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Ganz schön uncool

Der britische Wissenschaftssektor bemüht sich nach dem Brexit-Votum offiziell um Schadensbegrenzung und proklamiert „business as usual“. Doch die Verunsicherung bleibt groß und wird durch die Attacken von Forscherkollegen aus der EU noch angefeuert.

„No man is an island“ – „Niemand ist eine Insel“, mit diesen Worten warnte der britische Dichter John Donne schon 1624 vor Isolationismus. Es sind Worte, die britischen Akademikern und Forschern aus dem Herzen sprechen dürften. Laut einer Umfrage der Fachzeitschrift Nature waren 83 Prozent gegen das Experiment eines Brexit und entschlossen, beim Referendum für den Verbleib in der Europäischen Union zu stimmen.

Die Gruppe Scientists for Europe trommelte für ein „Remain“. Und auch der Interessenverband der britischen Universitäten, Universities UK, warb intensiv im Namen von 133 Universitäten für den Status quo: Bei einem Austritt habe man viel zu verlieren, denn es sei „völlig klar, dass die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU einen durchgehend positiven Einfluss auf unsere weltweit führenden Hochschulen“ hat, erklärte die Präsidentin von Universities UK, Prof. Dr. Julia Goodfellow, im Vorfeld des Referendums.

Die europäische Zusammenarbeit müsse man als „ein Geschenk für unsere Forschung und unsere Innovationskapazität“ begreifen, betonte auch Dr. Mike Galsworthy von Scientists for Europe. „Es gibt einfach kein Brexit-Szenario, das für die britische Wissenschaftswelt von Vorteil wäre“, sagt er. Deren Wohl müsse dem ganzen Land am Herzen liegen, denn Forschung und Entwicklung seien wichtige Wirtschaftsfaktoren im Land“, ist Strike fest überzeugt.

Britische Forscher fürchten Marginalisierung

Doch solche Warnungen stießen bei 52 Prozent der Briten auf taube Ohren. Nun stehen für Großbritanniens Wissenschaft jährlich circa 1,4 Milliarden Euro aus Brüssel auf dem Spiel. Allein die sechs wichtigsten britischen Universitäten sind an Horizont­2020­Projekten beteiligt, die mit fast 500 Millionen Euro gefördert werden. Doch es geht um weit mehr als nur um den möglichen Wegfall von Fördergeldern. Britische Wissenschaftler, Forscher und Akademiker fürchten vor allem eine Marginalisierung, erklärt Dr. Tony Strike. Der Direktor für strategische Hochschulentwicklung an der Universität von Sheffield befürchtet, dass über Jahre aufgebaute Netzwerke zerreißen könnten.

Laut Strike gibt es schätzungsweise 100.000 Kooperationen zwischen britischen und kontinental­europäischen Forschern. 60 Prozent internationaler Paper von britischen Autoren hätten europäische Koautoren. Nur eine möglichst starke Nähe zur Europäischen Union auch nach dem Brexit wäre eine Option, damit „unsere Universitäten mit dem ganzen Kontinent zusammenarbeiten, multinationale Kooperationen anführen und auf europäische Ressourcen, Daten und Expertise zugreifen“ können, ist Strike fest überzeugt.

Auf die Notwendigkeit für eine weiterhin enge Zusammenarbeit mit den Mitgliedsstaaten der EU weist auch Prof. Dr. David Goldblatt hin, Leiter für Forschung und Entwicklung am Great Ormond Street Hospital (GOSH) in London. Das GOSH, eines der weltweit führenden Krankenhäuser für Therapien seltener Kinderkrankheiten, hat Pionierarbeit bei der Entwicklung einer Heilungsmethode für den zuvor tödlichen Immundefekt Severe Combined Immunodeficieny (SCID) geleistet. Ohne die EU wäre das nicht möglich gewesen, erklärte Goldblatt jüngst in einem Interview mit dem britischen Fernsehsender Channel 4.

Das Krankenhaus brauche für seine klinischen Studien den Informationsaustausch mit europäischen Forschern und große Patientengruppen, die aus ganz Europa kommen. Denn „wir haben in Großbritannien allein gar nicht genügend Kinder mit diesen seltenen Krankheiten“, so Goldblatt. Würden harte Brexit-Konditionen diese Verbindung nach Europa kappen, ließe sich das auch nicht so ohne Weiteres durch andere globale Partnerschaften ausgleichen, befürchtet er: „Die Komplexität, die Zeit und die Kosten, die man für die Etablierung neuer Partnerschaften aufwenden müsste, wären enorm. Das wird von der Einfachheit, mit der wir das mit Europa regeln können, weit in den Schatten gestellt“, sagte Goldblatt. Neue Hürden würden zuallererst auf Kosten todkranker Kinder gehen. Vorerst drohe aber weder der britischen Wissenschaft noch den Menschen, die von ihr profitieren, Gefahr.

Vorerst bleibe alles beim Alten – das versichern zumindest führende Stimmen, wie der britische Wissenschaftsminister Jo Johnson und der EU-Forschungskommissar Carlos Moedas. Studierende könnten sich weiter für Erasmus+ und Forscher für Projekte des Förderprogramms Horizont 2020 bewerben. Man mache „business as usual“.

Diesen Tenor teilt auch Universities UK. Ihre Präsidentin verkündete eine Woche nach der Abstimmung, dass man den Brexit zwar nicht gewollt habe, das „Resultat des Referendums aber keine unmittelbaren Auswirkungen auf Forscher hat, die sich für Horizont 2020 bewerben oder schon daran teilnehmen“. Der Austritt werde nicht über Nacht passieren, sondern auf ausgiebige Verhandlungen mit der EU folgen, versuchte sie zu beruhigen. Man werde Druck auf die britische Regierung ausüben, damit diese bei den Brexit­Verhandlungen den bestmöglichen Deal für die britische Wissenschaft vereinbare

Dazu gehört ihrer Meinung nach auch, die Einreisebedingungen möglichst locker zu gestalten, um die Mobilität der Forscher auf beiden Seiten des Ärmelkanals zu garantieren. Wichtig sei zugleich, dass alle Seiten „einen kühlen Kopf“ bewahren und europäische Partner „ihre britischen Kollegen wie zuvor behandeln“, sagt Julia Goodfellow. Doch da liegt offenbar die Krux.

EU-Kollegen drängen zum Rücktritt

Die Zeichen mehren sich, dass europäische Forscher eben nicht so cool agieren. Mike Galsworthy etwa berichtet, dass auf der Webseite von Scientist for Europe allein bis Mitte Juli schon nahezu 400 individuelle Fälle gemeldet wurden, bei denen Forscher von einem persönlich wahrgenommenen Negativ-Effekt des Brexit berichteten: darunter Studierende und Forscher, die angesichts der unsicheren Zukunft oder der als fremdenfeindlich empfundenen Atmosphäre in Großbritannien von einer Karriere hier Abstand nehmen. Zudem – laut Galsworthy – gebe es Berichte britischer Forscher über offene Diskriminierung durch europäische Kollegen: Diese würden sie – seit dem 23. Juni, dem Tag des Brexit-Votums – bei der Bildung von Konsortien für Horizont­2020­Bewerbungen dazu auffordern, „ihre Führungsposition abzugeben oder das Konsortium ganz zu verlassen, um die Vergabe von Fördermitteln nicht zu gefährden“.

Angesichts der Tatsache, dass im Schnitt nur zwölf Prozent der Projektbewerbungen für Horizont 2020 erfolgreich sind, wollten die kontinental­europäischen Forscher kein Risiko eingehen. Auch eine anonyme Umfrage unter den Mitgliedern der Russell Group, einem Verbund von 24 führenden britischen Universitäten, kommt zu dem Ergebnis, dass Forscher aus allen Bereichen von dieser Art von Ausgrenzung betroffen seien. Das britische Wissenschaftsministerium hat nun eine Hotline eingerichtet, wo solche Fälle gemeldet werden können.

Für die britische Forschungsgemeinde fühlt es sich an, als wäre man über Nacht von der Position auf dem „Fahrersitz der wissenschaftlichen Supermächte an den Straßenrand katapultiert worden“, resümiert Mike Galsworthy. Um den Schaden zu begrenzen, brauche man auch die Solidarität Europas bei den Austrittsverhandlungen – eine Forderung, die jüngst über 300 britische Germanisten und Geisteswissenschaftler in einem offenen Brief an Angela Merkel richteten.

Für Solidarität unter den europäischen Hochschulen plädiert auch Dr. Thomas Jørgensen, verantwortlich für politische Koordination bei der EUA (European University Association). Er glaubt, dass es „nicht im Interesse der EU sein kann, Großbritannien zu marginalisieren, denn die europäische Forschungslandschaft würde ohne die britische Leistung ganz sicher an Know­how verlieren“. Man dürfe auch nicht vergessen, „dass die europäische Gemeinschaft von Universitäten stärker und älter ist, als die politische Gemeinschaft von Universitäten“. Für den EUA-Repräsentanten steht fest: „Die britischen Universitäten gehören unverändert zu uns. Dass Großbritannien als Staat gegen die EU gestimmt hat, ändert nichts daran.“ Weil die konkreten Auswirkungen des Brexit auf die Forschungsgemeinschaft aber noch spekulativ sind, müsse das Credo für alle beteiligten Universitäten, Forscher und Akademiker in ganz Europa vorerst „keep calm, keine Panik“ lauten.

Die Briten forschen vernetzt

Die Briten forschen vernetzt

Zuwendungen aus Brüssel

  • Großbritanniens Wissenschaft erhält jährlich circa 1,4 Milliarden Euro aus EU-Töpfen.
  • Die sechs wichtigsten britischen Universitäten sind an Horizont- 2020-Projekten beteiligt, deren Fördervolumen bei fast 500 Millionen Euro liegt.

Netzwerke und Zusammenarbeit

  • Gut 100.000 britische Forscher kooperieren mit kontinental-europäischen Kollegen.
  • Bei schätzungsweise 60 Prozent der von britischen Forschern veröffentlichten internationalen Paper gibt es Koautoren aus der EU.
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