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Wächter der Erinnerung

Die Erforschung von Holocaust und Nationalsozialismus erhält Unterstützung durch neue Einrichtungen.

Natürlich wurde Prof. Dr. Sybille Steinbacher auch ab und an provokant die Warum-Frage gestellt, wenn sie von ihrem neuen Job erzählt als Inhaberin des ersten Lehrstuhls zur Erforschung der Geschichte und Wirkung des Holocaust. Diese Frage geht so: Warum beschäftigen wir uns wieder und wieder damit?

Steinbacher hat da eine klare Haltung: „Man muss sich immer wieder aufs Neue damit auseinandersetzen, denn diese systematische Verfolgungs- und Mordpolitik ist ein so ungeheuerliches Ereignis, ein Ereignis von menschheitsgeschichtlicher Relevanz, dass man – zumal in Deutschland – sich damit schlichtweg auseinanderzusetzen hat.“ Im Mai hat sie ihre Stelle an der Goethe-Universität Frankfurt und dem dort angesiedelten Fritz-Bauer-Institut angetreten.

Inzwischen wirkt Steinbachers Berufung wie ein Signal bundesweiter Forschung zu Holocaust und Nationalsozialismus. So gibt es neben Frankfurt auch an der Universität Gießen schon einen Monat später, seit Juni, eine Professur mit dem Schwerpunkt Holocaust­ und Lagerliteratur. Und im August erklärt Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU), dass insgesamt zehn Universitäten und Forschungseinrichtungen die NS-Vergangenheit des Kanzleramts und anderer zentraler Behörden vom Nazi-Regime bis in die Nachkriegszeit aufarbeiten sollen. Bis 2020 stehen vier Millionen Euro für dieses Forschungsprojekt zur Verfügung.

Klären, ob der historische Neuanfang wirklich neu ist

Eine der beteiligten Hochschulen ist die Universität Kassel. Hier wird untersucht, wie weit der Neuanfang nach 1945 von Menschen geprägt wurde, die auch zu Hitlers Zeiten schon Karriere machten. Frankfurt, Gießen, Kassel: Wird Hessen zum neuen Zentrum der Holocaust-Forschung in Deutschland? Hessens Wissenschaftsminister Boris Rhein (CDU) wiegelt ab: „Wir stehen gemeinsam in der Verantwortung, immer wieder an dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte zu erinnern und es ehrlich und kritisch aufzuarbeiten. Auch die jüngst erfolgte Einrichtung zweier Holocaustprofessuren in Frankfurt und Gießen zeigt, wie ernst Wissenschaft und Politik – gerade hier in Hessen – diese Verantwortung nehmen.“

Verantwortung übernehmen will auch Sybille Steinbacher. Die Historikerin setzt sich seit vielen Jahren intensiv mit dem Holocaust auseinander. Bereits in ihrer Magisterarbeit an der Universität München hat sie sich mit der Massenvernichtung durch die Nationalsozialisten beschäftigt: „Dachau: Die Stadt und das Konzentrationslager in der NS-Zeit“ lautet der Titel. Aus ihrer an der Ruhr-Uni Bochum verfassten Dissertation „‚Musterstadt‘ Auschwitz. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien“ ist ein Standardwerk hervorgegangen. Von 2005 bis 2010 war sie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig. Im Jahr 2010 erhielt sie einen Ruf an die Universität Wien als Professorin für Zeitgeschichte – Vergleichende Diktatur­, Gewalt­ und Genozidforschung.

Über ihre berufliche Vita hinaus hat Sybille Steinbacher einen persönlichen Bezug zum Thema; sie ist in der Nähe der KZ-Gedenkstätte Dachau aufgewachsen. „Das hat mich für die Thematik sensibilisiert und war dann ein Grund dafür, dass ich mich nach dem Abitur in der Gedenkstätte engagiert habe“, sagt sie heute.

Fragt man sie danach, was sie in ihrer neuen Funktion bewirken will, dann lautet die Antwort: „Es geht mir nicht darum, etwas anders zu machen als andere, sondern darum, den Forschungsdiskurs fortzuführen und zu intensivieren.“ Eines ihrer Ziel, sagt sie, sei es, Gegenwartsbezüge zu erschließen und kritisches Geschichtsbewusstsein zu vermitteln. Sie wolle Fragen in den Blick nehmen wie die „der gesellschaftlichen Verantwortung für die Verbrechen, ferner die nach den Bezügen zwischen der Mordpolitik an den Juden und der systematischen Ermordung von Kranken und Behinderten. Mir ist es wichtig zu vermitteln, dass der Massenmord nicht nur ein politischer, sondern auch ein gesellschaftlicher Prozess war.“

In den ersten Monaten im neuen Amt konnte sie erste Ideen zur Ausgestaltung ihrer Professur entwickeln; ge­plant sind Projekte zu Auschwitz, zu den Überlebenden der NS-Verfolgung, zur justiziellen Aufarbeitung der Verbrechen sowie zur Historiographie des Holocaust. Fest steht zumindest schon einmal, dass es „mit Unterstützung der Goethe-Universität ein Projekt zur Geschichte der Frankfurter Universität im Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik geben wird“, sagt Steinbacher.

Keine siebzig Kilometer von Frankfurt entfernt liegt Gießen. An der dortigen Justus-Liebig-Universität lehrt und forscht Prof. Dr. Sascha Feuchert. Seit 2008 ist der Literaturwissenschaftler Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur, seit Juni ist er Inhaber der Stiftungsprofessur, die sich mit der Holocaust­ und Lagerliteratur sowie ihrer Didaktik auseinandersetzen soll. Feuchert ist überzeugt, dass die Literatur eine wichtige Rolle in der Aufarbeitung des Holocaust spielt: „Wenn uns diese Ereignisse von damals wirklich etwas angehen sollen, dann brauchen wir Literatur, weil Literatur individuelle Lebensgeschichten erzählt und nachvollziehbar macht.“

Diese Bedeutung werde in den kommenden Jahren auch weiter wachsen, glaubt Feuchert: „Durch den Wegfall der Zeitzeugen-Generation, der sich gerade vollzieht, wird dieser Literatur nochmal stärker die Aufgabe zukommen, für die Erinnerung zu sorgen.“ Gefördert wird die Gießener Professur von der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich. Zudem stellt das Land Hessen bis Ende 2020 jährlich 200.000 Euro zur Verfügung. Mit dieser Summe könne die Arbeitsstelle nun Projekte angehen, die vorher nicht möglich waren, sagt Sascha Feuchert.

Forschungen der Gießener Wissenschaftler um Feuchert beziehen sich nicht nur auf Literatur, die in der Zeit des Nationalsozialismus entstanden ist, sondern auch auf Texte der Gegenwart, die sich mit den Ereignissen von damals auseinandersetzen. Im Rahmen von Quellenstudien greifen Gegenwartsautoren oftmals auf Nachlässe und Archive zurück, auch auf Texte, Briefe und Gedichte, die Nachfahren von Überlebenden dem Institut überlassen haben.

Geschichte impliziert subjektives Erzählen, historische Wissenschaft zugleich Literaturwissenschaft: „Uns interessiert immer auch, wie erzählt jemand von diesen Ereignissen, und was hat das für Folgen für denjenigen, der das liest?“, umreißt Sascha Feuchert seinen Forschungsansatz. Zentrales Anliegen der Stiftungsprofessur ist es, dafür zu sorgen, dass diese Texte der Nachwelt erhalten bleiben und in der Öffentlichkeit, in Wissenschaft und Schule diskutiert werden. Ein Weg, dies zu erreichen, ist die Einbindung der künftigen Lehrergeneration, deren Vermittlung des Holocaust im Deutsch-Unterricht an den Schulen.

„In Seminaren bei uns können die Studierenden beispielsweise lernen, wie sie anhand von Texten die Lebensgeschichten von Opfern mit Schülern besprechen können und wie sie dieses Wissen bei Besuchen von Gedenkstätten nutzen können“, sagt Feuchert. Im pädagogischen Bereich soll es künftig eine stärkere Zusammenarbeit mit Sybille Steinbacher und dem Fritz-Bauer-Institut geben, um Schülern bei Besuchen von Gedenkstätten Holocaust- und Lagerliteratur nahezubringen. Die Holocaust-Professuren in Gießen und Frankfurt seien bewusst komplementär ausgerichtet, betont Feuchert.

Am Übergang von Zeitgeschichte zu Geschichte

Ihn wundert es nicht, dass in Hessen nun gleich zwei solcher Stellen eingerichtet wurden: „Das ist auch das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung. Zum einen ist Hessen das Land, in dem Fritz Bauer tätig war, allein deshalb ist das Land schon sehr lange an der Aufklärung der Ereignisgeschichte beteiligt. Zum anderen gibt es hier eben auch mit unserer Arbeitsstelle für Holocaust-Literatur und dem Fritz-Bauer-Institut gewachsene Strukturen. Die Institutionalisierung ist auch deshalb folgerichtig, weil wir jetzt am Übergang sind zwischen Zeitgeschichte und Geschichte. Wenn die Erinnerung an den Holocaust weitergehen soll und auch wissenschaftlich begleitet werden soll, dann muss das institutionalisiert werden.“

Noch ein Stück weiter im Norden Hessens, an der Universität Kassel, untersuchen Wissenschaftler in den nächsten drei Jahren die NS-Belastung von Beamten und Ministern aus beiden deutschen Staaten. „Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-)Kontinuitäten deutscher Ministerien in Systemtransformationen“ ist eines von zehn Projekten, die vom Kulturstaatsministerium bis 2020 mit vier Millionen Euro gefördert werden. Zentrale Fragestellung des Kasseler Vorhabens ist es, ob sich nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes und dem Neuanfang der Jahre 1945–1949 neue Eliten gebildet haben oder das Führungspersonal der NS-Zeit seine Karrieren in den Ministerien fortgesetzt hat. „Stimmt es, dass in der Bundesrepublik Expertise und Berufserfahrung oft schwerer wogen als eine NS-Vergangenheit? Und inwieweit kann man im Fall der DDR tatsächlich von einem kompromisslosen Bruch reden?“, formuliert Projektleiterin Prof. Dr. Sylvia Veit zwei Ausgangsfragen.

Während es zu aktuelleren Biografien der Führungskräfte in BRD-Ministerien bereits belastbare Daten gibt, die das Kasseler Forschungsteam insbesondere mit Blick auf die frühen Jahre der Bundesrepublik erweitern und auswerten will, sind die DDR-Behörden bislang wenig untersucht. Unter anderem kann die Verwaltungswissenschaftlerin Veit bei ihrem Projekt auf das Bundesarchiv und seine in Berlin, Freiburg und Koblenz gelagerten Akten zurückgreifen.

Bundesförderung für ihre Forschungsvorhaben zur Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Ministerien und zentralen Behörden erhalten neben der Universität Kassel die Universität Mainz mit gleich zwei Projekten, zudem die Universitäten Tübingen, Heidelberg, Jena, Münster, Erfurt, Siegen sowie das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte München, dessen Zentrum für Holocaust-Studien in Kooperation mit der Uni München unter anderem einen Masterstudiengang zur Zeitgeschichte plant.

Die Historikerin Sybille Steinbacher nimmt diese Entwicklung als positives Zeichen: „An mehreren universitären und außeruniversitären Instituten in Deutschland und auch international wird zum Holocaust geforscht. Dass an der Goethe-Universität Frankfurt nun ein Lehrstuhl angesiedelt und mit der Leitung des Fritz-Bauer-Instituts verknüpft ist, bedeutet auch eine Stärkung des Forschungsfeldes insgesamt.“ Für die Wissenschaftlerin steht bei der Frage nach dem Wie im Gedenken und Erinnern an die Gräuel des Nationalsozialismus fest: „Es gibt da keinen pauschalen Weg. Sicher ist: Man muss sich damit auseinandersetzen und auch streiten darüber, einen Weg zu finden. Die Geschichte des Umgangs mit der NS-Zeit in Deutschland ist ja auch eine lange Konfliktgeschichte.“ So lautet denn auch Steinbachers Credo kurz und knapp: „Neugierig sein und viele Fragen haben.“

Fritz Bauer

  • 1950er-Jahre Als Generalstaatsanwalt in Braunschweig prägte Bauer den Satz: „Ein Unrechtsstaat, der täglich Zehntausende Morde begeht, berechtigt jedermann zur Notwehr.“ Der NS-Staat sei „kein Rechtsstaat, sondern ein Unrechtsstaat“. Bauer forderte für die Widerstandskämpfer des 20. Juli Respekt ein; ihr Versuch, Hitler zu töten, wurde legitimiert.
  • 1957 Bauer informierte den israelischen Geheimdienst Mossad über den Wohnort Adolf Eichmanns in Argentinien, nachdem er dies von dem dort lebenden ehemaligen KZ-Häftling Lothar Hermann erfahren hatte. Bauer misstraute der deutschen Justiz; sein Antrag, die Bundesregierung möge sich um die Auslieferung Eichmanns in die Bundesrepublik bemühen, war von der Regierung abgelehnt worden.
  • 1959 erreichte Bauer, dass der Bundesgerichtshof die „Untersuchung und Entscheidung“ in der Strafsache gegen Auschwitz-Täter dem Landgericht Frankfurt am Main übertrug. Auf Weisung Bauers leitete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen vormalige Angehörige und Führer der SS-Wachmannschaft ein.
  • 1963-1981 Die Auschwitz-Prozesse wären ohne Bauer wohl nicht zustande gekommen. Sein Verdienst ist es, die Auseinandersetzung mit der Holocaust-Thematik eingeleitet zu haben.

Quellen: Wikipedia, Fritz-Bauer-Archiv

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