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Etwas mehr Praxis bitte

Bei der Reform der Ärzte-Ausbildung in Deutschland geht es um die Frage: mehr Kompetenzen für den Berufsalltag oder nur Theorie? Anfang Juni werden Experten auf dem Medizinischen Fakultätentag darüber streiten, ob ein spezieller Lernzielkatalog die Lehre moderner macht oder ob er ein Trojanisches Pferd ist.

Die Diskussion ist ihm sicher. Wenn Prof. Dr. Martin Fischer am 7. Juni auf dem Medizinischen Fakultätentag (MFT) berichtet, wie weit der Nationale Kompetenzorientierte Lernzielkatalog Medizin (NKLM) gediehen ist, werden sich Skeptiker und Kritiker zu Wort melden, kaum dass der Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik und Ausbildungsforschung an der Uni München das Podest verlassen hat.
Denn es gibt ein Problem, über das sich die Zunft der Mediziner streitet: die Reform der Ausbildung von Ärzten. Während die einen sagen, alles solle so bleiben, wie es ist, sagen die anderen, zum Beispiel Martin Fischer, der Praxisbezug in der Lehre müsse erhöht und vor allem geprüft werden.

Der Druck kommt von außen. Einerseits die internationale Angleichung der Hochschulausbildung durch den Bologna-Prozess, dem sich der MFT in Deutschland ähnlich wie die Juristen entgegenstellt. Zum anderen eine EU-Richtlinie zur Anerkennung von Berufsqualifikationen sowie Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Verbesserung von Studium und Lehre. Alle drei Aspekte laufen auf mehr Berufsorientierung in der Hochschulausbildung hinaus. Die Berliner Charité macht das vor. Im April eröffnete sie ein Lernzentrum, in dem 7000 Studenten mit Tutoren die ärztliche Anamnese an Simulationspatienten praktisch üben können. Für Dekanin Prof. Dr. Annette Grüters-Kieslich ist es ein Meilenstein „für die Ausbildung von Arztpersönlichkeiten“.
Für viele der rund 4000 Medizin-Professoren in Deutschland gilt Praxisnähe in der Ausbildung eher als Schimpfwort. Gleichwohl führten die Unis seit den 90er Jahren praxisnahe Medizin-Studiengänge ein. „Der Durchbruch zu einer flächendeckenden Lösung steht jedoch noch aus“, sagt Dr. Josef Hilbert, Direktor des Instituts Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule. In einer im April veröffentlichten Studie zeigt er, dass theoretisches Wissen dringend mit Anwendungserfordernissen in der Ausbildung verbunden werden muss (Hilbert im Interview: www.youtube.com/watch?v=sp5XnBvcmmQ). Doch in Deutschland sind praktische Lernziele – anders als in Österreich oder der Schweiz – nicht Pflicht-Teil der Prüfungen. Was an theoretischem Wissen in den Staatsexamina gefragt werden soll, regelt der sogenannte Gegenstandskatalog.

Was können die Studenten wirklich?

Der NKLM soll diesen Katalog um Praxisanteile erweitern. „Wir wissen bisher zwar, was unsere Studierenden wissen; das weisen sie in den Staatsexamina nach. Aber wir wissen nicht genau, was sie können und auf welche Kompetenzen die Weiterbildung aufbauen kann,“ sagt Fischer, der für die Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA) an der Erarbeitung des NKLM beteiligt ist. Es gehe um die Frage: „Was müssen wir ihnen beibringen, um sie zur Patientenversorgung zu befähigen?“ Das bedeute aber definitiv nicht, „mit dem NKLM die Voraussetzungen für Bachelor und Master zu schaffen“. Kritiker sehen in dem Katalog ein Trojanisches Pferd, mit dem der Bologna-Prozess doch noch in der Medizinerausbildung Einzug hält. Gut 250 Vertreter aus Fachverbänden und Politik beteiligen sich am NKLM. Das Spektrum der Protagonisten ist so komplex wie die Diskussion unter ihnen. Um angesichts der Meinungsvielfalt mit der Arbeit voranzukommen, wurde das strittigste aller Reformthemen, die neuen Abschlüsse, von Anfang an ausgeklammert.

Genügend Stoff für lange Debatten gibt es dennoch. Es geht um Grundsätzliches: um Theorie und Praxis. Prof. Dr. Josef Pfeilschifter, Dekan des Fachbereichs Medizin an der Uni Frankfurt, und für den MFT in der NKLM-Lenkungsgruppe, gehört zu den Kritikern. Er bezweifelt beispielsweise den Sinn von OP-Hygienevorschriften im NKLM. Solch praktisches Wissen könnten Ärzte schnell durch tägliche Routine erwerben. Aber: „Grundlegend ist doch zu wissen, welche Viren, Bakterien und Übertragungswege es gibt, und ferner wie ich Infektionen vermeide und sie notfalls therapiere – und zwar für alle Mediziner, auch wenn sie später nie im OP arbeiten.“

„Es ist falsch, Praxis und Theorie gegeneinander auszuspielen.“

Prof. Dr. Rolf-Detlef Treede findet es jedoch falsch, „Praxis und Theorie gegeneinander auszuspielen“. Er lehrt an der Medizinischen Fakultät der Unis Mannheim und Heidelberg und vertritt im NKLM-Prozess die Stimme der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Für sein Argument bringt er ein anderes Beispiel: die Muskeleigenreflexe. An ihnen werde deutlich, wie sich sowohl Wissen als auch praktische Fertigkeiten als Kompetenzen formulieren lassen. „Der Studierende soll die neurophysiologischen Grundlagen der Spinalmotorik kennen (motorische Zentren im Rückenmark, die Fortbewegung und aufrechte Körperhaltung steuern, Anm. d. Red.), er soll Reflexe auslösen können und die klinische Bedeutung der Befunde interpretieren können.“ So könnte es im NKLM stehen.

Für Treede liegt die Brisanz in der Frage, was man im Staatsexamen können muss. Um bei den Reflexen zu bleiben: „Wir geben den Studierenden in der Vorklinik Hinweise, wie Reflexe zu deuten sind. Aber erst nach der Weiterbildung in der Neurologie können Ärzte das in vollem Umfang.“ Diese Differenzierung zwischen Ausbildungszielen im Studium und in der Facharztausbildung nimmt der NKLM bisher nicht vor.

Der Schwanz wedelt mit dem Hund

Damit ist das nächste Minenfeld erreicht: der Abstimmungsprozess. Mit Unbehagen beobachten die Vertreter der medizinischen Fächer, wie Didaktiker den NKLM prägen, während sie selbst nicht ausreichend einbezogen werden. In den Arbeitsgruppen arbeiten Fachärzte mit, die sich freiwillig gemeldet haben, aber nicht offiziell von ihren Fachgesellschaften abgesandt wurden. Sie haben deshalb, anders als Vertreter vom MFT und von der GMA, kein Stimmrecht. Das bedeutet, dass diejenigen, die den NKLM verfassen, am Ende selbst darüber abstimmen. „Der Schwanz wedelt mit dem Hund“, kritisiert Treede.
Der Akzeptanz des Katalogs unter den Medizinern, die sich mit der Ausbildung ihrer jungen Kollegen beschäftigen, wird das nicht gut tun. Im schlimmsten Fall wird es den Katalog nicht geben. Im besten Fall ist er nur ein Ergebnis einer langwierigen Diskussion. Der Münchener Didaktik-Professor Martin Fischer hofft, dass der NKLM eines Tages nicht bei Dekanen und Studiendekanen im Regal verstaubt, sondern von den Fakultäten in ihre tägliche Lehrpraxis aufgenommen wird. Dass das gelingt, halten viele für unrealistisch.

Die Diskussion im Überblick

Die Diskussion im Überblick

Für die einen ist es nur ein neuer Lernziel-Katalog, für die anderen Teufelswerk. Fakten zur geplanten Reform des Medizinstudiums.

  • Anlass: Der Bologna-Prozess, die EU-Richtlinie zur Anerkennung von Berufsqualifikationen sowie die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Verbesserung der Lehre zwingen die Medizinischen Fakultäten zu mehr Praxisnähe und problemorientierten Lehr- und Lernmethoden.
  • Ziel: Der Nationale Lernzielkatalog Medizin (NKLM) soll Standards für die Ausbildung der Mediziner hinsichtlich professioneller Fähigkeiten und Fertigkeiten, Wissen sowie soziale und persönliche Haltungen gegenüber den Patienten festlegen.
  • Inhalt: Der NKLM übersetzt die theoretischen Prüfungsinhalte, die die Gegenstandskataloge für die Staatsexamina vorgeben, in praktische Kompetenzen, etwa:  wissenschaftliche Grundlagen, Symptome, Beratungsanlässe.
  • Prozess: Die Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA) und der Medizinische Fakultätentag (MFT) bilden eine Lenkungsgruppe, die sich mit den in Arbeitsgruppen organisierten Vertretern der medizinischen Fachgesellschaften, Ministerien und Wissenschaftsorganisationen abstimmt.
  • Meilensteine: GMA und MFT arbeiten seit Frühjahr 2009 am NKLM. Zur GMA-Jahrestagung im Oktober 2011 lag ein Zwischenbericht vor. Auf dem Fakultätentag Anfang Juni wird der NKLM Thema sein. Im Sommer 2013 soll er vom MFT verabschiedet werden.

Mehr zum NKLM findet sich unter: www.gesellschaft-medizinische-ausbildung.org unter dem Menüpunkt "GMA Projektgruppe NKLM/NKLZ".

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