer Million Euro beantragen, in der Verlängerungszeit bis zu 400.000 Euro. Die Stipendien sollen an Forscher aus einem möglichst breiten fachlichen Spektrum gehen. Einen vorgeschriebenen Proporz zwischen den Disziplinen gibt es allerdings nicht.

Ziel der Volkswagen-Stiftung ist es, den ausgewählten Wissenschaftlern beim Start in die Karriere zu helfen. Ihre Stellen sollen deswegen noch während der zweiten Förderphase möglichst in einen festen Vertrag bei der Universität oder Forschungseinrichtung münden, an der sie mit ihrer Projektgruppe angesiedelt sind.

Weiteres unter: www.volkswagenstiftung.de/freigeist-fellowships

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