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Auf Wachstum verzichten, um zu überleben

Niko Paech hat die Theorie von der Postwachstumsökonomie in Deutschland entwickelt.

Überschwemmungen auf Mallorca, zehn Meter hohe Wellen an der italienischen Riviera, Schlammlawinen am Brenner. Während in Frankreich und Spanien im Oktober Schnee fällt, verzeichnet Deutschland einen extrem trockenen und heißen Sommer, der bis in den Herbst reicht. Der Klimawandel wird auch in Europa immer spürbarer.

Prof. Dr. Niko Paechs Lösungsansätze sind radikal: Die Industrieproduktion in Deutschland sollte schrittweise auf die Hälfte gedrosselt und die dann noch benötigte Arbeitszeit so umverteilt werden, dass alle nur noch 20 Stunden arbeiten. Zugleich sollen die Güter so sorgsam gepflegt und repariert werden, dass sie doppelt so lange halten. Autos, Waschmaschinen, Rasenmäher und Werkzeuge könnten gemeinsam genutzt werden.

Und als wichtigste Maßnahme: Möglichst niemals fliegen und niemals ein Kreuzfahrtschiff besteigen. Eine einzige Flugreise nach New York (zum Beispiel Hin- und Rückflug ab Berlin) schlägt pro Person mit vier Tonnen Kohlendioxid zu Buche. Damit ist der Jahresverbrauch, den das Umweltbundesamt für umweltverträglich hält, bereits überschritten – er liegt bei 2,5 Tonnen Kohlendioxid pro Jahr. Mit grüner Technik wie Windrädern lasse sich das nicht lösen, sagt Paech. Um das Zwei-Grad-Klimaziel einzuhalten, sei eine radikale Reduktion des Verkehrs und des Konsums nötig.

„Eine Befreiung von Ballast“

Der 57-Jährige lebt, was er lehrt. Er führt ein Leben ohne Fleisch, Smartphone, Auto oder Fernseher. Geflogen ist er nur einmal in seinem Leben, 1993 zu seinem Doktorvater nach Washington D.C. Er hat nur vier Hosen – zwei Jeans, eine Handwerker- und eine Cargohose, alle geflickt – und kauft fast keine Weihnachtsgeschenke. Einzige Schwächen: Kaffee, Bücher, CDs und das Wirtshaus, in dem nach seiner Überzeugung auch die strengste wissenschaftliche Auseinandersetzung enden sollte.

Von Verzicht spricht er allerdings nicht: „Das ist ein Gewinn – eine Befreiung vom Überfluss, eine Befreiung von Ballast“, sagt Paech. Zudem zeige die Forschung, dass viel Geld und Konsum nicht glücklicher mache: „Die Reduktion ist ein Selbstschutz vor Reizüberflutung und Konsum-Burnout.“ Dafür hätten die Menschen mehr Zeit, ihre Güter zu genießen, gemeinsam in Gärten zu wirtschaften, Lebensmittel selbst anzubauen, Dinge zu reparieren und zu tauschen.

Paech ist Wirtschaftswissenschaftler geworden, weil er verstehen wollte, „warum wir eine ökologische Krise ansteuern“. Auf das Thema stieß er schon als Jugendlicher. Er ist an der holländischen Grenze in Sichtweite des Atomkraftwerks Lingen und in Riechweite eines riesigen Schweinemastbetriebes sowie zweier großer Ölraffinerien aufgewachsen. Die Industrie leitete so oft ungeklärte Abwässer in die Ems, dass auch das Angeln mit seinem Vater kein reines Vergnügen war.

Er engagierte sich bei den Umweltorganisationen BUND und Nabu und schließlich bei den Grünen, für die er bei der Landtagswahl 1990 im südlichen Emsland kandidierte. Heute ist er längst ausgetreten und nennt die Partei einen „Hort der Heuchelei“. Da werde moralische Überlegenheit nach außen gekehrt, aber – etwa mit vielen Flügen – ein entgegengesetztes Leben geführt. Reisen nach Tibet und in die Anden, Urlaubs- und Abenteuerhype seien aber unvereinbar mit Klimaschutz.

Nach der Promotion hat Paech parallel zu seiner Arbeit am Lehrstuhl für Außenwirtschaftstheorie an der Universität Osnabrück mehrere Jahre als Unternehmensberater für den ökologischen Landbau gearbeitet. Er war der erste Agenda-21-Beauftragte der Stadt Oldenburg, bevor er mit einem Forschungsprojekt an die Uni zurückkehrte und sich über nachhaltiges Wirtschaften jenseits von Fortschritts- und Wachstumsorientierung habilitierte.

Acht Jahre lang vertrat er den Lehrstuhl für Produktion und Umwelt an der Universität Oldenburg, wo er bis heute lebt. 2006 prägte er den Begriff der Postwachstumsökonomie und entwickelte die Theorie immer weiter. Für seine Arbeit ist Paech mehrfach – etwa mit dem Zeit-Wissen-Preis „Mut zur Nachhaltigkeit“ – ausgezeichnet worden. Gemeinsam mit Erhard Eppler hat er 2016 ein Buch (Titel: „Was Sie da vorhaben, wäre ja eigentlich eine Revolution“) über Wachstum, Politik und Ethik gestaltet. Er coachte aber auch Projekte wie den Oldenburger Verschenkmarkt, unterstützte Attac und Greenpeace, schraubte an Fahrrädern in Repair-Cafés und war viele Jahre ehrenamtlicher Moderator eines Verbraucherschutzmagazins für einen lokalen Fernsehsender.

Karrierefördernd war das wohl nicht. Als Paech sich 2014 am Oldenburger Institut für Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftspädagogik auf eine Professur bewarb, geriet der Forscher in die Grabenkämpfe zwischen eher nachhaltigen und eher klassischen Ökonomen. Knapp verfehlte er die Berufung, die sein Traum gewesen wäre.

„Der Veränderungsprozess kann in den Nischen reifen.“

Nach diesen Auseinandersetzungen wechselte der Wissenschaftler 2016 als außerplanmäßiger Professor an die Universität Siegen, wo er im Rahmen des neuen Masterstudiengangs Plurale Ökonomik lehrt. Es handelt sich um den einzigen Studiengang dieser Art in Deutschland. Plädiert wird für eine ergebnisoffene Vorgehensweise in Lehre und Forschung. Dazu gehören unterschiedliche Methoden, Ansätze und Ziele des Wirtschaftens. Paech lehrt dort Instrumente des Nachhaltigkeitsmanagements und veranstaltet in jedem Sommersemester ein freiwilliges Seminar zur Postwachstumsökonomik.

Dort hat er auf eigenen Wunsch nur eine halbe Stelle. Von einer 20-Stunden-Woche kann aber nicht wirklich die Rede sein. Neben den zahlreichen ehrenamtlichen Aufgaben und dem Saxophonspielen in zwei Bands hält er jede Woche zwei bis drei Vorträge auf Tagungen, vor Fairtrade-Gruppen, Handwerkern, Unternehmern oder Politikern.

Während ihn die „Zeit“ als Deutschlands berühmtesten Wachstumskritiker ausgezeichnet hat, halten ihn manche Kollegen für einen „Spinner mit unrealistischen Ideen“. Er ist allerdings überzeugt: „Der Veränderungsprozess kann in den Nischen heranreifen, sich ausbreiten und damit die Gesellschaft verändern.“

Niko Paech: Meine Forschung

Die Herausforderung

Nie zuvor in der Geschichte lebten Menschen in modernen Gesellschaften derart über ihre ökologischen Verhältnisse – mit steigender Tendenz. Zugleich leiden immer mehr Menschen unter Modernisierungsstress, weil sie die vielen Neuerungen, die über sie hereinbrechen, kaum mehr meistern können. Der Zwang zur stetigen Veränderung, die als Fortschritt verklärt wird, ist längst zur Überforderung gediehen.

Mein Beitrag

Als Wissenschaftler und Aktivist einer Postwachstumsökonomie versuche ich, der Gesellschaft Lösungen anzubieten.

Drohende Gefahren

Angesichts des Klimawandels, der Flächenverbräuche, der Plastik- und Elektroabfälle, des Artensterbens etc. bewegt sich die Welt auf einen ökologischen Kollaps zu. Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen ist ungebrochen hoch. Wenn die Fracking-Blase platzt, ist der Traum von der Fortsetzung des derzeitigen Wohlstandes ausgeträumt.

Offene Fragen

Wann werden Krisenszenarien eintreten, deren Wucht modernen Gesellschaften keine Wahl mehr lässt, als einen reduktiven Wandel einzuleiten?

Mein nächstes Projekt

Ich versuche, ein kommunales Reparaturzentrum aufzubauen und wissenschaftlich zu begleiten.

Die Idee

www.postwachstumsoekonomie.de

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