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Frieden, ein gefährliches Wort

Den Aufruf türkischer Wissenschaftler zu Verhandlungen mit der PKK zu unterschreiben, schien Asli Vatansever das Mindeste zu sein angesichts des Blutvergießens. Doch für die Machthaber und viele Unileitungen war es zu viel. Ein Bericht der Repressionen.

Seit Tagen dreht sich der erste Satz von Orhan Pamuks bekanntem Roman „Das neue Leben“ in meinem Kopf: „Eines Tages las ich ein Buch und mein ganzes Leben veränderte sich.“ Auch mein Leben veränderte sich durch eine auf den ersten Blick harmlose Aktion: Ich unterschrieb einen Text. Und nun hat sich tatsächlich mein ganzes Leben verändert. Diese Veränderung spielt sich jedoch nicht nur auf individueller Ebene ab. Sondern die gesamte türkische Gesellschaft ist mit einem Zerfallsprozess konfrontiert, dessen Gestank zu unterdrücken immer schwieriger wird und der durch die öffentlichen sowie offiziellen Reaktionen auf den Friedensappell von türkischen Akademikern sichtbar geworden ist. 

Anfang Januar stieß ich zufällig auf den Friedensaufruf der Initiative „Wissenschaftler für den Frieden“. Damals standen die südostanatolischen Städte Sur, Silopi und Cizre seit ungefähr einem Monat unter Ausgangssperre. Seit Mitte August hatte der türkische Staat im Rahmen einer massiven Offensive gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK insgesamt 58 Ausgangssperren in Diyarbakır und Umgebung verhängt.
Nach Angaben des türkischen Vereins für Menschenrechte kamen während dieser Zeit 162 Zivilisten um (darunter 32 Kinder und 29 Frauen); wegen der wochenlang andauernden Ausgangssperren konnten viele Leichen nicht beerdigt, Verletzte nicht gerettet werden. Die Zerstörung der städtischen Infrastruktur in Sperrgebieten führte zudem zu Strom­, Wasser­ und Nahrungsmittelnot. Dass keine unabhängigen Beobachter die Region besuchen durften, ließ die Besorgnisse über Menschenrechtsverletzungen noch weiter wachsen. Unter diesen Umständen schien mir eine Online­Petition zu unterschreiben, die den türkischen Staat zur Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen aufruft, das Geringste zu sein, was ich tun konnte.

Doch offensichtlich war das schon mehr als genug, denn einen Tag nach der Veröffentlichung der Unterzeichnerliste wurden die Unterzeichnenden aus allen Ecken angegriffen. Präsident Tayyip Erdogan hat uns als eine „dunkle, ignorante Bande“ und „Landesverräter“ beschimpft; die regierungstreue Zeitung Yeni Akit erklärte uns zu „Kollaborateuren der PKK“ und veröffentlichte unsere Namen und Fotos. Innerhalb von einer Woche leiteten Universitätsleitungen und Staatsanwälte Disziplinarverfahren gegen 109 Akademiker ein, 15 davon wurden ihrer Ämter enthoben oder suspendiert, 36 Unterzeichnende festgenommen, in manchen Fällen wurden ihre Büros oder Wohnungen durchsucht.

Hinzu kamen weitere Verleumdungen durch Medien, Angriffe und Belästigungen durch ultranationalistische Gruppierungen: Der vorbestrafte Mafiapate Sedat Peker drohte uns sogar öffentlich, in unserem Blut zu baden. Die groteske Drohung, die irgendwo anders lächerlich klingen würde, versetzte uns in Schrecken, denn als Peker das letzte Mal, im Oktober vergangenen Jahres, in einem öffentlichen Meeting sagte, Blut werde in Strömen fließen, fand ein paar Tage später der Bombenanschlag in Ankara mit mehr als hundert Toten statt.

Der einzige Segen war, dass wir Akademiker wohl zum ersten Mal angefangen haben, uns ernsthaft zu organisieren. Soziale Medien ermöglichten uns, ständig in Kontakt zu bleiben und Informationen bezüglich unserer Situation auszutauschen. Sofort setzten sich zahlreiche nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen und Berufsgruppen, Universitäten und Forschungseinrichtungen aus aller Welt mit Unterstützungskampagnen ein; die Anzahl nationaler wie auch internationaler Unterzeichnender verdoppelte sich rasch.
Dennoch wurden bis dato 600 Unterzeichnende mit Disziplinarverfahren überzogen. Ich selbst gehöre auch dazu. Zudem ist unser Friedensappell durch die Bedrohungen und Repressionen in den Schatten geraten.

Nun war uns als „erfahrenen“ türkischen Bürgern natürlich schon lange klar, dass in der Türkei nie wirklich von der Unabhängigkeit der Justiz oder der Freiheit von Forschung und Lehre geredet werden konnte. Auch der tief verwurzelte Antiintellektualismus der türkischen Gesellschaft war uns nur allzu bekannt. Aber es ist dann doch noch etwas anderes, wenn man auf einmal mit Terrorpropaganda beschuldigt, an Leib und Leben bedroht, öffentlich abgestempelt und absichtlich allen möglichen Angriffen ausgesetzt wird. Mit Hochschulverwaltungen und Staatsanwaltschaften auf dem Hals findet man sich plötzlich mit existenziellen Fragen nach dem Sinn einer akademischen Karriere und des Widerstands konfrontiert.

Allein die Tatsache, dass mich die Unterstützungsemails von Studenten überraschen, und der Übereifer, mit dem sich die Hochschulverwaltungen für die Beschneidung der Meinungsfreiheit einsetzen, gibt den Grad der tiefen Verwahrlosung des türkischen Hochschulwesens zu erkennen. Es wird nachvollziehbar, dass Korrumpierbarkeit notwendig ist, um in der türkischen akademischen Welt zu überleben.

Selbstverständlich spiegelt das Hochschulwesen den allgemeinen Prozess der Degenerierung wider, der die gesamte türkische Gesellschaft erfasst hat. Sie ist nicht nur entlang kulturell­ideologischer und/oder ethnischer Linien zutiefst gespalten, sondern sie entbehrt bedauerlicherweise auch jeder ethischen und menschenrechtlichen Grundlage. Die autoritäre Staatstradition in der Türkei hat eine krasse Asymmetrie zwischen dem Staat und den Bürgern gebildet.

Aus der traurigen historischen Erfahrung, dass jedem zivilgesellschaftlichen Versuch, diese Diskrepanz zu überbrücken, staatlicherseits mit Gewalt begegnet wird, hat die Gesellschaft gelernt, offene Konfrontation mit dem Staat zu vermeiden und stattdessen durch Ritzen zu kriechen. Daher ist es wohl kein Wunder, dass sogar unter denjenigen, die sich als Wissenschaftler der Suche nach der Wahrheit zu widmen vorgeben, sich einige heimtückisch die Hände reiben und uns scheinbar fürsorglich fragen, ob wir nun ernsthaft überlegen, unser Land zu verlassen, oder ob wir uns Alternativen zur akademischen Karriere vorstellen möchten.

Nein, antworte ich, es tut uns leid, dass unsere Integrität euch wegen eurer Ehrlosigkeit beschämt, aber wir wollen weiter­ kämpfen.

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