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Staatsziel Solidarität: Madagaskar

Normalerweise fragen Konfliktforscher, welche Ursachen Kriege haben. Der Ethnologe Peter Kneitz geht den umgekehrten Weg: Er sucht nach Strukturen, die für Frieden sorgen. Auf Madagaskar. Obwohl das Land immer ärmer wird, eskaliert dort die Gewalt nicht.

Eines der wichtigsten Wörter auf Madagaskar lautet: Fihavanana. Es bedeutet in etwa so viel wie „das Herstellen von Verwandtschaft“. Dahinter steht ein politisches Konzept, das dem Land nun schon seit einem halben Jahrhundert weitgehenden Frieden beschert. Das ist bemerkenswert, zumal die Ausgangsbedingungen für ein friedliches Zusammenleben dort kaum besser sind als in den meis­ten anderen postkolonialen Staaten Afrikas.

Madagaskar ist zwar ein Naturparadies, aber auch eines der ärmsten Länder der Welt. Misswirtschaft und Korruption haben den Inselstaat im Indischen Ozean an den Rand des Ruins getrieben. Obgleich reich an Natur­ und Bodenschätzen, leben 90 Prozent der Madagassen von weniger als zwei Dollar pro Tag. Es gibt große Spannungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen. Erst 1960 wurde Madagaskar unabhängig von der Kolonialmacht Frankreich.

Demos, Aufstände – aber kein Krieg

„Natürlich gibt es enorme Konflikte bis hin zu Lynchjustiz“, sagt der Ethnologe und Madagaskar-Kenner Peter Kneitz. Dennoch verstünden sich die Madagassen alles in allem als dezidiert friedliche Gesellschaft. Im Gegensatz zu vielen anderen afrikanischen Staaten eskalierten die Konflikte dort verhältnismäßg selten.
Kneitz nennt ein Beispiel: 2014 gab es heftige Unruhen gegen den damaligen madagassischen Präsidenten Marc Ravalomanana. Ihm wurde vorgeworfen, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Als Demonstranten auf den Präsidialpalast vorrückten, eröffneten einige Soldaten das Feuer – 35 Menschen kamen ums Leben, 120 wurden verletzt. Das Land schien auf einen Bürgerkrieg zuzusteuern. Erstaunlicherweise verzichteten die Aufständischen jedoch auf Vergeltung. Stattdessen blieb es überwiegend bei Massendemonstrationen und so großem moralischen Druck, dass Ravalomanana schließlich sein Amt aufgab. Ähnliche Situationen hatte es schon im Mai 1972 und im August 1991 gegeben, als ebenfalls in die Menge geschossen wurde. In allen drei Fällen mussten die umstrittenen Präsidenten als Verantwortliche abdanken.

Peter Kneitz ist davon überzeugt, dass es ohne die Idee der nationalen Solidarität anders gekommen wäre. Die Menschen würden von Geburt an so nachhaltig mit diesem Ideal konfrontiert, dass es Teil ihrer Lebensart und Denkform werde. Auf jedem Familienfest sei der Solidargedanke Thema. Es gebe viele Rituale, mit denen geglückte Konflikteindämmungen eingeübt würden.

Das EU-Förderprogramm Horizont 2020 bildet den Rahmen für Kneitz’ Forschungen. In den nächsten Monaten wird er mit Repräsentanten der Unruhen um Ex-Präsident Ravalomanana sprechen, etwa den Mitgliedern des Komitees der nationalen Versöhnung. Er will den Umgang mit Konflikten aber auch auf der lokalen Ebene verstehen lernen, wo es Bewegungen der Volksjus­tiz gibt: Straftäter werden dazu angehalten, sich öffentlich zu ihren Taten zu bekennen. Außerdem möchte er ganz grundsätzlich mehr darüber erfahren, wie sich der Geist des Fihavanana entfalten konnte.

In den 70ern entstand eine neue Ideologie

Schließlich war Madagaskar nicht immer friedlich. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war der Inselstaat von brutalen Auseinandersetzungen einzelner Herrscher geprägt, die erst mit Beginn der französischen Kolonialisierung endeten. Auch damals gab es schon eine Solidaridee in dem Land. Sie bezog sich aber vor allem auf Familien­ und Clan-Mitglieder, die sich einander weit über ein in Europa gekanntes Maß hinaus verpflichtet fühlten. So war es beispielsweise üblich, auch entfernte Verwandte monatelang zu beherbergen und zu verköstigen.

Während der Kolonialherrschaft aber entwickelte sich eine noch raumgreifendere Form der Solidarität. In dieser Zeit entstand die Hoffnung, die Insel als Ganze könne zu einer friedlichen Gesellschaft werden. In den 1970er­Jahren schließlich wurde Fihavanana zum Schlagwort einer neuen nationalen Identität – und Solidarität zur Staats­ideologie. Bis heute wird sie in der Präambel der Verfassung als zentrales Element des Zusammenlebens genannt. Es gibt Gremien, die über die Einhaltung des Friedens wachen und Gewalttaten in der Zukunft verhindern sollen. Die meisten Konflikte werden durch langwierige Verhandlungen gelöst oder jedenfalls beruhigt.

So werden nicht nur politische, sondern auch private Auseinandersetzungen von einer Konsenskultur abgemildert, von der die Politik­ und Konfliktberatung vielleicht auch hierzulande lernen kann. Peter Kneitz jedenfalls glaubt, mit seinem Ansatz auf der richtigen Spur zu sein. Er sagt: „Wenn man immer nur die Ursachen für Gewalt untersucht, bleibt man oft in einem geistigen Zirkel stecken.“

 

Der Forscher im Porträt

Der Forscher

Peter Kneitz

Einmal ist es sehr heiß, dann wieder sehr feucht: Es herrscht Regenzeit in Antananarivo, der Hauptstadt von Madagaskar. Dr. Peter Kneitz hat dort einen kleinen Arbeitsraum, den ihm das Institut für Geschichte der örtlichen Universität für sein Forschungsprojekt zur Verfügung gestellt hat. Im April wird seine Ehefrau mit drei Kindern nachkommen, ein Sohn ist bereits da. „Wir betrachten Madagaskar als Herausforderung“, sagt Kneitz, der an der Universität Halle-Wittenberg beheimatet ist.

22 Jahre ist es her, dass der Ethnologe zum ersten Mal nach Madagaskar reiste. Damals war er Student an der Kölner Universität und machte ein entwicklungspolitisches Praktikum bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ihn lockte die fremde Welt fernab von Europa. Wer sich in Madagaskar aufhalte, sei „gleichzeitig in Indien, Südostasien, Afrika, Arabien und in einem ganz eigenen, besonderen Land“, sagt der 48-Jährige.

Seit damals hat ihn Madagaskar nicht mehr losgelassen. Weil in Frankreich viel über das Land geforscht wird, ging Kneitz während des Studiums an die École des Hautes Études en Sciences Sociales nach Paris. Im Rahmen seiner Promotion forschte er über das Königreich Boeny und den Besessenheitskult in West-Madagaskar. Eineinhalb Jahre lebte er in der Hafenstadt Mahajanga, wo er sich vor allem mit einem Tempel beschäftigte, der jedes Jahr Tausende von Pilgern anzieht. Später forschte er in Besalampy an der Westküste, wo viele Orte nur mit Kanus, Motorrad, Zebukarren oder zu Fuß erreichbar sind.

In Besalampy war es auch, wo ihm die „madagassische Krankheit“ begegnete, unter der Mädchen im Alter von 14 bis 17 Jahren litten. Während des Unterrichts bekamen sie so heftige hysterische Anfälle, dass sie nicht mehr zur Schule gehen konnten. Die Panik­attacken verbreiteten sich wie eine Epidemie und wuchsen sich zu einer sozialen Krise aus. Nach Überzeugung der Menschen der Region hatten Geister von den Mädchen Besitz ergriffen. Doch weder Gespräche noch Heiler noch Gottesdienste beseitigten den Konflikt. Erst ein Rinderopfer, das während einer Zeremonie geschlachtet und verzehrt wurde, konnte die Situation beruhigen. Die Krise war entschärft – und Peter Kneitz’ ethnologische Forscherneugier angestachelt.

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